MusikTexte 138 – August 2013, 92

Finaler Urknall

Michael Quell: Porträt

von Rainer Nonnenmann

Die Besetzung dieses Stücks gleicht einer experimentellen Versuchsanordnung: Der beliebig lange Atem des Harmonie-In­stru­ments Akkordeon prallt auf die unweigerlich verklingenden Töne des Zupfinstruments Gitarre. Die unterschiedliche Bau- und Spielweise beider Instrumente prägt dementsprechend verschiedene Klang- und Zeitlichkeiten aus: Historische Reminiszenzen an traditionelles Gitarrenspiel stoßen auf ortlos durch Raum und Zeit schwebende „ewige“ Liegetöne des Akkordeons. Doch die Gegensätze ziehen sich auch an, indem sie gemeinsam punktuelle Strukturen oder – dank mit Bogenhaaren gestrichener Gitarrensaiten – auch quasi elektronisch sirrende Interferenzen ausbilden. Der Werktitel „Achronon“ (2008/2009) – ein Schlüsselbegriff des Kulturphilosophen Jean Gebser – meint „Zeitfreiheit“ beziehungsweise die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Formen des Bewusstseins und Erlebens von Zeit, wie sie das Stück unmittelbar erfahrbar macht.

Die Porträt-CD Michael Quell umfasst sechs Solo- und Kammermusikwerke aus zwanzig Jahren, vom Quintett „Ekstare“ (1988/1990) zum Duo „Achronon“ (2008/­2009), in Einspielungen durch Mitglieder und Gäste des Freiburger Ensembles Aventure. Auch klanglich, formal und ideell zeichnet die CD ein Porträt des 1960 geborenen Gitarristen, Musikpädagogen, Komponisten und ehemaligen Schülers von Hans-Ulrich Engelmann und Rolf Riehm an der Musikhochschule Frankfurt. Quells Werke basieren auf den erweiterten Spiel- und Klangtechniken, wie sie seit Ende der sechziger Jahre Helmut Lachenmann und andere entwickelten. Viele enden mit einer Entropie des Materials, das im Verlauf der Stücke – so der Kommentar von Ernst Helmuth Flammer – dekomponiert, gebrochen, zerbröselt wird. Der abseits schnelllebiger Musikzentren in Fulda lebende Komponist sucht philosophische Fragen oder Erkenntnisse musikalisch umzusetzen. „Ekstare“ bezieht sich auf die Existentialphilosophie von Martin Heideggers „Sein und Zeit“, namentlich auf den dort analysierten „Ruf der Sorge“ des „in die Welt geworfenen Daseins“. Dementsprechend sieht sich der Hörer in einen tosenden Wirbel heterogener Klangpartikel geworfen, die sich nach und nach zu homogenen Texturen und Farbflächen glätten, bis sie am Ende wieder ins Chaos zerfallen, aus dem plötzlich vereinzelte menschliche Laute dringen.

In „temps et couleurs I“ verflechten sich Flöte und Gitarre mittels Glissandi und Fluido-Pizzikati zu permanent schwan­kenden Lineamenten, aus denen schließlich ein mittelalterlicher Hymnus tritt, dessen Melodie schon zuvor die verbeult wirkende Stimmführung insgeheim zu lenken schien. Einen dialektischen Umschlag von Quantität in Qualität zeigt auch das „Streichtrio“, wo scheinbar statische Einzelaktionen durch zunehmende Summierung schlagartig in dynamische Klangeruptionen ausbrechen. Der Schluss ist mit leisesten Streich- und Klappergeräuschen dagegen kaum mehr als ein Schattentheater an der unteren Hörschwelle und jenseits davon. Dialektisch vermittelt werden Kon­traste auch im Klavierstück „anisotropie – (vier) (aggregat-)zustände“ aus dem Jahr 2001. Durch wech­selnde Tempi und Dichtegrade gleichen sich Tonkaskaden, die über die Tastatur blitzen, und obertonreiche Pizzikati im Klavierinneren einander an. In „Anamorphosis II (-Polymorphia)“ (2002/2003)verdichten sich attacca ineinander übergehende, weitgehend ruhige Teilstücke bis zum furiosen achten Teilstück, das sich rückwirkend als finaler Urknall alles Vorherigen erweist.

Michael Quell, Chamber Music, München: NEOS, 2011.