MusikTexte 141 – Mai 2014, 109–110
Manierismen und Risikobereitschaft
Die Wittener Tage für neue Kammermusik
von Rainer Nonnenmann
Diese Musik zielt auf Rausch und Ekstase – und kreist doch nur im Tempodrom wilder Rasereien. Philippe Manourys rekordverdächtiges „Le temps, mode d’emploi“ nutzt als Antriebsmotor zwei Pianisten, die an ihren Flügeln schalten und Gas geben wie Rennfahrer in schwarz lackierten Formel-Eins-Boliden. Das ohnehin bereits imponierende Drehmoment ihrer zwanzig Finger vervielfacht noch der hinzugeschaltete Turbo von Ircam- und Experimentalstudio-Elektronik. Das phantastische GrauSchumacher Piano Duo galoppiert durch sich selber überholende Läufe, Repetitionen und Glissando-Orgien, als gelte es in vierzig Minuten mehr Töne zu spielen als alle anderen Ensembles in den fünfunddreißig Stücken des Festivals zusammen. Die live-elektronische Vermehrung, klangliche Transformation und räumliche Projektion der beiden Klaviere führt zu einem ins Gigantomanische gesteigerten Klimperkasten, dessen gut geschmiertes Getriebe im Leerlauf verschiedene Filterprozesse hören machen: Klirren der unablässig angeschlagenen Saiten und hochtouriges Pochen der Hämmerchen und Repetitionsmechanik. Bei aller Varianz zwischen clusterartig verdickten Akkorden und zart schwebenden Flageoletts fehlte es jedoch an struktureller Prägnanz und formaler Stringenz. In Erinnerung bleibt letztlich nur ein über die Tastaturen auf und nieder jagendes Riesenarpeggio zweier auf Spitzengeschwindigkeit getunter Spieluhren, die am Ende langsam vertröpfeln: Manierismus pur.
Manoury stand im Zentrum der diesjährigen Wittener Tage für neue Kammermusik, veranstaltet unter der künstlerischen Leitung von Harry Vogt vom Westdeutschen Rundfunk Köln und Kulturforum Witten. Trotz profunder Ausbildung bezeichnete sich der 1952 geborene Franzose im Gespräch mit Cornelia Bittmann als „Autodidakt“ und „Experimentator“. Doch in seiner Musik herrschen bewährtes Handwerk und arrivierter Akademismus. Große gestische Prägnanz und Momenthaftigkeit zeigten immerhin seine vom ensemble recherche packend gespielten „Gestes“ für Streichtrio von 1992. Und auch die vom WDR-Sinfonieorchester unter Leitung von Peter Rundel uraufgeführten „Trauermärsche“ verrieten mit dezenten Anklängen an die „Trauermusik beim Tode Siegfrieds“ aus Wagners „Götterdämmerung“ eine gewisse Geschichts- und Erfahrungstiefe. Klangschön, doch formal wenig elaboriert wirkte dagegen zu nächtlicher Stunde in der Johanniskirche Manourys dreiviertelstündiges Drittes Streichquartett „Melencolia (d’après Dürer)“, dessen schematische Wechsel von Glasharfen-artigen Flageoletts mit Agitato-Läufen und Tremoli mangels eigener struktureller Stimmigkeit von ritualisierenden Zimbel-Schlägen markiert wurden. Wie diese Uraufführung spielte das Arditti Quartett anlässlich seines vierzigjährigen Bestehens vierzehn weitere Novitäten, alle für sich genommen jeweils kleine und auch größere Kostbarkeiten von Birtwistle, Ferneyhough, Haas, Hosokawa, Kurtág, Wolfgang Rihm, Stroppa, Paredes und anderen, die sich bei dieser bis kurz vor Mitternacht gereihten Perlenkette jedoch gegenseitig entwerteten.
An der ins eigene Schaffen eingeschlichenen Routine rüttelte Rebecca Saunders. Ihr „void“ für Schlagzeugduo und Kammerorchester folgt zunächst ihrer bekannten Écriture von impulsiven Attacken mit an- und abschwellenden Klangflächen. Doch der fein äquilibrierte Kontrast eskaliert im zweiten Teil plötzlich zu massiven Schlagwerk-Kaskaden, wildem Stampfen und metallischem Klirren. Die seit Langem in Berlin lebende Engländerin lässt ihr sonstiges Understatement distinguierter Schönklänge fahren zugunsten eigenwilliger Einschreibungen von einem Instrument ins anderen. Direkt bespielte Perkussionsinstrumente versetzen andere Gerätschaften indirekt mit in Schwingung, so dass aus rein instrumentalen Mitteln neuartige Hybride entstehen: Auf Trommeln klappern Holzkugeln, auf Metallplatten zittern Alufolien, auf Pedalpauken sirren Crotales, und in den Schallwellen schwingender Röhrenglocken beginnen wie von Geisterhand Snare Drums zu rasseln. Gewidmet ist das Stück den beiden exzellenten Uraufführungssolisten Christian Dierstein und Dirk Rotbrust zum Dank für „gemeinsame inspirierende Klangsondierungs-Sessions“: Verdienter großer Applaus für solch Risiko zum Neuanfang!
Bemerkenswert vielschichtig erwies sich das vom Freiburger ensemble recherche uraufgeführte „Schwarzmärkte“ von Brice Pauset. Vier klar gegliederte Teile boten Messiaensche Modal-Harmonik, Lachenmannsche Geräusch-Texturen, reduzierte Tonwechsel-Pendel sowie tonlos verstaubte Flötenmelodien. Zudem wurden in Schwarzmarkt-Manier „Biete Moll, suche Dur!“ geräuschhaft verschleierte Akkorde aus Bruckner-Symphonien unter der Hand gehandelt. Nach zunächst per Lautsprecher dezent zugespieltem Klopfen und Klappern kam es im letzten Teil nachgerade zur Explosion des bis dato zentrierten Spiel- und Hörraums. Die Live-Elektronik schleuderte Instrumentalklänge eruptiv durch den Wittener Saalbau und zerhackte Silben aus Oliver Stones Film „Wall Street“ zu unverständlichen Fragmenten, mit denen sich allerdings auch die intendierte Kritik am internationalen Börsen- und Finanzgeschäft pulverisierte. Auf andere Weise verschwiegen gab sich das vom ausgezeichneten Trio Catch uraufgeführte Stück der Römerin Clara Iannotta. Die intensive Spannung der Komposition verdankte sich ebenso der präzisen Artikulation der drei jungen Interpretinnen wie der strukturell und dramaturgisch subtilen Formung. Als Ersatz für ein abgesagtes Stück von Jagoda Szmytka spielte das Trio die kantige „Vertical Time Study I“ von Toshio Hosokawa, 1993 zu einer Zeit entstanden, da sich der japanische Komponist noch nicht ausschließlich auf die Verfertigung kalligraphisch gekräuselter Klangwellen spezialisiert hatte.
Das Klangforum Wien unter Leitung von Emilio Pomàrico setzte seine im Vorjahr begonnene Reihe „Scelsi Revisited“ mit zwei weiteren auf originale Tonbandmitschnitte von Ondiola-Improvisationen Giacinto Scelsis bezogenen Novitäten fort: Michael Pelzels in permanentem Tutti nur Grau-in-Grau-Tönungen schaffendes „Sculture di suono“ und Tristan Murails den Ensembleklang live-elektronisch verflüssigendes „Un Sogno“. Der Initiator des Projekts Uli Fussenegger – Kontrabassist des Ensembles – war zudem mit einer auf Scelsis Tonbändern basierenden elektronischen Komposition sowie mit Martin Siewert, Mike Svoboda und Ernesto Molinari in einer Improvisation zu erleben, bei der die erfahrenen Musiker ihre ungleich größeren Möglichkeiten zugunsten eines typischen Klangbands à la maniera di Scelsi zurückstellten. Ein weiteres Konzert des Klangforums bot Uraufführungen jüngerer Komponisten, darunter „Jetzt mit meiner linken Hand“ der 1977 in Izmir geborenen späteren Brandmüller-, Fedele- und Rihm-Schülerin Zeynep Gedizliog˘lu. Das Stück beginnt mit einem Saxophonsolo in türkischem Gesangsstil über perkussiv-pulsierender Begleitung. Doch mit dem Griff zum Basssaxophon schlägt das melodisch-intonatorisch vertraute Folklore-Idiom abrupt ins Schroffe und Schreiende um, als sei damit auch ein Protest gegen die Autokratie des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdog˘an gemeint.
Während Wolfgang Mitterer in „scan 1“ selbstgenügsam einer domestizierten Ensemble-Virtuosität frönte, ließ der 1979 geborene belgische Komponist und Elektroingenieur Stefan Prins in seinem überfallartigen „I’m your body“ Hochspannungs-Knistern und -Rauschen in schneller Montage mit kurzen Geräuschattacken des verstärkten und um E-Gitarre erweiterten Ensembles auf das Publikum einprasseln. Das elektronische Tosen und Krachen drückte die Hörer förmlich in die Sessel, ließ im weiteren Verlauf aber auch zarte Soloeinlagen und Pausen umso intensiver als frei atmende Momente der Ruhe heraustreten. Das letzte Wort hatten zum Allerweltsklang herabgesunkene Flageoletts im Innenklavier, die nach den lautstarken Blitzlichtgewittern unvermutet wieder ihre verlorene Schönheit entfalteten. In Anbetracht der sonst zuweilen allzu krachledern und eindimensional wirkenden Materialhuberei manch anderer Digital Natives seiner Generation bewies Stefan Prins dialektischen Geist und feines Gespür für ästhetische Wirkung. Mit dieser neuen Qualität lässt sich fortsetzen.