MusikTexte 140 – Februar 2014, 45–53

Musik aus und alle Fragen offen

Auskomponierte Perspektivwechsel des Hörens am Beispiel von Werken Mathias Spahlingers

von Rainer Nonnenmann

Die Bildung des Gehörs ist das Wichtigste.

Robert Schumann, „Musikalische Haus- und Lebensregeln“

Die europäische Musik der vergangenen achthundert Jahre zeichnet sich gegenüber anderen Musikkulturen der Welt dadurch aus, dass sich in ihr entweder schleichend über längere Zeiträume oder plötzlich durch revolutionäre Umschläge immer wieder Veränderungen ereigneten. Statt in rituelle Zusammenhänge eingebunden zu sein und überwiegend oral von Generation zu Generation möglichst unverändert tradiert zu werden, kam es alle paar Jahrhunderte und zuweilen innerhalb weniger Jahrzehnte zu gravierenden kategorialen Wechseln. Man denke nur an die Epochenwenden der Jahre um 1300, 1600, 1750, 1910 sowie in zunehmend dichterer Folge 1950, 1970 und jüngst im Zuge der Digitaltechnologie. Stets vollzogen sich Paradigmenwechsel gegenüber dem, was bis dato das Musikverständnis ausmachte, weil Komponisten, Interpreten und teils auch Theoretiker jeweils neu bestimmten, was Musik ist, kann, darf, soll oder eben gerade nicht kann, nicht darf und nicht soll. Gegenwärtig erleben wir womöglich einen weiteren Paradigmenwechsel angesichts des Umstands, dass der in allen ästhetischen, technischen und funktionellen Veränderungen der Musik der Vergangenheit enthaltene Fortschrittsgedanke sich durch die digitale Verfügbarkeit und Verwertbarkeit von Musik aller Zeiten, Stilistiken, Sparten und Weltgegenden totzulaufen beginnt. Die Omnipräsenz und universale Komponierbarkeit jeglicher Musik führt möglicherweise zu einem entropischen Zustand, in dem die summarische Gleichzeitigkeit von Musik aller Zeiten und Richtungen in ihr genaues Gegenteil umschlägt, nämlich in Zeit- und Richtungslosigkeit. Indes wurde die Weiterentwicklung von Musik schon oft für tot erklärt und sind derlei Prophezeiungen kaum mehr als Zeugnisse gegenwärtiger Blindheit für eine unabsehbare Zukunft, zumal angesichts der Entwicklungen der neuen Musik der letzten hundert Jahre, die sich kaum mehr als lineare Abfolge beschreiben lassen, sondern eher als eine zunehmend polydirektionale Ausdifferenzierung in verschiedene Richtungen gleichzeitig.

Entscheidend für das Symposionsthema „Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens“ ist, dass alle historisch beschreibbaren Veränderungen hinsichtlich Tonalität, Material, Form, Aufführungspraxis und Funktion von Musik nicht nur enorme innermusikalische Revolutionen bedeuteten, sondern mit ebenso einschneidenden Veränderungen des Hörens verbunden waren. Zweierlei ist dabei zu trennen: Einerseits gehen Veränderungen des Hörens und Komponierens einher mit allgemeinen Veränderungen des gesamten Wahrnehmungsdispositivs im Zuge grundlegender Wandlungen der gesamten Lebenswelt durch Industrialisierung, Verstädterung, Motorisierung, Telekommunikation und Medien. Andererseits ist kaum zu unterscheiden, ob erst Veränderungen des Komponierens zu Veränderungen des Hörens führten – wie es die übliche Kausalfolge Komponist-Interpret-Hörer nahelegt –, oder ob umgekehrt veränderte Perspektiven, Haltungen, Selektionsmechanismen, Gewichtungen und Aufmerksamkeiten des Hörens insgesamt – einschließlich des inneren Voraushörens von Komponisten – treibende Anstöße für Veränderungen des Komponierens gaben, die dann den gewandelten Maßstäben und Erwartungshaltungen des Hörens entsprechend Rechnung trugen. Komponieren wäre demnach auch beschreibbar als ein vorweggenommenes implizites Hören beziehungsweise als ein Hören-Wollen von bisher Unerhörtem. Allgemein gesellschaftliche und anthropologische Tragweite maß schon Arnold Schönberg dem Aufkommen neuer Klänge zu, als er am Ende seiner „Harmonielehre“ (1911) im Zusammenhang mit Ausführungen zu Quarten-Akkorden – wie er sie kurz zuvor in seinen Opera 9 und 10 komponiert hatte – schrieb: „Das Neue und Ungewohnte eines neuen Zusammenklangs schreibt der wirkliche Tondichter nur aus solchen Ursachen: er muss Neues, Unerhörtes ausdrücken, das ihn bewegt. Für die Nach­kommen, die daran weiterarbeiten, stellt es sich bloß als neuer Klang, als technisches Mittel dar; aber es ist weit mehr als das: ein neuer Klang ist ein unwillkürlich gefundenes Symbol, das den neuen Menschen ankündigt, der sich da ausspricht.“1

Tatsächlich ist die Wahrnehmung von Kunst untrennbar mit der Kunst der Wahrnehmung verbunden. Beide sind Ursache und Wirkung zugleich und bedingen sich wechselseitig. Als Folge der Einheit von Kunst und Wahrnehmung – die der altgriechische Begriff „ästhetisch“ (ais­thetos) in der Doppelbedeutung von „die Sinne betreffend“ sowie „Philosophie des Schönen“ benennt – lässt sich die Dynamik der europäischen Kunstmusik auch als eine Geschichte des Hörens beschreiben. Die zumeist auf Komponisten und deren Werke zentrierte Musikgeschichtsschreibung wäre durch eine Geschichte des Hörens zu ergänzen, die Institutions-, Aufführungs-, Interpretations- und Rezeptionsgeschichte ebenso einschließt wie Alltags-, Kultur- und Mediengeschichte. Erst gemeinsam liefern Musik- und Hörgeschichte einen Schlüssel zu den kollektiven und individuellen Vorprägungen und geschichtlichen Veränderungen von Musik und Musikhören. Schließlich ist Musikhistorie nicht totes Faktenwissen, sondern lebendiger Kritik- und Bezugspunkt des gegenwärtigen Musiklebens, zumal die Musik der Vergangenheit seit dem Historismus des neunzehnten Jahrhunderts und der modernen Aufnahme-, Speicher- und Reproduktionstechnologien des zwanzigsten und einund­zwanzigsten Jahrhunderts längst integraler Bestandteil der Gegenwart ist. Die Auswirkungen von Speicher- und Reproduktionstechnologien, Massenmedien, Fernsehen und Internet auf Kommunikationsverhalten, Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsspannen zeigen eindrücklich, wie sehr sich Wahrnehmung und speziell Hören in Wechselwirkung mit technologischen Entwicklungen verändern. Neuerdings ersetzen soziale Medien und Netzwerke wie YouTube, Myspace, SoundCloud, Facebook oder Blogs „passives“ Rezeptionsverhalten vielfach durch Interaktion und Partizipation, sofern nicht überhaupt die Präsentation eigener Produktionen an die Stelle der Rezeption von Produktionen anderer tritt. Das Selber-Wahrgenommen-Werden-Wollen verdrängt so die eigene Wahrnehmung von Inhalten Anderer.

Situation und Folgerungen

Aus dem bisher Gesagten folgt dreierlei. Erstens: Gerade weil heute tendenziell alle Musik gleich gegenwärtig ist, kann Musik erst im Kontext ihrer Entstehung verständlich werden, wo sie in der Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Erwartungshorizont ihrer Zeit samt aller institutions-, sozial-, und geistesgeschichtlichen Normen und Tabus ihre spezifische Eigenart entwickelte, um sich eine Zeit lang als neu zu behaupten und dann ihrerseits als ein Bestandteil des Status quo von nachdrängenden Musikern als etabliert und veraltet kritisiert und endlich durch Neues überboten zu werden. Nur so wird kenntlich, dass alte Musik einst die neue Musik ihrer Zeit war. Unmissverständlich äußerte sich auch dazu schon Schönberg in seinem Essay „Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke“, in dem er die Frage „Was ist neue Musik?“ mit durchaus definitorischem Anspruch dahingehend beantwortete, dass er die Neuheit dieser Musik zwar mit ihrer wesentlichen Andersheit, Originalität und Erstmaligkeit im geschichtlichen Zusammenhang erklärte, zugleich aber Neuheit als zentrales Wesensmerkmal „großer Kunst“ mit dem Kunstcharakter überhaupt gleichsetzte. Indem Schönberg den Neuheitsanspruch von Kunst in der abendländischen Musikgeschichte auch bei Meistern wie Josquin des Prez, Bach oder Haydn entdeckte, blieb er letztlich die Antwort auf seine Ausgangsfrage „Was ist neue Musik?“ schuldig, weil er schlicht keinen spezifischen Unterschied zwischen neuer Musik und der Musik früherer Jahrhunderte machte. Stattdessen stellte er die neue Musik und insbesondere das eigene Schaffen in eine direkte Linie mit jener von ihm beschworenen Kunsttradition: „Denn: Kunst heißt Neue Kunst.2 Schönberg verband damit zwei gegenläufige Bestrebungen: einerseits den entschiedenen Fortschrittsgeist, alles Bisherige hinter sich zu lassen, um Neues zu schaffen, andererseits die Kontinuität mit der nicht minder avantgardistischen Tradition des fortgesetzten Bruchs mit der Tradition.

Aus dem bisher Gesagten folgt zweitens: Mit der temporären Gültigkeit jeglichen Kategoriensystems des Komponierens und Hörens erweist sich auch die Musikhistoriographie als durch und durch historisches und folglich ständig revisionsbedürftiges Phänomen. Daher sollte die wissenschaftliche Betrachtung der Musik stets einhergehen mit der historisch-kritischen Reflexion ihrer eigenen Kategorien anhand der individuellen Kategorien bestimmter Werke, welche die bis dato gültigen Normen des Hörens, Deutens und Wertens von Musik infragestellten und in dem Maße, in dem sie den Musikbegriff veränderten, auch eine Veränderung der Themen, Gegenstände und Methoden der Musikhistoriographie provozierten. Denn da jeder Versuch, die Welt zu erfassen, nach bestimmten kategorialen Maßstäben erfolgt und die Art und Weise des Musikhörens mit diesen allgemeinen Kategorien der Sinneswahrnehmung korrespondiert, bietet Musik dem Hören die Möglichkeit, beim Musikhören zugleich auch etwas über sich selbst und seine Umwelt zu erfahren, also sowohl über die physiologischen und kogni­tionspsychologischen Bedingtheiten der Wahrnehmung als auch über deren habituell und kulturell geprägtes Kategoriensystem. Musikhören weitet sich so idealerweise zu einem Akt der Selbstverortung des über sich und seine Dispositionen und Potentiale aufgeklärten Menschen. Denn indem sich Musikhören in gleicher Weise auf das klingende Objekt wie auf das hörende Subjekt richtet, vermag es in dieser doppelten Polung zu einer in- und extensiven Welt- und Selbsterfahrung zu werden, mithin zu dem, was Helmut Lachenmann als „existen­tielle Erfahrung“ beschrieben hat.3 Und Musikwissenschaft, die eben dieses möglichst umfassend zu untersuchen versucht, erweist sich damit als eine – wie Peter Gülke herausstellte – „Agentin des kulturellen Gedächtnisses, also unserer Identität“.4

Hieraus folgt drittens: Statt wie im Serialismus das bis dato Komponierte und Gehöre rigoros zu eliminieren, um Musik möglichst voraussetzungslos jenseits eingespielter Orientierungs- und Wertmaßstäbe als ein neues, autonomes Ordnungsgefüge zu erfinden, lassen sich Wechsel der kategorialen Bezugssysteme auch innerhalb eines Werks komponieren und erfahrbar machen. Das kann so weit gehen, dass musikalische Setzungen und Entgegensetzungen eigens zum Zweck komponiert werden, die korrelierenden Hörweisen wechselweise zu durch­kreuzen, um auf diese Weise die Hörer zugleich auf die kategorialen Vorprägungen ihres eigenen Wahrnehmungsverhaltens mit allen anthropologisch, historisch und kulturell bestimmten Mechanismen des Ordnens, Selektierens und Vergleichens aufmerksam zu machen. Im Gegensatz zur traditionellen Musik kommuniziert solche dialektisch ihr eigenes Material und Medium reflektierende Musik dann nicht einfach nur bestimmte traditionelle oder avantgardistische Schönheits- und Ausdrucksideale, sondern vielmehr die Art und Weise des Mitteilens und Verstehens von Musik selber, so wie das Hören solcher Musik die Aufmerksamkeit zugleich von der Musik auf das Hören selbst zurücklenkt.

In diesem Sinne vertrat Helmut Lachenmann spätestens seit den achtziger Jahren die Auffassung: „Der Gegenstand von Musik ist das Hören, die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung.“5 Ähnlich spricht Mathias Spahlinger von der autoreflexiven Grundstruktur der neuen Musik, die im Unterschied zu allen bisherigen materialen, formalen und stilistischen Veränderungen in der Musikgeschichte „eine nächst höhere stufe des bewusstseins von sich selber“ erreicht habe.6 Statt bloß von einem (musikalischen) Bewusstseinszustand in einen anderen zu wechseln, habe die neue Musik des zwanzigsten Jahrhunderts eine prinzipiell höhere, weil selbstreflexive Bewusstseinsstufe erreicht. Analog dazu könne dann auch das Bewusstsein der musikalischen Rezeption auf eine solch höhere Stufe gelangen, indem es sich klar macht, „dass es immer unterstellt und dass es immer das wahrgenommene durch die zusammenhänge, in denen es wahrnimmt, verändert“.7 Ähnlich formulierte schon John Cage in den fünfziger Jahren im Zusammenhang mit dem Anspruch seiner nicht-intentionalen Musik, Klänge sie selbst sein zu lassen, den damit verbundenen Wunsch: „Letting attention focus itself.“ Und Peter Ablinger schließlich spricht vom „Hören hören“8 und von „Wahrnehmung als Selbstporträt“.9 Neue Musik entsteht nicht mehr nur zum Zweck des Hörens, sondern ist zugleich ein Mittel zur Provokation einer autoreflexiven Selbstwahrnehmung dieses Hörens. Inwiefern dies ansatzweise auch schon für traditionelle Musik zutrifft, wäre zu untersuchen. Vermutlich aber besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der traditionellen und der neuen Musik – namentlich der Richtung des „Kritischen Komponierens“10 –, wie sie Helmut Lachenmann, Mathias Spahlinger, Nicolaus A. Huber, Cornelius Schwehr und andere mit jeweils individuell verschiedenen Ansätzen seit Ende der sechziger Jahre vertreten, darunter auch die bei diesem Symposion zur „Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens“ als Referenten vertretenen jüngeren Komponisten Peter Ablinger und Clemens Gadenstätter.

Im Folgenden geht es speziell um das Denken in und über Musik von Mathias Spahlinger, der ursprünglich ebenfalls auf diesem Symposion hätte referieren sollen, aus gesundheitlichen Gründen jedoch leider absagen musste, so dass hier der Spagat zu unternehmen ist, mit der Darstellung seiner komponierten Intention zugleich die Probe auf deren perzeptuelle Interpretation zu machen. Eine Diskussion des Ansatzes „kritisches Komponieren“ im Rahmen dieser Tagungssektion „Kompositorische Intention und perzeptuelle Interpretation: Synergien und Konflikte“ eignet sich nicht zuletzt deswegen besonders, da Spahlingers Ansatz mit einem starken Wirkungsanspruch verbunden ist und das Verhältnis von komponierter Intention und perzeptueller Perzeption gerade im Hinblick auf neue Musik oft genug als „Missverhältnis“ beziehungsweise als Konflikt beklagt wurde, weil mit dem Schritt in die freie Atonalität vor über hundert Jahren eine bis heute offene Kluft zwischen zeitgenössischer Musikproduktion und veralteten Hörgewohnheiten aufgerissen sei. Im Folgenden sollen drei eng miteinander zusammenhängende Aspekte anhand von drei Stücken Spahlingers behandelt werden, die sich auf drei Thesen zuspitzen lassen:

Erstens: Spahlinger zielt in seiner Musik auf nichts weniger als einen musikalisch erlebbaren Nachweis der Relativität des musikalischen Raum-Zeit-Kontinuums nach dem Schritt in die Atonalität, dessen epochale Tragweite dem ebenso gravierenden Schritt von der klassischen Physik Newtons zur Relativitätstheorie Albert Einsteins vergleichbar ist. Zweitens komponiert Spahlinger bestimmte Kategorienwechsel, die auch fundamentale Perspektivwechsel des Hörens provozieren, die dann ihrerseits drittens dazu führen, dass das Hören sich autoreflexiv auf sich selbst und seine eigenen perzeptiven Bedingungen und Mechanismen richtet. Damit der mit solcher Evokation autoreflexiven Hörens verbundene immense ästhetische Anspruch nicht bloß theoretisch bleibt, sollen am Beispiel ausgewählter Stellen aus Spahlingers Werken konkrete Möglichkeiten der praktischen Umsetzung dieser zentralen Strategie „Kritischen Komponierens“ aufgezeigt und auf die Triftigkeit ihrer Wirkung beim Hören befragt werden.

Relativität des musikalischen Zeit-Raum-Kontinuums

Spahlingers „gegen unendlich“ für Bassklarinette, Posaune, Violoncello und Klavier (1994/1995) basiert auf der Einsicht in die Relativität des musikalischen Raums und der musikalischen Zeit nach Aufgabe der Tonalität. Denn: „ohne tonales bezugssystem gibt es unendlich viele tonhöhen, darum keine zwei gleichen Tonhöhen; ohne me­trum gibt es unendlich viele zeitpunkte, darum keine synchronität.“11 Thema des Stücks ist folglich „die erfahrung der bodenlosigkeit des quantifizierens“ angesichts mikrotonaler und mikrorhythmischer Abweichungen, von denen das systembezogene Hören zugunsten scheinbar klar quantifizierter Tonhöhen und Dauern normalerweise abstrahiert. Der Titel „gegen unendlich“ beschreibt eine asymptotische Annäherung der vier Instrumente so­wohl an bestimmte Tonhöhen als auch an die klar gequantelten Dauern einer regelmäßigen Sechzehntelpulsation. Die Spieler kommen diesen distinkten Quantitäten zwar denkbar nahe, erreichen sie jedoch niemals vollständig, weil im unendlichen Tonraum der neuen Musik – so Spahlinger – keine Tonhöhe und Dauer der anderen gleicht und es zwischen zwei benachbarten Tönen und Dauern theoretisch „gegen unendlich“ viele weitere Mi­krotöne und Mikrodauern gibt. Beispielsweise gibt es zwischen der kleinen Sekunde gis1-a1 der Frequenzen 415 und 440 Hertz auch die Frequenzen 416, 417, 418,1, 418,2 und 518,25 Hertz et cetera ad infinitum, selbst wenn unser Gehör diese feinsten Unterschiede irgendwann nicht mehr wahrzunehmen vermag. Dasselbe gilt für den Abstand zwischen zwei Dauern, zwischen die theoretisch immer weitere Mikrodauern passen.

Spahlinger verfolgt damit eine Idee, die er bereits in seinem Orchesterwerk „passage/paysage“ (1989/1990) realisiert hatte, nämlich „dass alle veränderungen, alle komponierten eingriffe dort anknüpfen, wo in der sache selbst sozusagen der keim des zerfalls steckt. wenn das unisono nicht ganz synchron sein kann, dann ist das der gesuchte und gefundene anlass, das ganze auseinanderflattern zu lassen“.12 Verbunden ist dieses Vorhaben mit der kompositorischen Intention, dem Hörer bewusst zu machen, dass er auf der Grundlage des von ihm verinnerlichten tonalen Systems unwillkürlich ständig von Irregularitäten abstrahiert, die ihn dieses System eigentlich grundsätzlich in Frage stellen lassen müssten.13 Thesenartig zugespitzt heißt das: Innerhalb der tonalen Skalierung wird nicht gehört, was sich tatsächlich ereignet, sondern nur systemimmanent zurechtgehört.14 An die Stelle offenen Hörens tritt bloßes Systematisieren, das reale Intonationsschwankungen und rhythmische Verwacklungen kurzerhand als Fehler im System aussortiert. Durch das System temperierter Höhen und Dauern ist das Gehör darauf trainiert, statt wirklich zu hören, ständig zu überhören.

„gegen unendlich“ beginnt mit Unisoni, die sich jedoch tatsächlich aus mehreren im Sechzehnteltonbereich gegeneinander verstimmten Mikrotönen zusammensetzen, die teilweise auf den Cent genau vorgeschrieben oder reine Naturtöne sind. Da sich alle Liegetöne innerhalb desselben mikrotonalen Rahmens bewegen – obzwar in immer anderer Abstufung, Abfolge und Zusammenstellung –, entsteht der Eindruck einer auf der Stelle kreisenden Klangfolge. Dabei fällt es den Spielern auf ihren Holzblas-, Blechblas-, Streich- und Tasteninstrumenten sehr unterschiedlich leicht beziehungsweise schwer, diese teils – vor allem für die Posaune – sehr hohen Töne hervorzubringen. Die Anstrengung schreibt sich den Tönen als individuelle körperliche Spannung und zufällige aufführungspraktische Intonationsschwankungen ein, was sich im Konzert nicht nur hören, sondern den Musikern auch ansehen lässt. Zur Varianz der theoretisch „gegen unendlich“ vielen Tonhöhen kommen ständige Wechsel der Besetzung der vier Instrumente von Klang zu Klang in allen möglichen Kombinationen und Dichtegraden vom Solo bis zum Quartett, sowie permanente Veränderungen von Dynamik, Spielweise und Tondauer. Spahlinger verfolgt damit das Ziel, dass „selbst identisch notierte tonhöhen, durch den mikrotonalen kontext, als bloße näherung gegen unendlich gehört werden können“.15 Die Gesamttextur bleibt äußerlich gleich, doch kein Ton gleicht dem anderen. Von Klang zu Klang ändern sich sämtliche Parameter: Tonhöhe, Lautstärke, Dauer, Instrumentation, Artikulation. Die Relativität des musikalischen Raum-Zeit-Gefüges wird in diesem Stück in „gegen unendlich“ gehenden Nuancen erfahrbar.

Im weiteren Verlauf des Stücks kommt es durch auskomponierte Kategorienwechsel zu mehreren dialektischen Umschlägen. Eine Struktur kippt plötzlich in die andere. So wird aus den mikrotonalen Quasi-Unisono-Liegeklängen des Anfangs plötzlich eine durch den chromatisch temperierten Tonraum springende Sechzehntelpulsation (Seite 9). Spielten zuvor alle Instrumente annäherungsweise dieselben Tonhöhen, um die Aufmerksamkeit gerade auf den Unschärfebereich der Tonkombinationen zu lenken, die sich eben alle aus zwei oder mehr geringfügig anderen Sechzehnteltonhöhen zusammensetzten, so spielen jetzt alle ein und dieselbe Tonhöhenfolge teils parallel miteinander, teils in einer Art extremem Hoquetus durch Pausieren nacheinander, um die Aufmerksamkeit gerade auf den Unschärfebereich der jeweils geringfügig anderen Einsatzzeitpunkte zu richten. Anhand dieser komponierten Kategorienwechsel ist der Hörer aufgerufen, ebenfalls einen entsprechenden Perspektivwechsel zu vollziehen, so dass er sowohl die konkreten Schwankungen der Unisoni und Pulsationen wahrnimmt als auch registriert – so zumindest die Idealvorstellung –, dass er diese Abweichungen sonst normalerweise im Sinne des distinkt temperierten Tonhöhen- und ebenso distinkt temporierten Dauernsystems zurechtgehört hätte. Insofern handelt es sich bei diesem Perspektivwechsel des Hörens um etwas prinzipiell anderes als bei einem traditionellen Wechsel wie zwischen Homo- und Polyphonie oder dem Themendualismus und funk­tionsharmonischen Formmodell der Sonate.

Durch das zügige Tempo Viertel = 90 MM (also mit sechs Sechzehntelimpulsen pro Sekunde) sowie durch teils extreme Sprünge und ständig im Dreiviertelmetrum die Taktgrenzen durchkreuzende Sechzehnteleinsätze bei gleichzeitig schnellen Wechseln von Dynamik und Spieltechnik provoziert Spahlinger aufführungspraktische Schwankungen innerhalb der synchron notierten Tonfolge. Um zu verhindern, dass diese temporalen und intonatorischen Schwankungen – wie im tonalen System – hinsichtlich der durchgehende Pulsation zurechtgehört werden, ergänzt er diese aufführungspraktischen Irregularitäten durch eigens auskomponierte Abweichungen. Weil die Sechzehntelketten ein begrenztes Tonmaterial permutieren, entsteht der paradoxe Eindruck eines polyphonen Unisonos. Dieses – laut Werkkommentar – „quasi-unisono mit komponierten und unkomponierbaren abweichungen“ will „im (ametrischen) 1:1-puls, auch was die gleichzeitigkeit betrifft, die vielfalt hörbar machen, von der systembezogenes identifizieren absehen muss.“16

Anschließend verengt sich die Sechzehntelfolge vorübergehend auf das Klavier mit vereinzelten Störelementen der übrigen Instrumente. Während sich die Tonfolge dann wieder zum obligaten Unisono aller verdichtet, schleichen sich mehr und mehr fremde Tonhöhen und Rhythmisierungen in die Impulskette, bis diese schließlich von innen heraus zerfällt. Das Zerfallsprodukt gibt da­bei rückwirkend zu erkennen, dass schon zuvor die scheinbar exakt synchronisierte Pulsation bereits „gegen unendlich“ nuancierte Abweichungen aufwies, auch wenn möglicherweise das Hören gewohnheitsbedingt davon abstrahiert haben sollte. Obschon rhythmisch und tonal zerfallend, treten die vier Musiker plötzlich doch noch einmal zur durchgehenden Impulskette zusammen (Seite 16). Indem sie alle dieselben vier chromatischen Nachbartöne d, es, e, f in jeweils verschiedener Reihenfolge und Oktavlage spielen, entsteht wieder ein „polyphones Unisono“, bis die Pulsation plötzlich in ein liegendes Unisono e von Bassklarinette und Klavier umschlägt.

Flankiert wird dieses Unisono durch kurze Arco-Akzente des Violoncellos auf dem chromatisch unteren Nebenton dis sowie ebenso kurze Forte-Akzente der Posaune, die in einem langgestreckten Glissando vom chromatisch oberen Nebenton f langsam einen Viertelton tiefer und dann (fortgesetzt auf Seite 17) weiter bis zu einem Achtelton (fünfundzwanzig Cent) höher intonierten e füh­ren. Auf diese Weise wird erneut ein mikrotonal getrübtes Unisono erreicht. Zugleich führen die schrittweise vom Elfsechzehntel- zum Viersechzehntelmetrum verdichteten Forte-Einwürfe von Violoncello und Posaune zur Sechzehntelpulsation zurück. Weist diese Unisono-Repetition zunächst noch belebende mikrotonale Schwankungen so­wie metrische, dynamische und hoquetusartige Wechsel auf, mündet sie schließlich (Seite 18) in eine Passage „toter“ a-metrischer Eins-zu-eins-Repetitionen aller vier Musiker.

Die Negation jeder Veränderung durch fortgesetzte Wiederholungen ein- und desselben Unisono e gibt dem Hörer Gelegenheit, all jene Abweichungen wahrzunehmen, von denen er sonst absieht. Die äußerliche Stillstellung des Geschehens lässt ihn früher oder später einen Perspektivwechsel vollziehen, so dass er hinter der vordergründigen Gleichförmigkeit aller Impulse die Individuali­tät jedes einzelnen Impulses wahrzunehmen beginnt. Un­weigerlich kommt es dabei auch zu Abweichungen vom strikten Puls, zu Atmern, kleinen Aussetzern, quasi-metri­schen Betonungen der Pulse und dynamischen Schwankungen beim ständigen Anstoßen, Anstreichen oder Anschlagen. Alle Abweichungen vom Eins-zu-eins-Norm-Puls (dessen erste beide Takte dreizehn beziehungsweise einundvierzig Sekunden dauern sollen) treten durch die Zurücknahme äußerlicher Varianz wie unter einem Vergrößerungsglas in den Vordergrund. Schließlich fokussiert Spahlinger das Hören auch dadurch auf kleine Irregularitäten, dass er diese durch gegeneinander versetzte Accelerandi und Ritardandi eigens auskomponiert.

„gegen unendlich“ bricht schließlich mit einem Abschnitt ab, der durch flexible Fluktuationen zwischen Kategorien und Strukturen so etwas wie die Quersumme der Tonhöhen- und Pulsationsstrukturen der vorherigen Abschnitte zieht. Mikrotonale Klanglichkeit und Pulsa­tion verbinden sich zu einer punktuellen Textur, in der sich jedes Einzelereignis als einmalige Individualität behauptet und zugleich Teil einer nach vorne und hinten offenen Gesamtordnung ist, die sich gegenüber den vorangegangenen Ordnungen des musikalischen Raum-Zeit-Kontinuums gerade dadurch auszeichnet, dass sie keiner bestimmten Ordnungsvorstellung mehr folgt.17

Öffnung durch Beschränkung

Wie im Anfangsteil von „gegen unendlich“ komponierte Spahlinger im Schlussteil IIb von „furioso“ für Ensemble (1991/1992) eine Folge lang ausgehaltener Bläserklänge in zumeist höchster Lage (Takte 403–475). Anstelle der traditionellen Gestalteinheit Melodie – für Spahlinger „Repräsentant alles Konservativen in der Musik“18 –, die zumeist aus relativ wenig verschiedenen, dafür aber umso öfter wiederholten Tonhöhen in größtenteils einfacher Rhythmik besteht, wollte er das gerade Gegenteil komponieren, nämlich ausschließlich verschiedene Tonhöhen mit immer anderen, oft gegeneinander versetzten und zumeist langen Dauern.19 Durch die Unterschiedlichkeit der Instrumente (Oboe, Es-Klarinette, Sopransaxophon, Pikkolotrompete) provoziert Spahlinger im Verbund mit wechselnden Lagen, Lautstärken, Artikulations- und Dämpfungstechniken differenzierte Ein-, Misch- und Spaltklänge, unfreiwillige Dynamik- und Tonhöhenschwankungen, mikrotonale Schwebungen und Frequenzmodulationen. All das beschwört einen Perspektivwechsel, weg vom herkömmlich gestalthaften Melodie- und Harmonie-Hören hin zur Wahrnehmung all derjenigen Imponderabilien, welche die abstrakte Gestalteinheit „Melodie“ in konkrete Einzelsonoritäten zerfallen lassen (siehe Notenbeispiel unten).

Spahlinger gibt dem Unvorhergesehenen Raum, um die Grenzen des Komponierbaren auszuloten. Den Musikern beginnen vor Anstrengung oder Luftknappheit die quiekend hohen Töne zu flattern, zu schwanken oder gar wegzubrechen. Wie in „gegen unendlich“ geraten die körperlichen Bedingungen der Klangproduktion in den Fokus, welche die herkömmliche Spiel- und Hörpraxis sonst als Störungen ausblendet. So vollzieht sich erneut ein Perspektivwechsel des Hörens, hinter die klingende Oberfläche der Musik zu den konkret körperlichen Voraussetzungen instrumentaler Klangproduktion.

Eine maßgebliche Rolle spielt die physische Anstrengung auch in „nah, getrennt“ für Altblockflöte solo (1992). Im zweiten Teil des (statt der von Spahlinger ursprünglich kalkulierten sechs bis sieben Minuten) rund dreiundzwanzig Minuten dauernden Stücks hat der Spieler elf Seiten lang „so schnell wie möglich“ eine ununterbrochene Folge von Sechzehnteltel-Repetitionen „sempre staccato“ zu blasen. Während quälend langer zehn Minuten erlahmt ihm zwangsläufig die Zunge, so dass es zu Aussetzern und Temposchwankungen kommt. Am Ende soll der Spieler dann „schnell so tief wie möglich einatmen“, um einen Liegeton „so lange wie möglich“ im fünffachen Piano zu halten. Dieses Stillstellen der Musik macht die vorangegangenen Anstrengungen samt Herzklopfen des Spielers als Zittern des Tons bemerkbar. Ähnliches bewirken anschließend langes Einatmen durch das In­strument und der „so lange wie möglich“ auszuhaltende finale Fortissimo-Schlusston des dreigestrichenen es. Die Physis des Spielers prägt sich den Blockflötentönen wie eine Art „Körpertremolo“20 ein, wie Nicolaus A. Huber über die „Muskel-Coda“ seines ein Jahr zuvor entstandenen Ensemblewerks „Mit etwas Ex­tremismus“ (1991) schrieb.

Darüber hinaus verdeutlicht Spahlinger auch in „nah, getrennt“, dass es nach Aufgabe der Akzentmetrik und temperierten Dur-Moll-Tonalität streng genommen „gegen unendlich“ viele verschiedene Tonhöhen und Dauern gibt. Nach einem virtuosen Anfangsteil mit maximalem Ambitus und extremen Lagen-, Dynamik- und Farbwechseln unterschiedlichster erweiterter Spiel- und Klangpraktiken stellen die obligaten Sechzehntelrepeti­tionen des zweiten Teils eine radikale Reduktion dar. Sämtliche Töne bewegen sich im minimalen Umfang vom dreigestrichenen fis bis zu einem um sieben Sechzehnteltöne erhöhten zweigestrichenen gis, was einem um einen Sechzehntelton (12,5 Cent) vertieften zweigestrichenen a entspricht. Die Vielfarbigkeit des ersten Teils degeneriert – schon auf Seite 6 vorbereitet – zu einem starren Ticken, dessen Monotonie die vorangegangene „normale“ neue Musik rückwirkend konterkariert. Innerhalb dieser radikalen Beschränkung nutzt Spahlinger jedoch vierundzwanzig verschiedene sechzehntelteltönige Höhen, die er in der Partitur jeweils mit entsprechender Griffweise und – als Hilfe für den Interpreten – Nummer versieht. Im Rahmen der obligaten Repetitionen sind alle Töne – worauf der Werktitel anspielt – einander bis zur Ununterscheidbarkeit „nah“ und doch zugleich durch ihre „gegen unendlich“ nuancierten Individualitäten voneinander „getrennt“.21

Was im zweiten Teil von „nah, getrennt“ – im Kontrast zum virtuosen ersten Teil – als eine einzige, fortwährend wiederholte Tonhöhe erscheint, erweist sich in Wirklichkeit als eine Fülle verschiedener Tonhöhen. Die äußere Limitierung des musikalischen Raums und der musikalischen Zeit provoziert einen Perspektivwechsel des Hörens, den Spahlinger durch minimale Störelemente zusätzlich befördert, indem er das repetitive Gleichmaß in Gestalt stoßweiser Dynamikwechsel oder längerer Dauern vereinzelt unterbricht. Die Aufmerksamkeit wird so von den traditionellen makrotonalen Kategorien Melodie und Harmonie auf die Wahrnehmung der mikrotonalen Varianz feinster Tonhöhen-, Dauern- und Tempomodifikationen umgelenkt.

Mit Wechseln musikalischer Bezugsebenen arbeitet Spahlinger auch in „doppelt bejaht“ (2009). Statt aus einer fixierten Partitur bestehen diese „etüden für orchester ohne dirigent“ aus vierundzwanzig Konzeptpapieren mit verbalen Angaben, Übersichtsgraphiken und Tonvorratstabellen, auf deren Grundlage die Orchestermusiker selbstständig ohne Dirigent allein durch hörendes Abgleichen und gemeinschaftliches Interagieren prototypische Strukturen der neuen Musik realisieren sollen, wie sie auch in anderen Werken Spahlingers begegnen: poly­temporale Impulsfolgen, mikrotonale Klangbänder, punktuelle Texturen, flirrende Eintonmusiken à la Giacinto Scelsi, Glissando-Komplexe, Geräuschklänge, Klang­far­ben­flächen, et cetera.22 Sofern es den Musikern gelingt, die Strukturen vollständig zu realisieren, teilen sich den Hörern auch die dahinter wirkenden kompositorischen Kategorien unmittelbar mit. Spannend werden diese „etüden“ jedoch erst, wenn die Musiker die geschaffenen Strukturen ab einem gewissen Zeitpunkt bereichern, stören und abwandeln, um sie im Zuge eines gruppendynamischen Entscheidungsprozesses schließlich anhand von drei möglichen „Verzweigungen“ in eine von drei weiteren Klangkonstellationen zu überführen. Die dabei entstehenden Phasen der Unentschiedenheit sind sowohl für die Musiker als auch für die Hörer am spannendsten. Denn in dem Maße, in dem die Musiker den Konflikt zwischen den Kategorien der etablierten Struktur mit den Kategorien der Nachfolgestrukturen gemeinsam austragen, sind auch die Hörer aufgerufen, die Kategorien ihrer jeweiligen Wahr­neh­mungs­per­spektive den veränderten Situationen anzupassen. Insofern handelt es sich bei „doppelt bejaht“ nicht nur um „etüden für orchester ohne dirigent“, sondern in gleichem Maße um Etüden für die Hörer, sich frei von zeitlich-räumlich normierten Perspektivvorgaben sowohl die Wirkungsweise des kybernetisch sich selbst organisierenden Orchesterkollektivs zu erschließen wie auch das von Modellpapier zu Modellpapier wechselnde Kategoriensystem einer von Mal zu Mal spontan aus dem Augenblick heraus entstehenden Klanglichkeit.

(Selbst)Kritisches Hören?

Wie steht es aber um die Erfolgschancen dieser kompositorischen Strategie, mittels auskomponierter Kategorienwechsel auch Perspektivwechsel des Hörens zu provozieren, welche die Wahrnehmung zur Autoreflexion ihrer eigenen Mechanismen veranlasst? Dass dieser Anspruch immerhin nicht ganz abwegig ist, konnten die ausgewählten Werkbeispiele zeigen. Doch wie bei jeder notierten Musik müssen auch bei Spahlingers Partituren erst die Aufführenden und Hörenden erweisen, ob und inwieweit sich diese Strategie wirklich ästhetisch einlöst. Einem vorab über die Idee und Struktur der Werke informierten Hören dürfte sich diese Intention zweifellos eher erschließen als einem unvorbereiteten Hören. Ansonsten ist die Differenz zwischen kompositorischer Intention und perzeptueller Interpretation grundsätzlicher Natur. Schließlich hängt das Gelingen der von Spahlinger intendierten Perspektivwechsel davon ab, inwieweit die Hörer tatsächlich bereit und auch imstande sind, sich von Werk zu Werk das darin jeweils individuell und ausschließlich aus sich selbst heraus begründete Kategoriensystem zu erschließen. Eine allgemeine Erfolgsregel lässt sich demnach schwerlich ableiten.

Schon Nicolaus A. Huber hatte 1972 in seinem ebenso kurzen wie prägnanten Text „Kritisches Komponieren“ festgestellt, dass die Reflexion der Prägungen der Wahrnehmungs- und Verstehensmechanismen nicht primär eine Aufgabe des Komponisten ist, sondern eine Herausforderung an die aktive Reflexionsleistung jedes Hörers. In Anlehnung an das epische Theater Bertolt Brechts wollte Huber die eigentlichen Konflikte und Reflexionsleistungen nicht mehr innerkompositorisch austragen, sondern an das Publikum delegieren. „Kritisches Komponieren“ – so Huber – übernimmt also lediglich eine katalysatorische Funktion, indem es die tonal-archetypischen Wirkungsmechanismen von Musik und Musikhören freilegt und Probleme behandelt, „die den Menschen betreffen, aber sich in Musik widerspiegeln“.23 Damit zeigt sich Hubers Konzept in einem entscheidenden Punkt ambivalent. Denn zum einen ist „kritisches Komponieren“ Mittel zum Zweck kritischen Hörens. Doch zum anderen ist gerade umgekehrt kritisches Hören eine Voraussetzung „kritischen Komponierens“,24 dessen Gelingen vom Erfahrungshorizont und der Bereitschaft, Sensibilität und Konzentration jedes einzelnen Hörers abhängt. Mit der kausalen Umkehrung von Produktions- und Rezeptionsästhetik deutete Huber eine prinzipielle Öffnung dessen an, was unter „kritischer Musik“ zu verstehen ist. Denn unter Umständen führt auch eine Musik zu kritischem Hören beziehungsweise zur Autoreflexion der Bedingungen des Hörens, die selbst nicht kritisch komponiert ist, während kritisches Komponieren dieses Ziel auch verfehlen kann.25

Dem Versuch Spahlingers, Negation als Zeigen eines Zusammenhangs zu praktizieren („Ich nehme etwas auseinander, um zu zeigen, dass es zusammenhängt“26), widerstreitet ferner die immanente Dialektik des Negationsverfahrens, das sich ins Gegenteil verkehrt und zur Emanation eines Positiven weitertreibt. Wenn kritisches Auseinandernehmen des Materials zu neuen übergeordneten Zusammenhängen führt, wird fraglich, ob die Brechung unreflektierter Materialzusammenhänge überhaupt noch nachvollziehbar ist und zur Autoreflexion der Bedingungen des eigenen Hörens von Zusammenhang weitertreiben kann. Schließlich erweist sich nahezu jedes Material durch die Häufigkeit und Unterschiedlichkeit seines Gebrauchs als mehrfach kodiert, so dass es sich in der Fülle seiner historischen, gesellschaftlichen, expressiven, assoziativen und auratischen Besetzungen nicht eindeutig bestimmen lässt. Ist das Material aber polyvalent und nicht eindeutig bestimmbar, so lassen sich seine Besetzungen auch nicht bestimmt negieren: Ohne bestimmte Position keine bestimmte Negation, folglich auch keine autoreflexive Selbstwahrnehmung der mit den Besetzungen des Materials verbundenen Prägungen des Hörens.27

So triftig dieser Einwand ist, wird er durch die zuvor von Huber angedeutete Umkehrung der Kausalität jedoch wieder aufgehoben, wonach bestimmte Negation nicht länger als Voraussetzung eines autoreflexiven Wahr­nehmungsvorgangs zu begreifen ist, sondern umgekehrt als dessen Ergebnis. Weil das Klangmaterial prinzipiell vieldeutig ist und trotz intersubjektiv allgemeiner Vorprägungen von jedem Hörer individuell verschieden wahrgenommen wird, bleibt die Entscheidung über die Wirksamkeit bestimmter Negation letztlich an die subjektive Instanz des jeweils einzelnen Wahrnehmenden mit all seinem individuellen Erleben, Denken, Erinnern, Fühlen und Assoziieren delegiert. Bestimmte Negation ist dann eine kontextuell zur Alltagswirklichkeit und den dispositionell-situativen Voraussetzungen der Perzeption sich verhaltende individuelle Konstitutions- und Refle­xions­leistung jedes einzelnen Rezipienten. Auch Spahlinger ist sich bewusst, dass eine Musik, die durch auskomponierte Perspektivwechsel das autoreflexive Potential des Hörens zu wecken sucht, wesentlich von der Einstellung und dem Wahrnehmungskontext der Hörer abhängig ist: Bestimmte Negation ist ohnmächtig „ohne den erfahrenen, sensibilisierten hörer, ohne die erwartung eines kon­ventionellen und dessen suspendierung, die er ansatzweise bei sich wecken lässt“.28 Allgemeiner formuliert: Musik besteht nicht aus fertigen Werken mit bestimmten fixierten Qualitäten, sondern wird durch den einzelnen Hörer jedes Mal neu als Ergebnis eines komplexen autopoietischen Rezeptionsprozesses konstituiert. In diesem Sinne gilt frei nach Bertolt Brecht: Musik aus – und Text aus – und alle Fragen offen!

1Arnold Schönberg, Harmonielehre (1911), Wien: Universal Edition, siebte Auflage, 1922, 478.

2Arnold Schönberg, „Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke“ (1930/1946), in: derselbe, Stil und Gedanke, herausgegeben von Ivan Vojtech, Frankfurt am Main: Fischer, 1992, 41–42.

3Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, herausgegeben von Josef Häusler, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1996.

4Peter Gülke, „Viel zu tun, oder: Einladung zu offensiver Wissenschaft“, in: Laurenz Lütteken (Herausgeber), Musikwissenschaft: Eine Positionsbestimmung, Kassel: Bärenreiter, 2007, 104.

5Helmut Lachenmann, „Hören ist wehrlos – ohne Hören. Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten“ (1985), in: derselbe, Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, herausgegeben von Josef Häusler, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1996, 117.

6Mathias Spahlinger, „gegen die postmoderne mode. zwölf charakteristika der musik des 20. jahrhunderts“, in: MusikTexte 27, Köln, Januar 1989, 3, Wiederabdruck in: Mit Nachdruck – Texte der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, herausgegeben von Rainer Nonnenmann, Mainz: Schott, Edition Neue Zeitschrift für Musik, 2010, 158.

7Ebenda, 6 (beziehungsweise 167).

8Peter Ablinger, HÖREN hören, Heidelberg 2008: Kehrer.

9Peter Ablinger, „Kopfhören. Notizen über das Wahrnehmen“, in: MusikTexte 124, Köln, Februar 2010, 13–17, hier 13.

10Rainer Nonnenmann, „Die Sackgasse als Ausweg? – Kritisches Komponieren: ein historisches Phänomen?“, in: Musik & Ästhetik, 9. Jahrgang, Heft 36, Oktober 2005, 37–60.

11Mathias Spahlinger, Werkkommentar zu „gegen unendlich“ (1995).

12„alles aus allem entwickeln. mathias spahlinger im gespräch über ,passage/paysage‘ für großes orchester“ mit Reinhard Oehlschlägel, in: MusikTexte 39, Köln April 1991, 28. Zu Beginn von „passage/paysage“ beispielsweise demonstriert Spahlinger die Unmöglichkeit von Synchronität, indem er den zwei initialen Tutti-Akkorden einen einzelnen Klarinettenton wie einen „Patzer“ leicht verfrüht vorausgehen lässt.

13Auf diesen Unschärfebereich der Wahrnehmung verwies am Beispiel einer von Paul Cézanne gezogenen Linie auch Peter Ablinger in seinem ebenfalls in diesem Heft abgedruckten Vortrag „Cézanne und die Musik. Wahrnehmung und ihre Defizite – Musik und Malerei der vergangenen hundertfünfzig Jahre“, 131–136.

14Analog ließe sich im Hinblick auf das von Ablinger angeführte Cézanne-Aquarell „Mühle am Fluss“ feststellen: Innerhalb gegenständlicher Malerei wird nicht gesehen, was tatsächlich ein Bild zeigt, sondern den abgebildeten Gegenstand identifizierend nur zurechtgesehen.

15Spahlinger, Werkkommentar zu „gegen unendlich“ (1995).

16Ebenda.

17Hierzu siehe auch: „Von der schlechten Unendlichkeit. Darmstädter Ferienkurse 2012: Mathias Spahlinger im Gespräch über ,gegen unendlich‘“ mit Mark Barden, Johannes Kreidler und Martin Schüttler, in: MusikTexte 137, Köln, Mai 2013, 19–25.

18Mathias Spahlinger im Gespräch mit dem Verfasser, 19. Juni 2000.

19Vergleiche hierzu und im Folgenden: Rainer Nonnenmann, „,Furie des Verschwindens‘. Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten bestimmter Negation in der Musik anhand von Mathias Spahlingers ,furioso‘ (1991/92)“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, herausgegeben von Günther Wagner, Stuttgart 2001: Metzler, 136–188 (hier 181 und 182), sowie derselbe, „Bestimmte Negation. Anspruch und Wirklichkeit einer umstrittenen Strategie anhand von Spahlingers ,furioso‘“, in: MusikTexte 95, Köln November 2002, 57–69 (hier 66 und 67).

20Nicolaus A. Huber, Werkkommentar (1992) zu „,Mit etwas Extremismus‘ und einer Muskel-Coda“ (1991), in: Derselbe, Durchleuchtungen. Texte zur Musik 1964–1999, herausgegeben von Josef Häusler, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2000, 370.

21Eine vergleichbare Idee verfolgte etwa – wenn auch mit an­deren Mitteln – Nicolaus A. Huber in „dasselbe ist nicht dasselbe“ für kleine Trommel (1978).

22Vergleiche: Rainer Nonnenmann, „Wider den Utopieverlust: Mathias Spahlingers ,doppelt bejaht‘ auf neuen Bahnen“, in: MusikTexte 124, Köln, Februar 2010, 57–63, und derselbe, „,dass etwas Anderes im Anzug ist‘: Mathias Spahlingers individualisierte Orchesterkollektive“, in: Mathias Spahlinger ( = Musik-Konzepte 155), herausgegeben von Ulrich Tadday, München: edition text + kritik, 2012, 47–74 (hier 66 und folgende Seiten).

23Nicolaus A. Huber, Kritisches Komponieren (1972), in: Der­selbe, Durchleuchtungen. Texte zur Musik 1964–1999, he­­rausgegeben von Josef Häusler, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2000, 41.

24Ebenda, 42.

25Vergleiche auch hierzu: Nicolaus A. Huber, Kritisches Komponieren, siehe Anmerkung 23, 48.

26Mathias Spahlinger im Gespräch mit dem Verfasser vom 19. Juni 2000.

27Zu Schwierigkeiten der Anwendung bestimmter Negation auf die Musik und Problemen ihrer damit intendierten autoreflexiven Wirkung vergleiche: Rainer Nonnenmann, „Bestimmte Negation“, siehe Anmerkung 19, 59 und 60, und derselbe, „Was ist Musik? Mathias Spahlingers Konzept des Verstehens von Musik durch provoziertes Nicht-Verstehen“, in: Berührungen – Über das (Nicht-)Verstehen von Neuer Musik ( = Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, Band 52), herausgegeben von Jörn Peter Hiekel, Mainz: Schott, 2012, 97 und 98.

28Mathias Spahlinger, „vorläufiges zu theodor w. adornos musik“, in: Theodor W. Adorno. Der Komponist ( = Musik-Konzepte 63/64), herausgegeben von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München: edition text und Kritik, 26–35 (hier 31).