MusikTexte 137 – Mai 2013, 88–89

Interventionen wider die Routine

Die Wittener Tage für neue Kammermusik

von Rainer Nonnenmann

Das Vorspiel zu den diesjährigen Wittener Tagen für neue Kammermusik begann wie ein Sinnbild auf die Situation der neuen Musik: zu kontinuierlichem Rauschen aus Lautsprechern treten fili­grane Geigen- und Celloklänge wie eben jene Vorhaltsdissonanz, als die Helmut Lachenmann einmal die gesamte neue Musik in Bezug auf die Tonika des „normalen“ Musiklebens bezeichnet hat. „ordinances (A): contra-walker“ des 1989 geborenen, in Harvard von Chaya Czernowin und Steven Takasugi ausgebildeten Marek Poliks eröffnete das „Newcomer Konzert“ des von Johannes Schöllhorn zusammen mit WDR-Redakteur und Festivalleiter Harry Vogt konzipierten „Labor Witten“. Aus fünfundvierzig eingereichten Partituren wurden sechs Werke junger Komponisten ausgewählt und vom jungen Kölner Kammerensemble „hand werk“ uraufgeführt. Unter dessen hochkonzentrierten Interpretationen ragte Flötist Daniel Agi mit der Uraufführung von Yasutaki Inamoris ebenso virtuosem wie eigenwilligem „Mumbling Flute, Reinforced“ heraus. Besonders eindrücklich geriet auch das schreiend stille „Asche“ der 1985 geborenen Schwedin Lisa Streich, wo in forciertem Unisono die Klarinette den Celloklang regelrecht verschluckt, so dass nur noch die heftigen Bogenwechsel des Cellisten zu sehen und als Knackimpulse zu hören sind.

Der jüngeren Generation vorbehalten war auch das eigentliche Eröffnungskonzert der Wittener Tage mit kompositorischen Ausarbeitungen von Karlheinz Stockhausens Formelschema „Plus Minus“ für das Stuttgarter ensemble ascolta. Auf der Grundlage dieses Konzepts entfaltete Ming Tsao viel leere Geläufigkeit und üppig luxurierende Klangpracht, während Andrew Digby zu erstarrtem Minimalismus fand und Steffen Krebbers „Konfusion V“ wie ein mikrotonal und polyrhythmisch verspannter Renaissance-Kontrapunkt wirkte. Annesley Black und Robin Hoffmann brachten in ihrer Gemeinschaftskomposition „Guru Guru – Doppelrequiem“ Stockhausens als zu eng empfundenes Modell in hintersinnige Kollision mit einer Ansprache von Steve Jobs, dem Mitbegründer der Firma Apple, deren Produkte grenzenlose Freiheit versprechen und zugleich ebenso konditionieren wie Stockhausens „Plus Minus“. Ein zweites Mal zu erleben war das Paar in einer zähen Improvisation mit Posaunist Digby sowie Trompeter und Keyboarder Dieter Ammann. Die vier Musiker warteten vergeblich aufeinander oder verbrauchten zu schnell zu verschiedenes Material, als dass die anderen darauf hätten reagieren können. Und obwohl sie noch nicht einmal richtig losgelegt hatten und der Fluss immer wieder stockte, konnten sie weit nach ein Uhr nachts immer noch kein Ende finden.

Dieter Ammann – 1962 im Schweizerischen Aarau geboren – hatte als Jazz- und Rockmusiker gespielt, bis er sich im Zuge seines Studiums bei Roland Moser und Detlef Müller-Siemens auf das Komponieren verlegte. Im Rahmen des ihm gewidmeten Porträts wurden vier seiner Stücke aufgeführt. Ein lebhaftes Interview mit Martina Seeber weckte dabei ebenso das Interesse an diesem in Deutschland bisher wenig bekannten Komponisten wie sein „Cute“ von 2011, eine gekonnte Verschmelzung von Flöte und Klarinette zu einem neuen Hybridinstrument. Ernüchterung brachte jedoch sein Zweites Streichquartett „Distanzenquartett“. Vom Pariser Quatuor Diotima vielleicht nicht vollendet wiedergegeben, wirkte es allzu altmeisterlich abgeklärt mit seiner motivisch dichten Faktur, gestischen Prägnanz und seinem berückend schönen Schluss-Larghetto, bei dem sich die Violine auf der nach oben offenen Tristan-Skala chromatisch in höchste Höhen schwingt. Verständlich, dass sich Ammann und Wolfgang Rihm – bei dem er Kompositionskurse besuchte – gegenseitig schätzen, auch wenn Ammann sehr langsam und wenig komponiert, jener dafür umso schneller und mehr. Enttäuschend blieb auch Ammanns „unbal­anced instability“ für Violine und Kammerorchester, trotz der hervorragenden Solistin Carolin Widmann und dem von Emilio Pomàrico bestens präparierten WDR Sinfonieorchester Köln. Die anfängliche Verzahnung von Solo und Tutti weicht bald der typischen Rollenverteilung eines Virtuosenkonzerts, mit brillierender Solovioline samt großer Kadenz vor eher begleitend kontextualisierendem Orchester, das passagenweise in wohltönenden Klangwellen à la Debussys „La mer“ schwelgen darf. So entpuppte sich der im Gespräch lockere und aufgeweckte Ammann in seiner Musik letztlich als ein in philharmonischen Schönklang verliebter neokonservativer Romantiker.

Den Rahmen des Bewährten bedienten auch Fabien Lévys für das Saxophonquartett „xasax“ komponiertes „towards the door we never opened“, wo Synkopen zu einer Art Hyper-Ragtime verabsolutiert werden, und Ivan Fedeles Stück „Phas­ing“, in dem zwei Klaviere zusammen mit Glockenspiel, Vibra-, Xylo- und Marimbaphon eine brillant funkelnde Klangwelt à la Boulez zaubern. Das famose Ensembles „Makrokosmos“ – bestehend aus zwei Schlagzeugern und dem ausgezeichneten Klavierduo Ufuk und Bahar Dördüncü – setzte dabei dem Werktitel entsprechend oft phasenverschoben um drei Zweiunddreißigstel versetzt ein, so dass extrem dichte Kanonbildungen entstanden. Doch wegen der unprofilierten Läufe, Repetitionen und Triller resultierte nur großes Klingeln. Gemeinsam brachten „xasax“ und „Makrokosmos“ schließlich Bernhard Langs vierzigminütige „Monadologie XV: Druck“ zur Uraufführung. Der österreichische Komponist lässt in dieser Werkreihe existierende Musik – in diesem Fall von John Coltrane und Iannis Xenakis – mithilfe eines Computerprogramms schreddern und neu recyceln. Röhrende Bigband-Akkorde mit rockigen Drumsets und Keyboards werden nach Strich und Faden tonal und rhythmisch-metrisch zerrupft, so dass eine wie unter Ecstasy wild zuckende Musik entsteht, die durchaus einen gewissen Drive entfaltet, letztlich aber ebenso mechanisch-geistlos bleibt wie das ihr zugrundeliegende Verfahren. Wer von Langs Serienproduktion immer noch nicht genug hat, darf sich auf zehn weitere „Monadologien“ freuen, die schon auf Halde liegen.

Derlei Routine durchbricht immer wieder Simon Steen-Andersen, indem er nichts einfach unhinterfragt übernimmt, sondern jedes Mal eigene Zu- und Umgänge mit dem verwendeten Instrumentarium entwickelt. Für „Im Rauschen – Drei Stationen nach Schumann“ funktionalisierte der 1976 geborene dänische Komponist Flöte, Pikkolo und Bassklarinette zu flüsternd orgelnden Tastenin­strumenten um, indem er den Mundstücken der Instrumente Miniaturlautsprecher implantierte. Im ersten Satz seiner dreiteiligen Suite erzeugen die Lautsprecher nur Rauschen, das die Spieler durch Griffe zu einem dreistimmigen Choralsatz umformen. In gleicher Weise verwandeln sie im zweiten Satz eine reale Tonhöhe und musizieren im dritten ohne jeden Lautsprecherzusatz mit bloßem Klappenspiel. Das Amsterdamer Nieuw Ensemble unter Leitung von Celso Antunes schuf dagegen mit Misato Mochizukis „outrenoir“ ein nachtschwarzes Klangtableau von großer Suggestivkraft. Unstet brodelnder Bassgrund und erwartungsvolles Flirren lassen eine Szenerie imaginieren, bei der sich vereinzelte Bläsertöne über tonloses Fingergekrabbel der Streicher wie einsame Rufe letzter Überlebender in einer verheerten Welt hören lassen.

Zu den Wittener Höhepunkten 2013 zählte auch Alberto Posadas fünfteiliger Zyklus „Sombras“ für Streichquartett mit satzweise hinzutretender Sopran- und Klarinettenpartie. Auf der Grundlage systematischer Kombinationen identischer Fingersätze mit variierten Spielweisen entfaltet der 1967 geborene Spanier ein Feuerwerk an Gesten, Klängen, Texturen, die von überbordender Klangphantasie ebenso zeugen wie von formaler Bindekraft. Als das Quatuor Diotima plötzlich zu singen schien, hielt man dies zunächst für eine Gehörshalluzination. Doch erwies sich bald die wunderbar helle Sopranstimme der hinter einem Paravent hervortretenden Sarah Maria Sun als umso wirklicher und schöner.

Mit Spannung war erwartet worden, wie der Konzept- und Medienkünstler Johannes Kreidler die Aufgabe lösen würden, für eine herkömmliche Besetzung wie das ensemble recherche zu komponieren. Der für seine Provokationen bekannte Komponist brachte die Versuchsanordnung jedoch kurzerhand zum Platzen, indem er sich einmal mehr weigerte, für solch überkommenen Instrumentalapparat zu schreiben. Statt mit Musik begann sein „Schutter Piece“ mit permanent an- und ausgeschalteten Videosequenzen eines alten Champions League-Spiels zwischen FC Bayern München und FC Valencia. Die brüllende Stadionkulisse und erregte Moderatorenstimme übertönte gnadenlos auch das später einsetzende Ensemble. Das stroboskopartig kurze Anknipsen des Videos wirkte de facto als Ausknipsen des Ensembles. Daran änderte auch das irgendwann wegfallende Video nichts, weil der Stadionklang unverändert weiter rhythmisch ein- und aussetzte. Nach kurzer inszenierter Diskussion entschlossen sich die Instrumentalisten, das An-Aus-Schema einfach zu übernehmen, indem sie im selben Rhythmus mit vier Unterarmen brachiale Cluster auf Flügel und Synthesizer stemmten. Deutlicher kann ein Komponist nicht demonstrieren, dass er nicht gewillt ist, in altbewährter Manier mit diesen Instrumenten zu spielen. Als endlich nach der Uraufführung jemand im Publikum im gleichen An-Aus-Rhythmus „Buh, buh, buh …“ rief, kam der Verdacht auf, Kreidler habe dieses hausgemachte Skandälchen gleich mitbestellt. Denn um wirklich zu verstören, blieb sein Frontalangriff zu äußerlich. Statt als bestimmte Negation von innen heraus bestehende Maßstäbe subversiv zu sprengen, blieb die simple An-Aus-Schaltung des aggressiven Lärms als abstrakte Negation letztlich unverbindlich und harmlos. Zudem sind derlei Störungen inzwischen regelrecht zu Kreidlers Markenzeichen und damit bestell- und erwartbar geworden. So raunte es schon vor seinem Stück durch die Sitzreihen: „Jetzt kommt der Knaller!“ Ja, es hat peng gemacht, doch die Ohrfeige ging ins Leere. Gleichwohl sind Kreidlers Versuche aller Ehren wert, weil er nicht bereit ist, sich mit der braven Selbstgenügsamkeit von Neue-Musik-Festivals abzufinden. Statt in gepflegter Routine Uraufführungen en suite abzufeiern und allenfalls zahme Stilkritik zum Zweck billiger Selbstprofilierung zu üben, zielt er risikobereit – auch wenn sich manche seiner Mittel und Verfahren inzwischen erschöpfen – auf Fundamentalkritik am System Kunst, um ein grundsätzliches Nachdenken über den Sinn neuer Musik anzustoßen.

Willkommene Sprünge aus der Kammermusik boten auch mehrere klangliche und szenische Interventionen in der Wittener Innenstadt: Peter Ablingers auto­matische Transkriptionen von Stadtgeräu­schen für Player Piano, Erwin Staches inmitten von Markttreiben andere akustische Räume öffnende Türen, Neele Hülckers Klang- und Figurenminiaturen in privaten Wohnungsfenstern, und Matthias Kauls Groß und Klein begeisternder „Klang-TÜV“, bei dem bunter Trödel für fünfzig Cent eine Minute lang zu Musikinstrumenten verwandelt wurde. Manos Tsangaris bot mit „Mauersegler“ ein städti­sches Pendant zu seinem Landschaftsprojekt „MS Schwalbe“, mit dem er die Witten-Besucher 2011 auf eine Bootstour über die Ruhr geschickt hatte. Dieses Mal durfte das Publikum hinter großen Schaufensterscheiben Platz nehmen, um draußen auf der Straße beiläufig sich Ereignendes und gezielt Inszeniertes zu beobachten, inklusive einer mit Musikern und Schauspielern besetzten Straßenbahn. Eine Theaterminiatur zwischen Realismus und Surrealismus bot „Retrouvailles“ für zwei Darsteller (Richard Dubelski und Christian Dierstein) von Georges Aperghis, der 2011 den ersten Mauricio-Kagel-Musikpreis der Kunststiftung NRW erhalten hatte. Als zweiter Preisträger folgte ihm jetzt der Niederländer Michel van der Aa, dessen nette, unterhaltsame Stücke zwar reich­lich Kagelsche Einfälle plündern, ansonsten aber wenig Bemerkenswertes zu bieten haben.