MusikTexte 137 – Mai 2013, 95–96
„Wie eine spiritistische Sitzung“
Die „Hommage à Horaţiu Rădulescu“ des Kölner Netzwerks ON
von Rainer Nonnenmann
Von dröhnenden Bronzeplatten grundiert signalisieren apokalyptisch schmetternde Posaunen gleich zu Anfang von Horaţiu Rădulescus „Cinerum“ unverkennbar: Musik ist hier nicht ausschließlich Musik, sondern auch Medium von appellativer Verkündigung und spirituellem Erleben. Die forcierten Bläserattacken und körperlos durch den Raum schwebenden Metallklänge schaffen eine kalte Kontrastfolie, die dann den reinen Gesang eines originalen Introitus „Misericordia“ umso wärmer als flehende Bitte um göttliche Barmherzigkeit hervortreten lässt. Der französisch-rumänische Komponist – von seiner Herkunft der orthodoxen Kirche angehörig – übernimmt zunächst unverändert gregorianische Choräle einer lateinischen „Aschermittwochsliturgie“, um sie im weiteren Verlauf durch die Kombination mit Theorbe und Zimbeln dezent zu etwas anderem umzuformen. Schließlich treten immer mehr Instrumente hinzu und schaffen die Streicher mit mikrotonalen Texturen schroffe Reibungen zu den diatonischen Psalmodien, bis sich die Verhältnisse umkehren und die vierköpfige Cappella Amsterdam im „Sanctus“ und „Hosanna“ statt Monodien dissonante Polyphonien singt, deren zeremonielle Formelhaftigkeit an Partituren des späten Stockhausen erinnert.
Das achtzigminütige Hauptwerk aus den letzten Lebensjahren des 1942 in Bukarest geborenen und 2008 in seiner Wahlheimat Paris verstorbenen Horaţiu Rădulescu entstand 2005 und trägt Züge eines Requiems. Der belgische Musikwissenschaftler Harry Halbreich – der dessen Schaffen seit 1973 begleitete – bezeichnete es in seiner Einführung zu einem weiteren Konzert als „das Vermächtnis und vielleicht größte Werk“ des damals bereits von Krankheit gezeichneten Komponisten. Nach der Uraufführung durch Rădulescus eigenes „European Lucero Ensemble“ eröffneten mehrheitlich dieselben Interpreten mit der zweiten Aufführung dieser „Musik in siebzehn Sätzen“ in der Kölner Kunst-Station Sankt Peter die von „ON – Neue Musik Köln“ veranstaltete „Hommage à Horaţiu Rădulescu“. Der zu Lebzeiten in Frankreich und darüber hinaus wenig beachtete Klangmagier wurde hier umfassend porträtiert und bereitete dem deutschen Publikum manche schöne Entdeckung. Initiiert wurden die vier Konzerte, zwei Einführungsvorträge und vier Meisterkurse langjähriger Rădulescu-Interpreten durch den Bratschisten Vincent Royer. Dieser war bei den Darmstädter Ferienkursen 1988 erstmals mit Rădulescu zusammengetroffen und seitdem von dessen Musik fasziniert. Die stärksten Erfahrungen machte Royer mit dessen Violasolo „Das Andere“, das er weltweit gespielt hat und auch jetzt im Abschlusskonzert der Kölner Konzerte zur Aufführung brachte: „Wenn man in diesem Stück den Kern der Quelle der Klänge trifft, dann rührt man – wie Rădulescu sagte – an das ,Tao‘, die Urenergie oder Urpräsenz allen Lebens und Seins. Das Stück ist wie eine spiritistische Sitzung, wo man die Geister einlädt, einzugreifen und sich zu offenbaren.“
1983 entstanden, beginnt das Stück in klirrender Höchstlage mit Griffen direkt an der Kontaktstelle des kurz vor dem Steg ansetzenden Bogens. Anschließend sinkt der Klang durch verschiedenste Akkorde, Spieltechniken und Sforzati langsam bis zur leeren c-Saite herab. An manchen Stellen hat der Bratschist bei steifem Ellenbogen und Handgelenk allein aus der Schulter heraus mit ganzem Arm den Bogen flautato-artig ohne Druck schnell hin und her zu streichen. Durch die gegenläufigen Bewegungen werden die in Schwingung versetzten Saiten permanent aus ihrer Phase gerissen, so dass näselnde Friktionen und zahlreiche Obertöne resultieren, die an den sirrenden Klang von indischer Sitar oder Sarangi erinnern. Die 1981 erstmals erprobte Spielweise bezeichnete Rădulescu mit einem Ausdruck des in Sri Lanka geborenen, britischen Cellisten Rohan de Saram als „u du ’u du“. Dazu Royer: „Die dabei erzeugten Obertöne gehen so stark durch das Holz des Instruments, dass die Bratsche eine ganz andere Aura und Farbe entfaltet. Rădulescus Visionen und ungewöhnliche Spieltechniken schaffen es, die Grenzen des Instruments aufzulösen. Durch die Biphonie der Doppelgriffe, die er auch aus alter byzantinischer Volksmusik kannte, entfaltet seine Musik einen unglaublichen physischen und psychischen Sog. Das hat eine extreme Intensität und fesselt auch die Hörer.“ In der halligen, gleichwohl erstaunlich klaren Akustik des Kölner Kunstmuseums Kolumba wurde „Das Andere“ für das vollkommen in Klang gehüllte Publikum zu einem rauschhaften Erlebnis. Für den Spieler selber ist die Aufführung – so Royer – wie „Yoga“, denn im Gleichklang mit der obertonreichen Musik sollen alle Spielgesten durch den ganzen Körper gehen, von der Grundschwingung des Leibes über Hüfte und Wirbelsäule bis in die höheren Frequenzen von Kopf, Gliedmaßen und Fingerspitzen.
Im Fünften Streichquartett „Before the universe was born“ von 1990/1995 zauberte auch der Cellist des jungen Asasello Quartetts Wolfgang Zamastil faszinierende „u du ’u du“-Effekte auf der schweren C-Saite, die dort am stärksten hervortreten. Auch sonst eröffnete dieses Streichquartett mittels Flageoletts, Saltandi und forcierter Dynamik ein weites Spektrum an harmonischen und mikrotonalen Farben. Ähnlich Scelsi oder Jean-Claude Eloy geht es Rădulescu dabei um die Suche nach der primordialen Vibration des Kosmos. Sein ebenso musikalisch wie gedanklich spekulatives Werk lauscht einem Traumpfad hinter den Anfang allen Seins zurück zum ewigen „Tao“. Anhand still zu sprechender Verse des altchinesischen Philosophen und Begründers des Taoismus Laotse gestalten die Musiker ekstatisch-schwebende Klangwellen, denen sie mit druckvollen Bogenwechseln einen perkussiven Lebenspuls verleihen. Schließlich schickte die Bratschistin Justyna S´liwa fragende Echolote in die verzweigten Ausstellungsräume des Kunstmuseums, und erhielt prompt raunende Antworten aus der Tiefe des Raums. Auf den WDR-Mitschnitt und die hoffentlich bald erscheinende CD beider Streicherwerke darf man gespannt sein.
Obwohl Rădulescu 1969 aus Rumänien nach Paris emigrierte und seitdem mit Obertonspektren arbeitete, gehört er nicht zur Gruppe der französischen Spektralisten um das Pariser Ensemble l’Itinéraire. Während Gérard Grisey und Tristan Murail erst ab 1972 Obertonspektren von Instrumentalklängen im Tonstudio analysierten und dann mittels verschiedener Besetzungen auskomponierten, ging es Rădulescu stets um einen unmittelbar körperlichen Zugriff auf Klang. Im zweiten Konzert der Kölner „Hommage“ zeigte dies „Khufu’s serpent II“ von 1995/2003, wo sich sieben Instrumentalisten innerhalb einfacher Akkordvorgaben spielerisch frei mit Arpeggien, Repetitionen, Überblasungen und Sforzati bewegen. Wie in vielen anderen Stücken Rădulescus verstärkt der improvisatorische Charakter des Zusammenspiels hier die unmittelbare Körperlichkeit und Augenblickshaftigkeit der Musik, die jedoch zugleich auf Kosten der Dramaturgie dieser Musik geht, die zu Beginn einfach da ist und am Ende ebenso plötzlich einfach wieder weg.
Während „Cinerum“, „Das Andere“ und das Fünfte Streichquartett begeisterten, entfalteten andere Werke nicht dieselbe bannende Kraft. Das vom NRW-Perkussionsensemble SPLASH konzentriert gespielte „Faint Sun“ für sechs Schlagzeuger von 1993/2003 blieb ebenso blass wie das ähnlich monochrom besetzte „Capricorn’s nostalgic crickets“ für sieben Flöten von 1972/1980. Rădulescu kam es ganz auf Entfaltung des Instrumentalklangs in all dessen Farbe, Energetik, Harmonik und Wandelbarkeit an. Doch indem er sich ausschließlich auf spektrale Schattierungen konzentrierte, vernachlässigte er Rhythmik, Polyphonie und Form. Seine konsequent a-prozessualen Stücke wirken daher oft entwicklungs- und spannungslos. Die Einzelpartien mögen für sich genommen differenziert sein, bilden in der Summe aber eine auf Dauer statisch und gleichförmig wirkende Gesamttextur von unveränderter Kontur, Dichte, Dynamik und Klanglichkeit. Das ließ sich auch am 1996 entstandenen Duo „Immersed in the wonder“ beobachten, gespielt von Flötist Pierre-Yves Artaud und Cellistin Catherine M. Tunnell, der Witwe Rădulescus. Umso variantenreicher erwies sich die von Tunnell und Ian Pace ausgezeichnet interpretierte Sonate „Exil Intérieur“ für Cello und Klavier, in der Rădulescu 1997 rumänische Folklore verarbeitete. Ein außergewöhnliches Hörerlebnis bot schließlich auch „Do Emerge Ultimate Silence“ für vierunddreißig Kinderstimmen und spektral gestimmte Klangstäbe von 1974/84. Die gelungene Aufführung durch den unter Leitung von Oliver Sperling hochkonzentriert agierenden „Mädchenchor am Kölner Dom“ überlagerte im Raum verteilte und oft jeweils andere Obertöne singende Einzelstimmen zu changierenden Schichtungen, die bei aller Vielstimmigkeit dennoch einstimmig zur im Werktitel verschlüsselten Anrufung „DEUS“ zusammenfanden. Musik und Theologie bilden auch hier eine Einheit. Schließlich sind für Horaţiu Rădulescu alle Klänge Emanationen ein und desselben Grundtons.