MusikTexte 139 – November 2013, 77–78

Großformen und Kleingeisterei

Generatives, Sprachhaftes und Skrupelloses bei den Donaueschinger Musiktagen

von Rainer Nonnenmann

Jahrhundertelang war Musik primär Vokalmusik, die aus den jeweils vertonten Texten ihre Verlaufsform bezog, so dass sich bei Motetten, Messen, Arien und Kantaten kaum die Frage nach der Form stellte. Die zur „absoluten Tonkunst“ hochstilisierte Instrumentalmusik der Klassik und Romantik brachte mit Sinfonie, Streichquartett und Sonate Gattungs- und Formmodelle hervor, die sich rein musikalischer Themenverarbeitung und Harmoniefolge verdankten. Die neue Musik des zwanzigsten Jahrhunderts entzog diesen Gerüsten jedoch den tonalen Boden, sodass das Problem der musika­lischen Form akut wurde – und bis heute geblieben ist. Seitdem muss jedes Werk seine individuelle Form aus eigener Materialität und Technik entwickeln.

Bei den drei Ensemble- und zwei Orchesterkonzerten der diesjährigen Donaueschinger Musiktage waren mit neun Stücken so wenige Novitäten zu erleben wie noch nie, aber auch noch nie so ausladende. Schließlich ging es um „Großformen“. Allein zwei Stücke nahmen je ein ganzes Konzert ein, darunter Enno Poppes achtzigminütiger „Speicher“. Die Gesamturaufführung der sechs Sätze durch das überragende Klangforum Wien unter Leitung des Komponisten war ein Höhepunkt des Festivals. Kleinste melodische Formeln werden mit mikrologisch präziser Detailversessenheit variativ abgewandelt, sodass Prozesse in Gang kommen, die zunächst kaum merklich sind, nach und nach aber zu völlig veränderten Zuständen führen. Auf diese Weise entfaltet das Werk eine Dramaturgie aus wechselnden Dichtegraden, Anspannungs- und Ruhephasen, die auch historische Stile flüchtig beschwören. Stellenweise zieht sich der polyphon aufgesplitterte Satz zu homophonen Schemen zusammen, die, als Marsch- oder Tanzcha­rak­tere kaum erahnt, schon wieder zerfallen. Aus den Ensemblegespinsten steigen unvermutet auch virtuose Soli, um schnell ein paar agile Kapriolen zu schlagen und wieder zu versinken. Dann platzen Free-Jazz-artige Einlagen heraus, schwingt sich das Horn zum cantus-firmus-artigen romantischen Solo empor, zaubern die Streicher für einen kurzen Moment zarte Adagio-Innigkeit und treten rasende Läufe zu irisierenden Schleiern zusammen. Poppes Musik atmet eine wunderbare Freiheit und Erfindungskraft, zeugt bei aller kompositorischen Genauigkeit und strukturellen Vielschichtigkeit von einer großen erfahrungsgesättigten Breite und Tiefe, ist jederzeit überraschend und bei aller Wandelbarkeit und zeitlichen Ausdehnung wegen ihres identischen Grundmaterials dennoch als formaler Gesamtverlauf erfassbar.

Im Ansatz ähnlich, doch im Erscheinungsbild völlig anders, stützt sich auch Walter Zimmermanns „Clinamen I–VI“ auf kleinste melodisch-rhythmische Floskeln. Diese verdanken sich Transkriptionen altgriechischer Wörter, die in Metrum, Tempo, Rhythmus, Intervallik und Instrumentation verschiedene „Abweichungen“ – so der griechische Titel – erfahren. Dabei entstehen filigrane Linien, die sich zumeist kanonisch zu innerlich bewegten, äußerlich jedoch statischen Texturen überlagern, deren zurückhaltende Klanglichkeit, Agogik, Gestik und obligates Mezzopiano die gezielt in Schlummer versetzten Möglichkeiten des großbesetzten Orchesterapparats konsequent unterlaufen. Bis auf zwei Stücke ähnelten sich die Sätze hinsichtlich Faktur, Klang und Verlauf zu sehr. Der zweite Satz ist eine Eintonmusik in der Art von Giacinto Scelsi oder Alban Bergs „Invention über einen Ton (H)“ aus dem dritten Akt „Wozzeck“. Ein zwischen h und his changierendes Unisono erhält einen genuin perkussiven Charakter durch Pizzikati, die statt der vom Tuttiklang verdeckten Töne nur dumpfe Zupfimpulse hören lassen. Im letzten Satz „Rad der Zeit“ kreisen diverse Einzelimpulse immer schneller durch die um das Publikum verteilten sechs Orchestergruppen, bis sich die Rotation irgendwann selbst überholt und in alle Richtungen zerfällt.

Als gälte es dem grassierenden Sinn- und Formverlust neuer Instrumentalmusik vorzubeugen, folgen auch die meisten Kompositionen von Georges Aperghis dem Tonfall und Gestus von Sprache, weshalb sie stets latent theatralisch wirken. Die vom Klangforum Wien unter dem Dirigat von Emilio Pomàrico uraufgeführten „Situations“ füllten ein zweites komplettes Konzert mit einer Folge charakteristischer Miniaturen: exaltierte Soli, dichte Mixturen von Holzbläsern und rea­len Stimmen, dozierende Sprech- und fremdsprachige Sprechgesangspartien. Für sich genommen typisch, ließen diese „Szenen“ indes einen größeren Gesamtbogen vermissen. Ungleich beredter und beziehungsreicher gab das Schweizer Improvisationstrio „Koch/Schütz/Studer“ zusammen mit der fabelhaften New Yorker Vokalperformerin Shelley Hirsch bei der „SWR2 NOWJazz Session“ seine Deutschland-Premiere. Letztere wirkte nicht wie die Einundsechzigjährige, die sie tatsächlich ist, sondern wie ein spleeniges junges Ding, das schlagartig wechselnden Launen und hysterischen Aus- und Einfällen hemmungslos freien Lauf lässt und – vom packenden Instrumentaltrio reaktionsschnell sekundiert – von einem Moment auf den anderen wimmert, schimpft, stöhnt, seufzt, plaudert, röhrt, säuselt, räsoniert, rockt, opernhaft trällert, lautstark vom Leder zieht und lustvoll mit der Stimme zwischen allen Lagen und Artikulationsweisen experimentiert.

Eine willkommene Raststation für gestresste Festivalbesucher bot Georg Nussbaumers „Ringlandschaft mit Bierstrom“. Die Konzertinstallation im Aufenthaltsraum der Fürstlich Fürstenbergischen Brauerei erstreckte sich an zwei Nachmittagen über insgesamt fünfzehn Stunden. Nachdem Nussbaumer in den vergangenen Jahren bereits Projekte zu Richard Wagners „Parsifal“, „Lohengrin“; „Tristan“, „Walküre“ und „Siegfried“ realisiert hatte, ließ er nun dieses „Wagner-Areal“ durch den vollständigen „Ring des Nibelungen“ mäandrieren. Acht Streicher des Berliner Ensembles Kaleidoskop greifen bestimmte Stellen aus den Klavierauszügen heraus, um sie improvisatorisch zu verselbständigen. Das Publikum sitzt dazu wahlweise auf Bänken oder wandelt durch verschlungene Gänge zwischen mit Bettlaken und Kleidungsstücken verhangenen Gerüsten. Zudem wurden die Besucher mit Spinat gestärkt und aus einem stets gut gefüllten Kühlschrank mit Pils versorgt, damit jeder selber ein Teil des auch künstlich benebelten „Bierstroms“ werden konnte. Wer wollte, durfte seinen Kopf auch in wassergefüllte „Wagnertonnen“ stecken, um sich darin entweder zu ernüchtern oder von Unterwasser-Lautsprechern eben diejenigen Stellen von Wagners Bühnenfestspiel anzuhören, die zeitgleich über Kopfhörer den Musikern zugespielt wurden. Anlässlich des zweihundertsten Geburtstags des Meisters war dies mehr unverbindlich-netter Klamauk mit heiterem Leitmotive-Raten denn eine – wie Ernst Bloch 1929 gefordert hatte – substantielle „Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage“.

Generative Prozesse bestimmen – ähnlich wie bei Poppe – auch Bernhard Langs Werkserie „Monadologien“, die kleine Motivsplitter und Akkorde aus bekannten Werken der Tradition entlehnt, um sie mittels eines Computerprogramms zu einstündigen Rasereien weiterzuzüchten. Nach Musik von Strauss, Mozart und Haydn drehte Lang nun in Nummer XIII die Linzer Erstfassung von Anton Bruckners Erster Sinfonie durch den Wolf. Nach dem altbewährten Modell seiner vorigen Werkserie „Differenz/Wiederholung“ kreist das zerschredderte Material loopartig in immer wieder anderen Schleifen. Neben der identischen Besetzung und symphonischen Dimension von siebzig Minuten erinnerten an Bruckners Ausgangsmaterial gelegentlich massige Orchesterunisoni, stete Pulsationen von Pauke und Kontrabässen sowie der plötzlich als unverstelltes Zitat eingeblendete Anfang des Scherzo-Hauptthemas. Mit ununterbrochen vorantreibenden Beats, tumultösen Ballungen, hochenergetischen Phrenesien und einem gewissen Monumentalismus agitiert diese Musik den Hörer permanent. Doch bleiben all ihre Erscheinungsweisen ohne nachvollziehbare Ursache und kausale Folge, also letztlich mechanisch und wirkungslos, was auf Langs andere insgesamt achtundzwanzig fertige „Monadologien“ nicht eben besonders neugierig macht. Als problematisch erwies sich im Eröffnungskonzert des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg unter Leitung der drei Dirigenten Pascal Rophé, Wolfgang Lischke und Christopher Sprenger auch die stereophone Gegenüberstellung der zwei vierteltönig gegeneinander verstimmten Orchester vor und hinter dem Auditorium. Die Publikumsbestuhlung war von der Saalmitte aus zu beiden Seiten auf die Orchestergruppen ausgerichtet. Die Hörer wandten sich also ausgerechnet der ihnen näheren Gruppe zu und von der entfernteren Gruppe in ihrem Rücken ab, so dass von letzterer über weite Strecken nur Schemenhaftes oder überhaupt nichts zu hören war: Das Zuviel an Aufwand fiel sich so kontraproduktiv selbst in den Rücken.

Blass blieb auch das vom Ensemble musikFabrik und SWR-Vokalensemble mit Hilfe von Ircam-Elektronik unter Leitung von Marcus Creed uraufgeführte „Registre des lumières“ auf Texte aus Ovids „Metamorphosen“ von Raphaël Cendo sowie die deutsche Erstaufführung der bereits 2009 realisierten elektro­nischen Komposition „I have come like a butterfly …“ von Hèctor Parra, die klanglich wie räumlich flach wirkte. Im Abschlusskonzert brachte das SWR-Sinfonieorchester unter Leitung seines Chefdirigenten François-Xavier Roth drei ebenso perspektiv- wie skrupellose Rückgriffe auf das altbewährte Ausdrucks- und Gestenreservoire des neunzehnten Jahrhunderts zur Uraufführung. Als brillante Shoppingtour durch die Orchester­literatur erschien „In situ“ von Philippe Manoury, dem das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg den diesjährigen Orchesterpreis zusprach. Das Stück verfügt über eminente Vielfarbigkeit und Virtuosität, womit es durchaus zu blenden vermag, basiert aber letztlich nur auf denselben alten Dualismen von Bewegung und Stillstand, Impuls und Fläche. Alberto Posadas Tripelkonzert für Flöte, Oboe, Klarinette und Orchester „Kerguelen“ verfolgte statt selbstgenügsamer Virtuosität immerhin einen konzeptuellen Umgang mit dem Solis­tentrio, das dank einheitlicher Spielweisen wie ein einziges Instrument behandelt wird. Während einer großen Kadenz schrauben sich die Solisten mit flirrenden Dauer­trillern in schrille Höchstlagen, bis das impressionistische Stimmungsbild des Anfangs in einen von fauchenden Tamtams aufgepeitschten und alles überschwemmenden finalen Riesenaufschrei umschlägt. Die wütendsten „Buh“-Salven erntete Bruno Mantovani mit seiner Schiller-Vertonung „Cantate Nr. 3“, deren ständig anrollende und abrupt abbrechende Crescendo-Wellen bei aller erweiterten Klanglichkeit in der Tat nur aufgeblasene Pathetik erzeugten. Statt eine von lebendigem Geist durchwirkte „Großform“ hervorzubringen, offenbarte der Leiter des Pariser Conservatoire Natio­nal Supérieur damit nur einen ins Monströse verzerrten akademistischen Kleingeist.