MusikTexte 139 – November 2013, 88

Meditativ-hypnotischer Sog

Jean-Claude Eloy: „Yo-In“ und „Anâhata“ auf CD

von Rainer Nonnenmann

Der Anfang ist denkbar profan: billiges Elektrogeklingel, Publikumsgeräusche und eine dazwischen tönende Schiffssirene. Dieses Alltagsszenario ist ganz von dieser Welt, und bereitet doch zugleich die Startrampe für eine anschließend umso größere Steighöhe. Denn der Sirenenton fächert sich in das leuchtende Spektrum seiner Unter- und Obertöne auf, um gleich zu Beginn von Jean-Claude Eloys „Klangtheater für ein imaginäres Ritual“ eine strahlende Regenbogenbrücke ins Nirwana zu spannen. Der japanische Titel des dreieinhalbstündigen Werks „Yo-In“ bedeutet so viel wie Widerhall und benennt Eloys Absicht, die raum- und zeitlose Ewigkeit des Weltalls als zeitlichen Widerhall in Musik erfahrbar zu machen. 1980 im Elektronischen Studio des Instituts für Sonologie Utrecht realisiert und mit der umfangreichen Sammlung ostasiatischer Instrumente des US-amerikanischen Schlagzeugers Michael W. Ranta kombiniert, ist der Mitschnitt der Aufführung des Werks beim Festival Warschauer Herbst 1994 jetzt im eigenen Label des Komponisten als Erstveröffentlichung auf vier CDs erschienen.

Den vier Akten des Werks sind die vier Tageszeiten und entsprechende kultische Zeremonien zugeordnet: Morgenruf und Flehen, Vereinigung und Aufnahme, Meditation und Kontemplation, Exorzismus und Befreiung. Im ersten Akt erzeugen elektronisch transformierte Tamtam-Wirbel ein untergründig rollendes Raunen wie von verschleierten Chören oder Orchestern aus weiter Ferne. Auch den weiteren Verlauf dominieren langsam ziehende Klangwolken, die als äußerlich statische Stratosphäre erscheinen, ihre Bestandteile im Inneren aber wie lebende Organismen fortwährend verändern, so dass sie sich ständig erneuern und doch sie selbst bleiben. Handfest wie das Vorspiel beginnt auch Akt II mit Maschinen- und Werkzeuggeräuschen, die jedoch in Schlagzeugklänge übergehen, die sich ihrerseits zu stark verhallten Wind- und Wellenklängen verwandeln. Ebenso verhallt später Donnergrollen zu hauchigen Klangsphären, vor die sich Holz- und Bambusinstrumente legen. Andere Passagen präsentieren vor elektronischem Grundrauschen tirilierende Vögel, zwitschernde Perkussionen und silberhelle Cymbeln. So reihen sich mittels „fade in“ und „fade out“ verschiedene Episoden aneinander, deren wellenartige Zu- und Abnahme einen meditativ-hypnotischen Sog entfaltet, auf Dauer aber stereotyp und formal simpel wirkt. Bleibt das Dauerdröhnen einmal weg, so atmen die Ohren wie bei plötzlichem Aussetzen einer nervtötenden Lüftungsanlage erleichtert auf. Wenig einfallsreich ist auch das lange Verklingen sämtlicher Aktschlüsse.

Eine neue Qualität bringt indes der vierte Akt mit vereinzelten menschlichen Schreien und Stöhnlauten zwischen klirrenden Kratz-, Schab- und Schleifgeräu­schen. Später erhalten wuchtige Trom­melschläge den zu ihrer vollständigen Entfaltung nötigen Zeitraum, bis sie sich zu wilden Accelerandi verdichten und in ein furioses Trommelsolo münden.

„Anâhata“

Rauscht so der Atem Gottes, von Schöpfung und Kosmos? Buddhistische Tempelglocken überlagern sich ruhig zu sanft ein- und ausschwingen Schwebungen. Sie erwecken einen Eindruck von Ewigkeit, denn sie wollen einfach nicht verklingen, weil elektronische Zuspielungen gesampelter Glockenklänge sie unmerklich weitertragen. Ihre Entsprechung findet die sphärische Dehnung von Zeit in der suggerierten räumlichen Unendlichkeit einer tiefengestaffelten Dynamik und Projektion dieser spirituellen Klänge.

Jean-Claude Eloys Klangzeremonie „Anâhata“ (1984 bis 1986) zielt auf die Grundschwingung des Universums, von der das alte Sanskrit-Wort des Werktitels spricht und die auch die moderne Astronomie noch in fernsten Echos des Urknalls zu erlauschen sucht. Mit auf seine Zeitreise zum Anfang der Welt nimmt der 1938 geborene französische Komponist zwei Sänger des traditionellen japanisch-buddhistischen Mönchsgesangs Shômyô sowie drei Interpreten der altjapanischen Hofmusik Gagaku. Hinzu kommen Michael W. Ranta und die Mitte der achtziger Jahre neueste Sample-Tech­no­logie. Eloy war nicht der erste, der abendländische und fernöstliche Traditionen verband. Doch sein graphisch notiertes Werk wurde als erstes von Priestern der buddhistischen Tendai- beziehungsweise Shingon-Sekte außerhalb von deren sonst oral überliefertem Repertoire aufgeführt. Dabei lehnt sich der ehemalige Schüler von Milhaud, Boulez und Stockhausen an die traditionelle japanische Vokal- und Instrumentalpraxis an. Nach der Uraufführung beim Pariser Festival d’automne und der deutschen Erstaufführung bei den Donaueschinger Musiktagen 1990 wurde Eloy daher Exotismus oder Ethnokolonialismus vorgeworfen. Das kann man so sehen, muss es aber nicht. Der Mitschnitt der Donaueschinger Aufführung ist nun erstmals auf drei CDs erschienen.

Der Eröffnung mit Tempelglocken folgen lange Sologesänge von Tenor und Bariton ohne jede Begleitung, später fallen dazu Kniegeige und Schlagzeug ein. Erst nach einer vollen Stunde vereinigen sich beide Singstimmen zu einem Duo, das nach den langen Monodien wie der Sprung in eine andere Dimension wirkt, als entfalte sich eine Linie zur Fläche und diese zum Raum. Mehrstimmigkeit wird hier noch einmal als derjenige epochale Schritt erlebbar, den der Wechsel von der Gregorianik zur Polyphonie vor siebenhundert Jahren in der abendländischen Musikgeschichte bedeutete. Nicht zuletzt durch hinzutretende Glocken und Elek­tronik gewinnt der Hörer den Eindruck, ihm gehe eine neue musikalische Welt auf. Ähnlich beginnen die Teile II und III des dreiteiligen Werks mit großen Soli von Flöte beziehungsweise der japanischen Mundorgel Shô, gespielt von Miyata Mayumi. Das große Shô-Solo spannt schließlich über fast drei Stunden den Bogen zurück zu den atemhaften Klangwellen des Anfangs. Denn die Mundorgel lässt sich aus- und einatmend spielen, was sie in der chinesischen und japanischen Tradition zu einem Symbol der ewigen Wiederkehr und des Phönix aus der Asche macht. Wenn ganz am Schluss endlich Meereswellen hörbar werden, scheint Eloys Suche nach der primordialen Vibration der Welt in den unermüdlichen Bewegungen dieses Elixiers allen Lebens ihr Ziel gefunden zu haben.

Der weite Atem der Aufnahme ist beein­druckend. Dennoch liefert die CD nur ein flaches Abbild des räumlich-szenischen Gesamtrituals, dessen traditionelle Instrumente ebenso gesehen werden müssen, wie auch die Gewänder, Sitzhaltungen und Spielweisen der Musiker. Darüber hinaus ebnet die Lautsprecherwiedergabe auch die mediale Verschiedenheit von live-gespielten und unsichtbar im Raum verteilten elek­troakustischen Klängen ein, die eine ganz eigene Art von Transzendenz entfalten. Beide Einwände sprechen indes weniger gegen die CD als vielmehr für eine Wiederaufführung von „Anâhata“.

Jean-Claude Eloy, Yo-In, Anâhata, Paris: hors territoires, 2011.