MusikTexte 137 – Mai 2013, 100

„Alle Musik ist religiös“

María de Alvears „Magna Mater“ im spanischen Cuenca

von Rainer Nonnenmann

In der Karwoche ist hier alles auf den Beinen. Bei täglichen Prozessionen werden lebensgroße Figuren und sogar ganze Szenen des österlichen Leidens- und Heilswegs Christi auf schweren Katafalken durch die Stadt getragen. Beim letzten Abendmahl mit allen Aposteln haben fünfzig Männer ordentlich zu schultern. Unter schrillen Trompetenchören und eindringlichem Trommeln diverser Bandas ziehen tausende, teils mit spitzen Kapuzen verhüllte Gemeindemitglieder durch die Straßen. Der katholisch-zeremonielle Ernst ist unverkennbar, und doch sind die Umzüge zugleich folkloristisch-lebenslustige Fiestas für die ganze Familie, wo man sich zwischendurch in Bars und Wirtshäusern für das weitere Passionsgeschehen stärkt. Seit der grausamen Rückeroberung von den Mauren Ende des zwölften Jahrhunderts ist Cuenca ein religiöses Zentrum in Spanien. Hundertvierzig Kilometer östlich von Madrid in einer der am dünnsten besiedelten Regionen des Landes gelegen, thront die als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnete Stadt in tausend Meter Höhe auf einem schmalen Felssporn zwischen zwei tief eingeschnittenen Flusstälern der gleichnamigen Serranía Cuenca.

In Cuenca ist eines der ältesten und renommiertesten Musikfeste des Landes etabliert, das sich auf Augenhöhe mit anderen internationalen Veranstaltungen gerne als „el Salzburgo Ibérico“ versteht. Gefördert vom Bischof sowie den Regierungen der Stadt, der Provinz, der Region Castillia-La Mancha und dem spanischen Kultusministerium gibt es hier seit 1962 die „Semana de la Música Religiosa de Cuenca“. Die knapp zwanzig Konzerte dieser „Woche der religiösen Musik“ werden mit internationalen Interpreten während der Karwoche überwiegend in Kirchen abgehalten und vom spanischen Rundfunk aufgezeichnet.

Die zweiundfünfzigste Ausgabe des Festivals bot unter der künstlerischen Leitung von Pilar Tomás überwiegend alte Musik, darunter als Repertoire-Höhepunkte Bachs Matthäuspassion, Mozarts c-Moll-Messe und Beethovens Neunte Symphonie. Schwerpunkte galten Carlo Gesualdo zum vierhundertsten Todestag sowie der Gastregion Flandern, die unter den Habsburger Kaisern zweihundert Jahre lang eng mit Spanien verbunden war. Das zwanzigste Jahrhundert wurde von Poulenc, Strawinsky, Messiaen, Stockhausen, Gubaidulina, Carles Guinovart und Jesus Guridi repräsentiert. Uraufführungen gab es von Alicia Díaz de la Fuente, Claudio Z. Tupinambá und María de Alvear.

Die spanisch-deutsche Komponistin hatte bereits Mitte Januar 2013 im Rahmen der Konzertreihe „Ensembl[:E:]uropa“ des WDR Köln das erste Werk ihrer neuen Serie „Arcáico“ vorgestellt, in der sie innermusikalische und menschheitsgeschichtliche Archaismen thematisiert. „Open Sunshine“ beruhte damals auf künstlerisch frei ausgelegten paläoanthro­pologischen und paläolinguistischen Befunden, mit deren Hilfe de Alvear eine musikalische Expedition zurück an die Schwelle vom Primatenaffen zum Menschen komponierte, um die Grenze zwischen Tierlauten, Sprache, Gesang und Musik während der Urgeschichte vom Homo Heidelbergensis (vor fünfhunderttausend Jahren) bis zum Homo Sapiens (vor fünfzigtausend Jahren) auszuloten. Wie dort standen sich auch in „Magna mater“ – Ende März beim Festival in Cuenca uraufgeführt – verschiedene Gesangspraktiken gegenüber: vibratolos reiner Gesang der unter Leitung von Maria Jonas auf Gregorianik spezialisierten Frauenschola „Ars Choralis Coeln“, der kraftvoll schmetternde Belcanto des Opern-Baritons Carlos Lozano, sowie die obertonreiche Strahlkraft des kehlig-nasal singenden Kinderchors Escolania Ciudad de Cuenca. Wahlweise in reiner oder temperierter Stimmung sowie in Spanisch, Deutsch, Englisch, Latein und der von de Alvear phantasierten hunderttausend Jahre alten Ursprache „Moadou“ symbolisierten die drei Vokalpartien archetypische Prinzipien: Mann, Frau, Kind, und Einzelner, Gruppe, Masse, sowie verklärte Vergangenheit, aufgewühlte Gegenwart und hoffnungsvolle Zukunft.

Wie im ersten dominierten auch im zweiten „Arcáico“-Stück der ehemaligen Kagel-Schülerin archetypische Klänge: ele­mentare Fanfaren, Gesten des Aufbruchs und der Erregung, drängende Crescendi, Kindermelodien, Repetitionen, minimalistische Floskeln, stehende Flächen und hochenergetische Unisoni. Mit den Frauen- und Kinderstimmen trat auch das 2008 gegründete, in Salamanca und Madrid beheimatete Ensemble Gombau unter Leitung von Carlos Cuesta immer wieder zu Einklängen zusammen, vor allem die zwei Hörner, die durch geringfügige Abweichungen genauso flirrende Klangkomplexe hervorriefen wie die draußen auf den Straßen von zwanzig und mehr Trompeten geblasenen Melodien, welche die 1960 in Madrid geborene Komponistin schon in ihrer Kindheit elektrisiert und zur Einsicht gebracht hatten: „Alle Musik ist religiös!“ Minuten lang orgelnde Liegetöne und von innen heraus belebte Unisoni versetzten die Luft in ekstatisches Sirren. Dagegen klangen repetitive Abschnitte eher nach Strawinsky, Orff oder dem harmonisch vorantreibenden Minimalismus Michael Nymans. Statt prozessual auseinander hervorzugehen, reihten sich die Abschnitte. Das überraschte angesichts des Untertitels „Un cuento sobre la temporalidad“ (Eine Erzählung über die Zeitlichkeit). Denn statt die Flüchtigkeit jeden Augenblicks durch charakteristische Ein- und Ausschwingvorgänge zu betonen, ersetzte die dreiviertelstündige Allegorie den Fluss der Zeitkunst Musik mittels gleichmäßig maximaler Klangfülle vielmehr durch statische Zuständlichkeit.

Dagegen ließ Ana de Alvear – Schwester der Komponistin – im parallelen Video umso rasender Stunden, Tage, Jahre und Äonen vergehen. Dank Computeranimation wurde gleich zu Anfang die steinerne Apsis der zur Bibliothek umgebauten Iglesia de la Merced gesprengt, um über den virtuell geöffneten Himmel ebenso archaische wie kitschig-ironische Urbilder von Tages- und Jahreszeiten, Wind und Wetter ziehen zu lassen. Als Ort gesammelten Menschenwissens wurde die Bibliothek ebenso sprichwörtlich wie real zur Projektionsfläche. Auf Bücher, Regale, Pfeiler und Geländer legten sich punktgenau eben solche Bilder aus dem dicken Buch der großen Mutter Natur, dem sich letztlich alle Wissenschaft und Literatur verdankt. Mit erstaunlicher Plastizität und Leuchtkraft fielen Licht und Schatten in die Bibliothek, auch Regen, Schnee, Sternschnuppen und buntes Herbstlaub. Selbst Fische schwammen zwischen den Regalen. Und das durch Kometensturz verbrannte Holz trieb plötzlich wieder grüne Ranken. Darüber zogen Wolken, Gestirne, Nordlichter und endlich der große Vollmond, dessen Kreisbahn die zauberhafte Kosmogonie beendete.