MusikTexte 138 – August 2013, 84–85

Klang gewordene Utopie

Xenakis und Elektronik bei „Acht Brücken – Musik für Köln“

von Rainer Nonnenmann

Die „MusikTriennale Köln“ war 1994 aufgelegt worden, um in drei Festivals bis 2000 die Musik des zu Ende gehenden Jahrhunderts zu bilanzieren. Von der Kölner Philharmonie veranstaltet hätte das Projekt mit dem Millennium eigentlich seinen Ziel- und Endpunkt finden sollen. Doch obwohl sich das Konzept erledigt hatte, präsentierte man bis 2010 drei weitere Ausgaben des bis zur Profillosigkeit bunten Gemischtwarenladens, bei dem Komponistenporträts von Luigi Nono, Luciano Berio und Karlheinz Stockhausen wenigstens einen erkennbaren Schwerpunkt boten. Als sich endlich doch die Einsicht durchsetzte, dass sich die Triennale mit ihrem der Öffentlichkeit kaum vermittelbaren Dreijahres-Rhythmus überlebt hatte, startete man 2011 das jährliche Nachfolgefestival „Acht Brücken – Musik für Köln“, das zwar die Komponistenporträts fortsetzte, zugleich aber durch korrespondierende Themen ergänzte. Nach anfänglichen Schwächen bei Pierre Boulez und der Musik Frankreichs 2011, John Cage und der Musik Nordamerikas 2012 widmete sich das Festival diesmal erfolgreich Iannis Xenakis und der Elektronischen Musik.

Der 2001 in Paris verstorbene griechisch-französischen Komponist war mit fast vierzig Stücken umfassend vertreten, auch wenn bedauerlicherweise keines seiner Orchesterwerke auf dem Programm stand und damit ein zentrales Segment seines Schaffens fehlte. Zudem verhielt sich der Fokus wohltuend antizyklisch zur üblichen Feier runder Geburts- oder Todestage, in deren Windschatten das Festival zuvor schwamm. Gleich zu Anfang machte das Ensemble Resonanz unter Leitung von Robert HP Platz einmal mehr deutlich, wie der aufgrund von mathematischen Prozeduren komponierten Musik Xenakis’ zugleich eine körperliche Fasslichkeit eignet. Ähnlich Fisch- oder Vogelschwärmen laufen Einsätze von einem Musiker zum anderen, sodass sie sich wechselseitig überlagern und potenzieren. Pizzikati vervielfachen sich zu wilden Zupforgien, Schläge zu dichtem Prasseln, Bogenstriche zu ekstatischem Rauschen, Glissandi zu multivektorial auseinander strebenden Räumen. So erscheint die Summe der Einzelmusiker in Stücken wie „Aroura“, „Voile“ oder „Syrmos“ als übergeordnetes Lebewesen mit ganz eigenen Verhaltensweisen.

Das JACK Quartet aus New York war 1999 mit einer CD-Einspielung der Xenakis-Quartette international bekannt geworden. Jetzt spielte die junge Formation Xenakis im Wechsel mit selbst bearbeiteten Werken von Guillaume Dufay und Guillaume de Machaut, für die sich schon Xenakis begeistert hatte. Die Modi, Quart- und Quintparallelen des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts, erwiesen sich dabei für tonal konditionierte Ohren als ebenso weit vom typischen Quartettklang entfernt wie die atonalen Texturen von Xenakis, was die Relativität und Wandelbarkeit des Kategoriensystems der abendländischen Musik unmittelbar ohrenfällig machte. Besonders beeindruckte „Ergma“ von 1994, ein schroffer Anschlag auf alle mit der Gattung Streichquartett verbundenen Ideale von Wohlklang und seelenvoller Innerlichkeit mit schreienden Doppelgriff-Dissonanzen bei durchweg forcierter Lautstärke. Jeder Ton scheint den anderen zu fliehen. Dagegen wirkten die melodischen Bögen und dialogischen Wechsel von Ober- und Untersatz des 1990 entstandenen „Tetora“ geradezu klassisch.

Gleich zwei Xenakis-Konzerte spielte das Ensemble Modern, wobei zwei Auftragswerke zur Uraufführung kamen. York Höllers „Crossing“ wirkte im direkten Vergleich zu Xenakis’ kantigem „Jalons“ von 1986 vertraut konzertant mit seinen prägnanten Motivkernen sowie klaren, Form stiftenden Wechseln von flächig beruhigten und rhythmisch agilen Abschnitten. In bewährter Manier mischte der bald Siebzigjährige den Instrumentalklang mit elektronischem Keyboard und gelang ihm eine ebenso klangsinnliche wie charakterlich und formal unmittelbar fassliche Musik. Manche Kapriolen schlug indes „Koffer“ von Enno Poppe. Der für seine sperrigen Werktitel bekannte Komponist begann mit einem Duo zweier Kontrabassklarinetten, das er später durch zwei Posaunen zum Quartett ergänzte und schließlich mittels Wagnertuba, Akkordeon und dem restlichen Ensemble zum Tutti erweiterte. Diesem sukzessiven Ausbau entsprachen Aufwärtsschübe in immer höhere Regionen, zunächst nur mikrointervallisch, dann immer eruptiver durch Schlagzeugattacken befeuert bis in schreiende Höhen zu einem irre pfeifenden Keyboard-Solo. Anschließend versammelte Poppe nach dem bekannten Aufzählspiel „Ich packe meinen Koffer, und tue hinein …“ versprengte Floskeln aus Klassik, Marsch- und Tanzmusik. Ein Stil schien im anderen zu stecken, wie bei einer russischen Puppe. Zuletzt enthüllte sein ebenso ironisch wie virtuos instrumentierter Scherzartikel eine einlullende Tonumspielungs-Melodie, die erst als elegisches Saxophonsolo erschien, dann als klagender Posaunenruf und endlich als übertrieben schluchzendes Streichquartett.

Künstlerisch geleitet werden die „Acht Brücken“ vom Philharmonie-Intendanten und Gesamtleiter des Festivals Louwrens Langevoort, dem Musikreferenten der Stadt Köln Hermann-Christoph Müller, dem Manager des Ensembles musikFabrik Thomas Oesterdiekhoff sowie dem Chef der Programmgruppe Musik von WDR3 Werner Wittersheim. Dass sich diese Teamarbeit bewährt, zeigte neben dem Xenakis-Programm vor allem der Schwerpunkt mit Elektronischer Musik. Dieser gelang so facettenreich und vielseitig, dass er leicht für ein eigenes, klar profiliertes Festival ausgereicht hätte, wohingegen der jährliche Schwerpunkt zu einem großen toten Meister des zwanzigsten Jahrhunderts weniger originell ist. Unter dem Doppeltitel „Elektronik – electronics“ wurden auch populäre Erscheinungsformen zeitgenössischer Elektronik einbezogen, etwa Noise, Clubbing, Turntablism oder Disk Jockeys, was den Hörerkreis über die engeren Zirkel neuer Musik hinaus erweiterte.

Das für stilistische Grenzgänge bekannte belgische Ensemble „Nadar“ spielte neue Stücke mit Elektronik und Video. Nach dem Kulminationsmodell von Ravels „Bolero“ trieb der aus Venezuela stammende Jorge Sánchez-Chiong in seinem „AutoCine“ eine Filmgeschichte des Strickmusters „Girl meets boy …“ mittels stampfendem Ensemble und krachender Elektronik auf einen ekstatischen Höhepunkt. Und der Leiter des Elektro­ni­schen Studios der Kölner Musikhochschule Michael Beil spielte in „exit to enter“ einmal mehr mit irritierenden Trennungen von Ursache und Wirkung, indem er pantomimische Spielgesten mit manipulierten Videos derselben sowie mit technisch reproduzierten und live gespielten Klängen nach allen Regeln der Kunst kombinierte. Über das gesamte Festival präsentierte zudem ein von Björn Gottstein kuratierter, täglich vierstündiger „Elektroakustischer Salon“ die stilistische Bandbreite elektronischer Musik unter den thematischen Bündelungen: Musikmaschinen, Synthese, Fieldrecording, Soundscape, Musique concrète, Speakings, Medienarchäologie, Algorithmik, Raumklang, Turntablism, Filmmusik und Noise.

Elektronik bestimmte auch den vom Netzwerk „ON – Neue Musik Köln“ mitveranstalteten „musikalischen Nachtspaziergang“, der vor allem der verjüngten Kölner Szene ein Forum bot. Den Anfang machte im Kunsthaus Rhenania die 2010 von Teilnehmern der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) gegründete „Manufaktur für aktuelle Musik“ (MAM) unter der entschiedenen Leitung von Susanne Blumenthal. Nach einer hochenergetischen Aufführung von Xenakis’ „Kaï“ kippte plötzlich der Trompeter vom Stuhl, und während man noch darüber schockiert war, dass niemand zu Hilfe eilte, hatte „Epicycle“ des 1970 ver­storbenen Jani Christou längst begonnen. Dessen Partitur für variable Besetzung besteht aus comicartigen Zeichnungen von Soldaten, Gefechten, Exekutionen, Toten. Folglich robbte der Trompeter wie verletzt aus dem Fenster, fielen Balken knallend zu Boden, gellten Schreie durchs Haus, blickte man hinter Vorhängen in entsetzt aufgerissene Gesichter. Mit derselben Intensität, wenn auch friedlicher, war Ying Wangs „Coffee & Tea“ zu erleben. Wie unter einer brisanten Überdosis an Koffein und Teein behaupteten sich die jungen Musiker mit großer Präsenz gegen packende Elektronikzuspielungen, allesamt verarbeitete Klänge von Kaffee-Maschinen und Teeblättern.

An der zweiten Station im Rheinau-Hafenamt bot das Duo Sabine Akiko Ahrendt (Violine) und Lluïsa Espigolé (Klavier) mit Hilfe von Klangregisseur Florian Zwißler weitere inszenierte Brüche zwischen Ursache und Wirkung. Während die Schwedin Lisa Streich ein Violoncello mit Elektromotoren per Fernbedienung traktierte, ließ der Däne Simon Steen-Andersen wilde, aber komplett gedämpfte Geigenglissandi über Whammy-Gitarrenpedal und Verstärker hörbar werden. Das Ensemble Garage unter Leitung von Mariano Chiacchiarini setzte das Spiel mit Differenzen von live-gespielten und technisch reproduzierten Klängen in der Rodenkirchener Lagerstätte für mobile Hochwasserschutzwände fort. Die aus Weißrussland stammende Oxana Omel­chuk rief in einer neuen Ensembleversion ihres „Staahaadler Aff“ per Drumpads diverse Samples ab, so dass Konflikte zwischen sichtbaren Spielgesten und hörbaren Ergebnissen entstanden. Ebenso spielte Michael Beils „Karaoke Rebranng!“ mit realen und pantomimischen sowie per Video und Lautsprecher wiedergegebenen Spielgesten. Schließlich zauberte auch das Konzert des 2011 gegründeten Kammerensembles „hand werk“ im Bootshaus „Alte Liebe“ ein ganz eigenes Zusammenspiel zwischen Maximilian Marcolls virtuosem Reiben und Schlagen auf der Black Box seiner Werkserie „Compound“ und den von der Decke des auf dem Rhein schwimmenden Wirtshauses lautlos schaukelnden Ankern, Lampen und Leinen.

Mit fast dreißig Uraufführungen bot das Kölner Festival dieses Jahr so viele Novitäten wie die renommierten Uraufführungsfestivals in Donaueschingen oder Witten. Das ist sehr beachtlich. Und erfreulicherweise stammten viele Werke von Komponisten der jüngeren und jüngsten Generation. Allein im Finalkonzert des erstmals von einem neu in Köln ansässigen Spezialchemie-Konzern geförderten „Internationalen LANXESS Kompositionswettbewerbs“ spielte das Asasello Quartett drei Novitäten. Die Ausschreibung richtete sich an Komponisten bis sechsundzwanzig Jahre und zielte dem Festivalthema gemäß auf Stücke für Streichquartett mit Elektronik. Doch es wurden nur Förderpreise an Ainolnaim Azizol, Jesse Broekman und Sophie Pope vergeben, weil kein Werk herausragte und das gesetzte Alterslimit offenbar an der realen Ausbildungssituation vorbeiging. Denn die meisten Musiker absolvieren erst ein allgemeines Kompositionsstudium, bevor sie sich im Aufbaustudium mit Elektronik befassen und dann bereits sechsundzwanzig Jahre und älter sind.

Uraufgeführt wurde auch Benedict Masons „Ensemble“ für drei identisch besetzte Ensembles, was schon bei der „Ensembliade“ der Donaueschinger Musiktage 2008 hätte geschehen sollen, wäre die Partitur damals rechtzeitig fertig geworden. Im Staatenhaus der Kölner Messe spielten diese Raummusik jetzt Ensemble Modern, Klangforum Wien und musikFabrik. Nebeneinander auf einer Breite von etwa sechzig Metern postiert sollten die dreimal je zweiundzwanzig Musiker einen entsprechenden Raumeffekt bewirken. Mason jedoch hatte zwar in sich bewegte, äußerlich aber statische Texturen komponiert, die den Saal als leuchtende Dur-Gewebe akustisch gleichmäßig füllten und damit die Tiefe des Raums verflachten.

Den Schlusspunkt des zwölftägigen Festivals setzte der Großmeister der Elektronischen Musik Karlheinz Stockhausen. Nachdem bereits zur Eröffnung eine sensationelle Aufführung seines „Gesang der Jünglinge“ im Kölner Dom (Klangregie Kathinka Pasveer) stattgefunden hatte, versammelte das Abschlusskonzert drei seiner Pionierwerke für Live-Elektronik aus der Mitte der sechziger Jahre. Während in „Mikrophonie I“ die Transformation der Klänge durch Ringmodulatoren (statt originaler Analoggeräte digital simuliert) im Hintergrund blieb, weil die mittels unterschiedlichster Spieltechniken und Materialien auf dem großen Tamtam rein akustisch erzeugten Klänge bereits ungemein vielfältig sind, verwandelte sich in „Mikrophonie II“ der reine Belcanto der Kölner Vokalsolisten zu monsterhaft fauchenden Phantasiekreaturen, halb Mensch, halb alienhaftes Insekt (Klangregie Paul Jeukendrup). Elek­tronisch verändert werden die Instrumente auch in „Mixtur“. Stockhausen beabsichtigte hier nichts Geringeres als einen Komplettumbau des traditionellen Apparats. Das zeigt schon die Plazierung von Kontrabässen und Violoncelli direkt beim Dirigenten und der ersten Geigen ganz hinten. Zudem mutiert das Kammerorchester durch die Ringmodulation zu einem völlig neuen Hybridinstrument. Pizzikati erscheinen als klirrende Amboss-Schläge, Holzbläser als Hornissenschwärme, und der Kontrabass dröhnt wie eine über den Boden geschleifte Badewanne. Es sirrt metallisch in allen Farben des Periodensystems von Zink, Titan, Chrom, Gold und Quecksilber. Das 1964 entstandene Stück ist eine Klang gewordene Utopie und liefert den Beweis für die Einlösbarkeit der alten Sehnsucht neuer Musik, alles könnte auch ganz anders sein.

Zum End- und Höhepunkt des Elektronikschwerpunkts trug auch Marcus Schmicklers „Kemp Echoes“ bei, vom Ensemble musikFabik unter der ebenso präzisen wie gestisch prägnanten und charaktervollen Leitung des famosen Enno Poppe mit großer Intensität uraufgeführt. Der Kölner Komponist greift Stockhausens Prinzip der Ringmodulation auf, doch versucht er, diesen Effekt rein akustisch zu erzeugen. Um gleich den richtigen Zugang zu weisen, lässt er direkt zu Anfang hochenergetische Mehrklänge von Oboist Peter Veale in den Ohren des Publikums ordentlich sirren. Die faszinierenden Reibungen auf dem Trommelfell halten zwar nicht das gesamte Stück über an, finden aber variantenreiche Abwandlungen in Gestalt von flirrenden Trillern und schnellen Farbwechseln, als sause unter der Decke der Kölner Philharmonie eine imaginäre Wolkenorgel. Wie das gesamte Festival mit seiner gelungenen Mischung aus lokalen Akteuren und auswärtigen Gästen hatte auch dieser letzte „Brücken“-Abend internationales Format.