MusikTexte 142 – August 2014, 63–74

Vom Kleinsten zum Größten

Generative Formung aus Keimzellen in Enno Poppes „Herz“, „Tier“, „Wald“ und „Welt“

von Rainer Nonnenmann

Ich glaube, dass auch sehr viel Kunstfertigkeit dazugehört, aus einem Seufzer einen ganzen Roman zu entwickeln.

Enno Poppe1

Seit „Thema mit 840 Variationen“ für Klavier (1993/­1997) komponiert Enno Poppe mit kleinsten Zellen, die er zumeist aus baulichen und spieltechnischen Bedingungen der verwendeten Instrumente ableitet. Angeregt wurde er hierzu durch seine intensive Beschäftigung mit den oft nur minimal variierten Patterns in der Musik von Morton Feldman sowie durch Hanspeter Kyburz. Dieser hatte wie Poppe Komposition bei Gösta Neuwirth an der Hochschule der Künste Berlin studiert und in seinem programmatischen Stück „Cells“ für Saxophon und Ensemble (1993/1994) mit generativen Formungsprozessen aus kleinsten Zellen zu arbeiten begonnen. Ähnlich der Verkettung von Atomen zu Molekülen und ganzen Körpern entwickelte Poppe fortan sowohl durch mikroskopisch präzise als auch systematisch umfassende Abwandlungen aus Keimzellen größere Linien, Texturen, Formteile und komplette Stücke. Mangels anderer Begrifflichkeiten verglich er diese Arbeitsweise mit dem klassischen Prinzip der motivisch-thematischen Arbeit, von der sich seine Partituren jedoch hinsichtlich Verfahren und klingendem Resultat deutlich unterscheiden. Poppe versteht „motivisch-thematische Arbeit“ als ein Material unter anderem, das nicht nur der Klassik verfügbar war, sondern heute neu gedacht werden kann: „Ich habe zunächst angefangen, mit Zellen zu arbeiten, und bin erst später darauf gekommen, dass es vielleicht auch eine Rückbindung an die Tradition gibt. Ich bin jedenfalls nicht hingegangen und habe gesagt: Ich möchte gerne die traditionellen Formen nehmen und gucken, was können die, oder ich nehme die Sonatenform und schreibe dann irgendwie eine andere Art von Sonate. Sondern es verhält sich genau umgekehrt. Ich entwickelte erst die Technik, das Arbeiten mit Zellen, und habe das dann mangels Vokabular nur deshalb motivisch-thematische Arbeit genannt, weil mir kein besseres Wort eingefallen ist. Das war auch als Provokation gemeint, weil es natürlich kein traditionelles motivisch-thematisches Arbeiten ist, sondern etwas anderes.“2

Statt um Motive oder Themen geht es Poppe vielmehr – gemäß einem Begriff Arnold Schönbergs – um eine Art totale „Durchführung“, bei der im Zuge prozessualer Veränderungen größere Zusammenhänge entstehen. Als Ausgangsmotive verwendet er subthematische Elementarereignisse wie Skalen, Repetitionen, Wechselnoten, Vibrati oder Glissandi, die allerdings – dem Kernmaterial einiger Sätze von Beethovens mittleren und späten Streichquartetten durchaus verwandt – ebenso prägnant sind wie rhythmisch-diastematisch durchgestaltete Motive: Das Arbeiten mit Zellen begann damit, dass ich noch während meines Studiums versucht habe, mir Klarheit darüber zu verschaffen, womit ich eigentlich arbeite. Was ist eigentlich der kleinste Baustein? Was könnte eine musikalische Zelle oder ein musikalisches Atom sein? Was ist die kleinstmögliche Einheit, aus der Musik gebaut werden kann? Das erfolgte wirklich aus dem Bedürfnis heraus, mir darüber klar zu werden, womit ich überhaupt arbeite.3 Statt um durchgestaltete Motive ging es Poppe um die Analyse elementaren Basismaterials. Von motivisch-thematischer Arbeit unterscheidet sich dessen Behandlung auch dadurch, dass Poppe die gesetzten Elemente nicht als obligate Bezugspunkte nutzt, auf die er immer wieder zurückgreift, so dass sich deren Substanz in allen Abwandlungen mehr oder minder durchhält. Vielmehr werden nach dem Vorbild des von Brahms und Schönberg favorisierten Prinzips der entwickelnden Variation die verschiedenen Varianten ihrerseits so variiert, dass die Ableitungen sich immer weiter vom Ausgangsmaterial entfernen, bis sie mit diesem kaum oder überhaupt nicht mehr in Verbindung gebracht werden können. Und selbst wenn das Ausgangsmaterial erkennbar bleibt, erscheint es in veränderten Zusammenhängen als etwas anderes. So zeitigen die Ableitungs- und Kombinationsverfahren formal wirksame Prozesse, die nicht zuletzt durch Umschläge von quantitativ zunehmenden Abweichungen in qualitativ neue Situationen größere Abschnitte und Formteile bewirken. Weil die Begriffe „motivisch-thematische Arbeit“, „Durchführung“ und „Variation“ klassische Formbildungen implizieren, ließe sich besser neutral von „generativer Formung“ sprechen.

Diese Bezeichnung ist auch insofern zutreffender, als Poppe nach dem Vorbild des seriellen Denkens auf eine möglichst integrale Durchdringung sämtlicher Details und der Großform einer Komposition zielt. Dazu greift er auch auf prädisponierende Strukturierungsmittel und algorithmische Verfahren zurück. Einerseits handelt es sich um fraktale Reihenbildungen, die eine anfängliche Regel- oder Materialsetzung durch fortgesetzte Selbstähnlichkeit von außen nach innen ins immer Kleinere verzweigen. Andererseits verwendet er rekursive Verfahren, wie etwa die Wachstumsregeln und sogenannten „L-Systeme“ aus dem Buch „The Algorithmic Beauty of Plants“ (1990) des tschechischen Biologen Aristid Lindenmayer, die einfachste Keime und Grundregeln gerade umgekehrt aus dem Inneren heraus ins Große und Komplexe wachsen lassen. In beiden Fällen handelt es sich um Material- und Regelsetzungen, denen von Anfang an eine miniaturhafte Formung zu eigen ist, die auf höherer Ebene erneut zum Stoff für weitere Formungen werden kann. Im Zuge fortgezeugter Selbstähnlichkeit lassen sich so Detail, Struktur und Gesamtverlauf eines Werks generativ auseinander entfalten und auf allen Ebenen sowohl durch verwandtschaftliche Beziehungen als auch variative Diversität miteinander verbinden. Solche Wechselwirkung zwischen Teil und Ganzem macht die traditio­nell komplementär gedachten Pole Form-Materie, Form-Technik und Form-Inhalt zu korrelierenden Bezugsebenen ein und derselben „generativen Formung“.

Poppe löst damit das alte Problem, dass es nach dem Zerfall tonaler Spannungsverläufe in der neuen Musik keine verbindlichen Formtypen mehr gibt, sondern abseits kanonisierter Gattungs- und Formmodelle jedes Stück seinen individuellen Verlauf aus den eigenen Material- und Struktursetzungen entwickeln muss. Im Hinblick auf den Serialismus der fünfziger und das postserielle Klangkomponieren der sechziger Jahre vertrat Theodor W. Adorno bei den Darmstädter Ferienkurse 1965 die Auffassung: „Weil keine Formen mehr sind, muss alles Form werden.“4 Da sich Form in Abhängigkeit vom geformten Material bestimmt, verstand Adorno – wie heute Enno Poppe – Form, Inhalt und Ausdruck als durch einander vermittelt, denn letztlich ist „Form im aktuellen Sinne“ mit der „Totalität der Erscheinung“ der Musik identisch.5 Zugleich birgt die Identität von Formung und Form die Gefahr, dass Form in den materialen Strukturen aufgeht, ohne als eigenständige Gestaltungsebene etwas zur Konstitution des Sinns und Gehalts eines Werks beizutragen. Um dem vorzubeugen, versteht Poppe Form auch als eigengesetzliche Werkdimension: Ganz wichtig ist, dass die Form zu den Dingen gehört, die ich selbst erfinde. Eine Form ist immer auch ein Einfall. Zu einem bestimmten Stück gehört auch eine bestimmte Form. Ich bin extrem daran interessiert, die unterschiedlichsten Arten von Formen zu entwickeln, denn ich glaube, die Art wie man Musik hört und Phänomene wahrnimmt, hängt extrem damit zusammen, welche Form sie haben. Ich habe zum Beispiel eine bestimmte Art von Klang, eine bestimmte Klangidee oder eine Idee von Gestaltbildung, die ich dem Hörer gerne zeigen möchte. Und ich überlege mir dann, wie zeige ich sie ihm. Das gehört zur Form dazu – Dramaturgie müsste man eigentlich sagen. Aber manchmal ist es auch so, dass eine Formidee am Anfang steht und ich schauen muss, welche Klänge passen am besten, damit diese Formidee wirklich klar wird mit Hilfe der Klänge.

Wie schon die Diskussion zu Form und Formung zeigt, läuft die Auseinandersetzung mit Poppes Musik leicht Gefahr, sich vorschnell mit positivistischen Beschreibungen der dabei wirkenden generativen Prozesse zu begnügen, statt auf dieser Grundlage den Versuch zu unternehmen, darüber hinaus auch die für das Hörerlebnis nicht minder wesentliche Ausdrucksdimension und Dramaturgie dieser Musik zu erfassen. Wie letztlich jeder musikwissenschaftliche Erkenntnisversuch hat auch die Beschäftigung mit Poppes Musik die Aufgabe, auf der Grundlage von Notentext und Höreindruck möglichst genau die in den Werken verwendeten Materialien und Abwandlungsprinzipen zu erfassen, um auf philologisch gesicherter Basis durch weiterführende Kontextualisierungen zu analytisch fundierten und argumentativ begründeten Aussagen über den „Sinn“ dieser Musik zu gelangen. Da sich Poppe bisher selber jedoch nicht über Hintergründe, Wirkungsabsichten und Intentionen seiner Werke geäußert hat, gibt es für derlei Deutungsversuche keinerlei Anhaltspunkte. Untersuchungen seiner Musik tendieren daher vielfach zu rein deskriptiv an den prädisponierenden Verfahren und Notentexten klebenden Analysen, gegenüber deren letztlich nichtssagenden, weil rein positivistischen Befunden sich die Interpreta­tion der Wirkungsweise und Bedeutung dieser Musik zugleich spekulativ verselbständigt. Um diesem Dilemma nicht zu verfallen, knüpft die folgende Darstellung von vier seiner Werke für Streicher nicht bei den axiomatischen Setzungen, prästrukturierenden Fraktalen oder Rekursionen an – die Poppe ohnehin bereits in Vorträgen selber beschrieben hat –, sondern auf der ästhetischen Erscheinungs- und Erlebnisebene dieser Musik.

Verflüssigung des Tonraums

Bei „Herz“ für Violoncello (2002) und „Tier“ für Streichquartett (2002) dient ein Skalengang als initiale Keimzelle. Bei „Wald“ für vier Streichquartette (2010) und „Welt“ für großes Streichorchester (2012) sind es Repetitionen derselben Tonhöhe. Die beiden ersten Werke zeigen eine klare genetische Verwandtschaft. Dagegen ist „Welt“ eine Takt für Takt identische Orchestrierung von „Wald“. Zudem sind die beiden zehn Jahre später entstandenen Werke mit den beiden älteren durch ähnliche Formungsprinzipien sowie auf Streichinstrumenten besonders gut realisierbare Glissandi und Mikrointervalle verbunden. In allen vier Werken gestaltet Poppe den musikalischen Raum – exemplarisch für sein gesamtes Schaffen – als prinzipiell unendliches, weil in infinitesimal kleine Zwischentöne unterteilbares Kontinuum. Dank der Verflüssigung des Tonraums zum Zweck von dessen neuer Formung atmet seine Musik – bei aller erfahrungsgesättigten Breite und Tiefe sowie kompositorischen Genauigkeit und strukturellen Vielschichtigkeit – eine wunderbare Freiheit der Erfindung und Wandelbarkeit im Detail und Ganzen: Ich finde es unheimlich interessant mit beweglichen Tonhöhen zu arbeiten, den Ton nicht als etwas Festes zu denken. Ich komme ja selbst vom Klavier und bin irgendwann da­von gelangweilt gewesen, dass ich immer dieselbe Taste quasi wie einen Knopf drücke und immer schon weiß, was für ein Ton rauskommt. Unsere ganze abendländische Musiktheorie basiert ja darauf, dass eine Tonhöhe eine Tonhöhe ist, und die ist immer gleich. Dabei gibt es viele andere Möglichkeiten, das zu denken.

Eine Art „Werkserie“ bilden die genannten vier Streicherkompositionen auch durch die sukzessive Ausweitung ihrer Besetzung vom Solocello über Streichquartett und Quadrupelquartett bis zum großen Streichorchester. Von Stück zu Stück potenziert sich die Anzahl der verfügbaren Saiten, vom anfangs nur auf einer einzigen Saite spielenden Cello zu 4, 16, 64 und schließlich 240 Saiten. Die exponentiell anwachsenden Quantitäten an Spielern, Instrumenten und Saiten führen zu qualitativ anderen Klanglichkeiten, Polyphonien und Dichten sowie – auf wechselnden Bezugsebenen – qualitativ neuen Spielmöglichkeiten und Ordnungsgraden. Poppes typisch einsilbige Titel deuten die Verkettung dieser Werke an: Das Organ „Herz“ steckt im höheren Organismus „Tier“, das seinen komplexen Lebensraum im Biotop „Wald“ findet, der wiederum Teil der ganzen „Welt“ ist. Besonders die Quadratur des Quartetts stellt die Gattung Streichquartett auf eine Metaebene, bei der wahlweise die vier Bratschen der vier Quartette zu einer einzigen Bratschenstimme verschmelzen oder die vier Cellisten ein eigenes Violoncelloquartett bilden. Zudem treten die vier Quartette zu einer übergeordneten Vierstimmigkeit zweiten Grades zusammen, aus der einzelne Stimmen oder Teilquartette umso solistischer herausragen, zumal in der sonst chorisch besetzten Streichorchester-Bearbeitung. Neben den Verhältnissen von Einzelstimmen und Tutti beziehungsweise von Keimzelle und darauf aufbauender generativer Formung wird so der Kompositions- und Formungsprozess als eigentliches Thema der Musik kenntlich.

Auffallend an allen vier Partituren ist die generelle Vorschrift non vibrato. Mit kleinen Strichen zwischen den Notenköpfen notiert Poppe allerdings Glissandolinien, die ausdrücklich „als ausnotierte Vibrati aufzufassen“ sind. Dies präzisierend schreibt er wortgleich in den Partituren von „Herz“ und „Tier“: „Jede einzelne, mit einem Legato-Bogen zusammengefasste Glissando-Stelle ist wie ein einzelner, in sich bewegter Ton zu artikulieren. Daneben sind einige einzelne Töne mit vibr. bezeichnet. Dies sollte deutlich, aber keinesfalls parodistisch, als andere Farbe zu hören sein.“ Sinnverwandt heißt es auch im Vorwort von „Wald“ und „Welt“ über schnell auf- und abfahrende Glissandi: „Diese Aktion soll wie ein vergrößertes, rhythmisch exaktes Vibrato aufgefasst werden.“ Poppe verwendet das konventionelle Vibratospiel nicht als pauschales Espressivo, das sich beliebig über jeden Ton legen lässt, sondern als eine Sonderform stufenlos gleitender Tonhöhen. Indem er Geschwindigkeit, Ambitus, Lautstärke und Artikulation dieser streicherspezifischen Spielweise eigens auskomponiert und nach allen Regeln der Kombinatorik variiert, erscheint das „natür­liche“ Vibrato zwischen zahllosen „künstlichen“ Vibratovarianten nur noch als eine eher unwahrscheinliche Möglichkeit unter vielen anderen, die auf ihre Art ebenso expressiv, gestisch und strukturell sprechend sind.

Anatomie des Vibrato: „Herz“

Keimzelle von „Herz“ für Violoncello (2002) ist eine Viertongruppe, die gleich in den ersten drei Takten Umbildungen gemäß Mechanismen erfährt, die den weiteren Verlauf prägen. Die in Takt 1 p marcato aufsteigende Viertonskala verdankt sich – so Poppes Auskunft am 28. November 2013 bei der ihm gewidmeten Tagung an der Hochschule für Künste Bremen – den Anfangstönen des Schlagers „Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren“, was im Verbund mit der Widmung des Stücks „für Safia“ einen autobiographischen Hintergrund andeutet. Zugleich verschleiert Poppe diese Herkunft bis zur Unkenntlichkeit, indem er den Quartgang direkt mit dem zweiten Ton vierteltönig abwandelt. In Takt 2 erscheint die Viertonskala bereits transponiert, intervallisch gespreizt, dynamisch gesteigert und rhythmisch-metrisch augmentiert. In Takt 3 schlägt die bisherige Erweiterung der Parameter in eine Verengung um, denn die vier Töne reduzieren sich auf die rhythmisch diminuierte und decrescendierende Tonwechselfigur g-fis-g-fis. Von der in den äußeren Tonraum ausgreifenden Erweiterung wechselt das Variationsprinzip zum inneren Tonraum mikrologisch feiner Details. Die Tonwechselfigur wird über die Taktgrenzen hinweg kontinuierlich in Vierergruppen fortgesetzt und dabei permanent verändert: Erstens werden die Tonhöhen vierteltönig modifiziert, zweitens erhalten sie in jeweils anderen Metren verschiedene Dauern, drittens verändert sich ihre Dynamik und viertens changiert die Anstrichstelle des Bogens zwischen ordinario und ponticello.

Durch eine punktierte Viertelpause abgesetzt, hebt das Stück in Takt 10 noch einmal wie zu Beginn mit derselben dreifachen Umwandlung der initialen Viertongruppe an, als würden die ersten neun Takte wiederholt. Doch wie bei Nicolaus A Hubers programmatisch nach Bertolt Brechts Diktum betiteltem „dasselbe ist nicht dasselbe“ für kleine Trommel (1978) ist auch in Poppes Musik dasselbe nie dasselbe. Tatsächlich erscheint die initiale Viertongruppe jetzt einen Ganzton höher sowie rhythmisch minimal verändert im Dreivierteltakt. In Takt 11 wird aus ihrer ursprünglichen Erweiterungsform eine in sich rhythmisch variierte Umspielung des Zentraltons g, die direkt in eine ebenfalls höher transponierte und anders rhythmisierte Tonwechselfigur führt, die ihrerseits bis Takt 18 diverse rhythmische, dynamische, intonatorische und spieltechnische Varianten erfährt. Abermals durch eine Pause abgehoben beginnt in Takt 19 ein dritter Neuansatz der ersten neun Takte mit vier weiteren grundlegenden Neuerungen: Erstens wird die initiale Viertongruppe verkürzt und verlängert, zweitens werden die Tonwechsel sowohl legato als auch glissandierend gespielt, drittens werden Töne mit geringfügig längerer Dauer vibrato gespielt und viertens treten in Takt 26 erstmals Terz-Doppelgriffe auf. Die von Takt zu Takt sowie von neuntaktiger Phrase zu neuntaktiger Phrase angewachsenen Veränderungen erreichen schließlich eine hörbar neue Qualität. Dies unterstreicht in Takt 27 der Umschlag in ein anderes Register.

Wie bei klassisch-romantischen Themenbildungen und Satzeröffnungen mit dem Dreischritt von Phrase, Phrasenfortführung und Abwandlung „exponiert“ Poppe sein Material und dessen Entwicklungsprinzipien in drei Anläufen, um beides anschließend frei zu kombinieren. Im Folgenden erfährt die Tonwechselfigur – ihrerseits eine Reduktion der initialen Viertonzelle – verschiedene rhythmische und intervallische Erweiterungen, so dass virtuose „Kunstvibrati“ entstehen. Das Cello pendelt nicht nur zwischen zwei benachbarten Tonhöhen, sondern gleitet zwischen zunehmend auseinander driftenden Tonhöhen schnell auf und ab. Die Amplituden dieser auskomponierten Vibrati erstrecken sich über Terz und Quinte bis zu Nonen und fast Doppeloktaven. Der Phänomenologe Poppe betrachte das Vibrato wie unter dem Vergrößerungsglas (siehe Notenbeispiel). Er nimmt scheinbar simple Dinge nicht nur pauschal an ihrer Oberfläche in den Blick, sondern zeigt sie mit analytischem Tiefenblick in ihrer eigentlichen Komplexität: „Meine musikalischen Zellen haben immer alle Parameter auf einmal – selbst ein einzelner Ton. Jedes einzelne Atom der Musik ist bereits komplex. Es gibt nichts, was nicht komplex ist.“6

Die extremen Glissando-Ausschläge gehen an die Grenze des Spielbaren und entfalten gerade durch die latente Überforderung des Interpreten eine Intensität, die sich dem Hörer als dramatische Exklamation mitteilt. Zudem ist die Stelle ein gutes Beispiel für das, was Poppe „Veränderungsdichte“ nennt: „Bei der motivisch-thematischen Arbeit finde ich es besonders spannend, dass man wiedererkennen und dass man beobachten kann, wie sich Dinge verändern, wie sich ein Netzwerk von Ähnlichkeiten ergibt. Ich habe damals für mich den Begriff der Veränderungsdichte erfunden. Dabei geht es darum, dass ein Stück mit Blick auf einen Parameter konstant bleibt und auf einem anderen sich stark verändert. All das hat etwas mit Wahrnehmung zu tun, und damit mit Fasslichkeit.“7 In „Herz“ bleibt die Spielweise Vibrato konstant, während sich der Parameter Tonhöhe umso stärker verändert. Der Cellist gerät dadurch auf abenteuerliche Schlingerkurse, die sich trotz aller Veränderungen noch als extrem vergrößerte Vibrati auffassen lassen.

Sämtliche Dynamik-, Tempo-, Klang- und Registerveränderungen haben – abgesehen von einer unglaublichen Varianz im Detail – auch eine formbildende Wirkung, insofern sie bestimmte Abschnitte oder – im Sinne Stockhausens – charakteristische „Momente“ mit einer oder mehreren dominierenden Haupteigenschaften herausbilden. Von Stockhausens Momentform unterscheiden sich Poppes generative Formungen jedoch dadurch, dass sie einen klar gesetzten Anfang und Schluss sowie eine eindeutig gerichtete Dramaturgie haben. In „Herz“ erscheint die Partie des Solisten wie eine einzige, permanent sich wandelnde Linie, in der die Tonhöhen wie in orientalischer, ostasiatischer und insbesondere koreanischer Musik – die Poppe in den neunziger Jahren mit Begeisterung zu hören begann – permanent fluktuieren und in nachfolgende Töne weiterleiten: Ich bin sehr von koreanischer Musik beeinflusst. Dort gibt es die Vorstellung, dass kein Ton gleich sein darf wie der andere, sondern jeder wird als Lebewesen oder Entität aufgefasst, und der Musiker soll sogar die gleiche Tonhöhe, wenn diese wieder kommt, anders intonieren, ein bisschen höher oder tiefer, mit einem anderen Vibrato oder Glissando. Auf die Weise wird Musik viel lebendiger und vielfältiger. Von dieser Beschäftigung mit koreanischer Musik ausgehend habe ich mir im Zusammenhang mit der Arbeit mit Keimzellen die Frage gestellt: Wo ist ein Ton noch ein Ton, und wann wird er zur Gestalt, wenn er zum Beispiel ein Glissando macht oder eine Hin- und Her-Bewegung. Ein Ton mit Vibrato wäre zum Beispiel noch ein Ton, der ein Vibrato hat. Aber was passiert, wenn das Vibrato sehr langsam wird und einen sehr großen Ambitus hat? Ist es dann noch ein einzelner Ton oder ist es schon eine Gestalt? Und wie kriege ich ein Kontinuum hin zwischen einer klar begrenzten atomaren Tonhöhe und diesem bewegten Ton? Da versuche ich, eine sehr große Flexibilität zu bekommen und ein großes Spektrum von ganz verschiedenen Arten, den Ton selbst aufzufassen.

Der für die Kunst und Kultur des arabischen Raums zentrale Begriff des „Ornaments“ trifft gleichwohl auf Poppes Musik nicht zu. Denn im Gegensatz zur Unterscheidung von elementarem Tonsatz und hinzukommender Verzierung – wie sie die traditio­nelle abendländische Musiktheorie vornimmt –, lassen sich in seinen Werken die Bewegungen der Linien nicht von deren Substanz unterscheiden. Schließlich machen alle Vibrationen und Fluktuationen gerade den Kern seiner Musik aus. In diesem Sinne wird auch gleich zu Beginn von „Herz“ die initiale Viertonskala und Wechselnotenfigur ver­­wandelt, erweitert und verkürzt, so dass es von Anfang an keine feste Substanz mehr gibt, die ornamentiert werden könnte. Gleichwohl bleibt diese erste viertönige Setzung durch alle Metamorphosen hindurch als zusammenhangstiftende „Einheit in der Vielheit“ (Hegel) erkennbar: „Ich gehe sehr nah an das Material heran. Wenn ich eine Zelle als Motiv benutze, dann kann ein einfaches Glissando bereits ein Motiv sein. Das heißt, wenn ich 25 Glissandi dieser Art hintereinanderhänge, wird es immer noch wie eine thematische Arbeit klingen. Ich empfinde dies als einen unheimlich interessanten Prozess, weil ich verschiedene solcher kleinen Objekte habe, die ich verschieden zusammenbauen kann – und dennoch entsteht so etwas wie Zusammenhang. Die Ursache hierfür liegt in der hohen Wiedererkennbarkeit meiner Objekte. Daran bin ich besonders interessiert. […] Mir wird immer klarer, dass es nicht um die Menge der Ideen geht, sondern um die Aufmerksamkeit – um die Aufmerksamkeit beim Be­ob­ach­ten.“8

„Herz“ besteht aus drei Formteilen nach dem klassischen Schema schnell-langsam-schnell. Wie in Poppes Zyklus „Speicher“ (2008–2013) verdankt sich diese Dreiteiligkeit möglicherweise einer fraktalen Übertragung der zeitlichen Proportionen der ersten drei Viertongruppen der Takte 1 bis 3 (mit deutlich langsamerer Mittelgruppe) auf die Großform. Die Formteile I und II unterscheiden sich durch einen klaren Tempowechsel, während Teil II nahtlos in Teil III übergeht. Im ersten Teil treiben abgesetzt und „sehr artikuliert“ zu spielende Tonfolgen im Wechsel mit fließenden Glissando- und Legato-Partien in immer höhere Spitzenlagen, bis in Takt 127 der Cellist von der höchsten Saite – auf der er bis dato fast ausschließlich gespielt hat – zur tiefsten Saite wechselt, um das Geschehen darauf im Tempo Viertel = 144 eine weitere Oktave bis zum fis3 emporzuschrauben. Von hieraus erfolgt – zu Beginn des Mittelteils – ein Umschlag ins tiefe Register und viel langsamere Tempo Viertel = 48. (siehe Notenbeispiel). Im Kontrast zu den bisher extrem variablen und forcierten Spielweisen darf das Violoncello nun seinen weichen Bariton-Schmelz entfalten und länger gehaltene Töne auch mit herkömmlichem Vibrato spielen, so dass stellenweise traditionelle Expressivität aufblitzt. Anschließend führt das von Viertel = 60 über 72 sukzessiv bis 90 gesteigerte Tempo bruchlos in den schnellen Schlussteil weiter, der sich – in reprisenartiger Anknüpfung an Teil I – abermals in Höchstlagen versteigt. Nach schroff dissonierenden und bis ins fff gesteigerten Nonen-Doppelgriffen verebbt das Stück endlich mit einer zum absoluten Spitzenton h3 aufsteigenden und zugleich „al niente“ diminuierenden Tonwechselfigur.

Entgegen dem sprechenden Werktitel lässt „Herz“ keinerlei steten Puls erkennen. Stattdessen lebt das Solo­stück von einer außergewöhnlichen Varianz der Rhythmik, Metrik und Artikulation. Anstelle gleichmäßiger Herzschläge zielt Poppe im Gegenteil auf umso größere Wandelbarkeit und Sprunghaftigkeit, für die das Herz als poetisches Symbol für Temperament, Gefühl, Überschwang, Liebe, Ausdruck und Innigkeit ebenfalls steht. Das unterstreichen auch die zahlreichen Ausdrucksanweisungen: espressivo, pesante, sehr aufgeregt und unschön, scherzando, ff ausbrechend, grob, dolce, starr, non vibr., ma molto espressivo. Neben Poppes dezentem Hinweis auf sein Heidelberger Liebeserlebnis zielt der Begriff „Herz“ schließlich auch auf die bei Streichinstrumenten am meisten mit Emotion und Ausdruck verbundene Spielweise des Vibrato. Zwar erscheint diese hochgradig standardisierte Espressivo-Spielweise nur punktuell, doch wird ihr Innenleben durch systematische Variation all ihrer Parameter analytisch nach außen auf den gesamten Tonraum des Cellos vom C über fünf Oktaven bis zum h3 projiziert: Auskomponierte Anatomie am offenen Herzen.

Das Quartett als Vierfüßler: „Tier“

Nach „Herz“ hätte Poppe weiterer Werke problemlos mit anderen Organen betiteln können, mit Lunge, Leber, Magen, Milz, Darm oder Hirn? Zwar sind diese Körperteile weniger poetisch besetzt als Herz, doch im Hinblick auf ihre Beschaffenheit und lebenswichtige Funktionsweise deswegen nicht weniger sprechend. Auch sie hätten mit vielfachen Assoziationen und Analogiebildungen die Materialien, Strukturen und Formungsprinzipien der jeweiligen Stücke erhellen können. Indes schloss Poppe mit „Öl“ (2001–2004), „Salz“ (2005), „Trauben“ (2004/­2005), „Gold“ (2006) und „Brot“ (2007/2013) zunächst eine Serie an, deren Werke verschiedene Stoffe unterschiedlicher Konsistenz, Herkunft und Verwendung im Titel führen. Allerdings war vor „Herz“ bereits „Knochen“ für Ensemble (1999/2000) entstanden, und später folgten weitere Werke mit „körperbetonten“ Titeln: das besetzungstechnisch verwandte „Schweiß“ für Violoncello mit Keyboard (2010) sowie die gegenwärtig noch in Arbeit befindlichen Stücke „Haare“ für Violine solo (2013/2014) und „Fell“ für Schlagzeug solo (2013/2014), deren Titel zugleich konkrete Bauteile des verwendeten Instrumentariums benennen. Einen körperhaften Titel wählte Poppe auch bei „Tier“ für Streichquartett (2002). Der animalische Titel kollidiert mit allem, wofür die Gattung Streichquartett seit ihrer Entstehung Mitte des achtzehnten Jahrhunderts stand und bis heute vielfach weiterhin steht: Geist, Witz, Innovation, Bürgerlichkeit, Humanität, höchste Kunstfertigkeit und jene gepflegte Gesprächs- und Unterhaltungskultur, die Goethe 1829 in einem Brief an Zelter mit seinem berühmten Diktum über das Streichquartett auf den Punkt brachte: „Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten“. Doch Poppe nennt sein Quartett ausgerechnet „Tier“!

Wie bei „Herz“ steht zu Beginn von „Tier“ die klare Setzung eines prägnanten Grundelements (siehe Notenbeispiel): ein fünftöniger Skalengang aus vier aufsteigenden Tönen und einem abfallenden Ton, der den ersten fünf Tönen von „Herz“ gleicht. Wie dort erfährt diese Ausgangszelle sofort verschiedene Rhythmisierungen, Transpositionen, Ausdehnungen und Verkürzungen. „Herz“ erweist sich so als antreibendes Organ des dreieinhalb Monate später vollendeten Schwesterwerks. Tatsächlich nutzte Poppe hier nach eigener Auskunft Material, das er schon für das Cellosolostück generiert, dort aber nicht verwendet hatte. Es entspricht folglich demselben Code und bedingt neben der materialen auch die strukturelle und formale Verwandtschaft beider Stücke. Wie als zitatartige Offenlegung der Parallele zu „Herz“ wird der Skalengang in Takt 1/2 vom solistischen Violoncello gespielt. Die Tonhöhen g-gis-ais-h und (vierteltönig erhöhtes) a werden direkt anschließend zu einer mikrointervallisch und rhythmisch modifizierten Akkordfolge. In den Takten 3 bis 5 wird die Fünftonfolge bei wieder anderen Tonhöhen zu fünf fünfstimmigen Akkorden erweitert (mit Doppelgriffen der ersten Violine), deren Dauern von vier Sechzehnteln sukzessive auf fünf, sechs und sieben Sechzehntel zunehmen. Ganz zu Anfang steht in Takt 1 jedoch eine Kombination aus vier Abwandlungen dieses Fünftonmotivs: schnelles Tonwechsel-Glissando der ersten Violine, fünf Einton-Repetitionen der zweiten Violine, als Initialimpuls ein Bartók-Pizzikato des Violoncellos auf as, das schließlich die Viola nahtlos mit einem glissandierenden Terz-Doppelgriff fortführt. Wie in „Herz“ exponiert Poppe damit nicht nur das Ausgangsmaterial, sondern auch dessen Verarbeitungsprinzipien.

Von einer „Exposition“ im Sinne der klassischen Sonatenform lässt sich dennoch weder bei „Herz“ noch bei „Tier“ sprechen. Zwar bleibt zu Beginn von „Tier“ der Bezug auf das Ausgangsmaterial zunächst erhalten, doch entfernt sich der weitere Verlauf davon immer mehr. Takt 6 entspricht Takt 1 mit einigen transponierten, rhythmisch abgewandelten und umgestellten Elementen. Ferner ist der isolierte Fünftonakkord in Takt 7/8 eine Abspaltung der Akkordfolge der Takte 3–5, deren Augmentationskette er zugleich fortsetzt. Das Bartók-Pizzikato des Cellos am Ende von Takt 8 und die anschließenden Einton-Repetitionen, Wechselnoten- und Doppelgriff-Glissandi der übrigen Streicher greifen sowohl auf Takt 1 zurück als auch auf dessen erste Abwandlung in Takt 6 (wie dort mit fünf Wechseltönen in der ersten Violine statt mit vier wie in Takt 1). Die Prinzipien von Variation und entwickelnder Variation überlagern sich. Zudem beginnt das Cello früher mit dem Skalengang und führt diesen – erneut rhythmisch variiert – bis zum Pizzikato der zweiten Violine am Ende von Takt 9 weiter, dem dritten Rückgriff auf das Ausgangsmaterial und dessen bisherige Abwandlungen. Dem vierten Rückgriff ab Takt 11 folgen in den Takten 12/13 neben dem solistischen Skalengang des Cellos wieder dessen beide Akkordvarianten wie zuvor in den Takten 2 bis 5. Entgegen der ursprünglichen Augmentation der fünfstimmigen Akkorde wird deren Dauer nun von fünf Sechzehntel sukzessive auf vier und drei Sechzehntel verkürzt und erst anschließend ab Takt 15 umso stärker auf zehn und schließlich sogar achtzehn Sechzehntel verlängert. Unterdessen lösen sich die Wechselton-Glissandi und (teils ebenfalls glissandierenden) Pizzikati aus ihrer vorherigen Einbindung in die Anfangskombina­tion.

Im weiteren Verlauf von „Tier“ bleiben die bisher eingeführten Elemente präsent und mehr oder minder erkennbar. Poppes Streichquartett folgt damit dem Ideal materialer Verdichtung, mit dem seit Haydns Opus 33 die Gattung verbunden wird. Zugleich entwickeln einzelne Materialien und Spielweisen ein Eigenleben, das charakteristische Passagen hervortreibt: beispielsweise ab Takt 37 Einton-Repetitionen und ab Takt 100 mikrotonale Doppelgriff-Glissandi. Durch permanente Abwandlung wird der Bezug auf das Ausgangsmaterial nach und nach loser. Schließlich steigen alle vier Stimmen in immer höhere Lagen, bis das Geschehen in den Takten 126/127 schlagartig in einen neuen Zustand umkippt (siehe Notenbeispiel). Der Absturz um fast drei Oktaven auf unisono a (wie in „Herz“) markiert mit dem Wechsel von fortissimo zu piano sowie von Tempo Viertel = 120 zu 54 den Beginn des langsamen Mittelteils.

Auch satztechnisch ereignet sich an dieser Stelle ein Paradigmenwechsel: Der bisherigen Polyphonie folgt ein großes Solo des Violoncellos (bis Takt 147), das die übrigen Streicher nur stellenweise begleiten oder ablösen. Hinzu kommen (ebenfalls wie in „Herz“) längere Liegetöne mit „natürlichem“ Vibrato und ausdrücklichem vibr. dolce, so dass unwillkürlich der Tonfall traditioneller Quartettmusik anklingt. Zugleich begegnen auch hier diverse „künstliche“ Vibrato-Varianten. Indem sich das Tempo der Tonhöhenschwankungen extrem verlangsamt oder beschleunigt, beginnen die Töne wahlweise zu „eiern“ oder wie elektronisch zu sirren. Und indem der Ambitus der Glissandi vom Viertelton bis zur None zunimmt, entstehen anstelle gleichförmiger Vibrationen auch furiose Ausschläge. Rein quantitative Abwandlungen von Intervallgröße und Vibrationsfrequenz bewirken völlig neue Klangqualitäten. Die wilden Gesten und akrobatischen Schlitterkurse erinnern kaum mehr an herkömmliches Vibrato, auch wenn sie daraus erwachsen.

Poppes Variations- und Kombinationskunst zielt mit all ihrer Systematik und präzisen Detailverliebtheit nicht auf direkten affektiven Ausdruck. Dennoch wirken die Linien und Strukturen seiner generativen Formungen stellenweise wie sprechende Gesten. Die zwischen Mikrointervallen und maximalen Ausschlägen variierten Glissandi wirken je nach Richtung, Dynamik, Tempo und Artikulation mal jauchzend, lockend, jaulend, seufzend oder klagend, wie in der an sprachlicher Artikulation orientierten Musik von Salvatore Sciarrino. Zudem teilen sich die kontrastierenden Dichtegrade und Energiezustände als Ruhe- oder Erregungsmomente mit. Auch wenn Poppe nicht auf bestimmte Expressionen zielt, ist für ihn Musik schlechterdings nicht ohne Ausdruck denkbar: Ich bin davon überzeugt, dass es ausdruckslose Musik nicht geben kann, weil es in Musik immer um Ausdruck und energetische Prozesse geht. Ich finde eigentlich quasi den traditionellen Vibratoton vergleichsweise wenig ausdrucksvoll, weil er so herkömmlich ist und man sich darauf verständigt hat: Dieses ist ein Zeichen für Ausdruck. Das interessiert mich am wenigsten. Sondern mich interessiert, aus was welche unterschiedlichen Weisen von Espressivo entstehen können. Ich bin auch selber beim Komponieren quasi ausdrucksvoll, indem ich am Schreibtisch sitze und versuche, alle diese Klänge anzufassen und sie mir vorzustellen in dem, was sie mitteilen. Kunst ist ja immer Kommunikation, die Musik sagt etwas und redet zu Zuhörern nicht mit Begriffen, sondern durch ihre Expressivität. Was mich an Musik immer interessiert ist das Außersprach­liche. Dass etwas ausgedrückt wird, was man mit Worten nicht ausdrücken kann. Wir haben in der Musik so viele Möglichkeiten von kleinen Valeurs, und wir können jedem Ton einen ein bisschen anderen Charakter geben, so wie auch zum Beispiel Mimik unglaublich viel mehr Facetten hat, als Wörter benennen könnten. Und genau diese Flexibilität von Ausdruck interessiert mich. Dazu brauche ich gar keine Geschichte erzählen und auch keine Semantik. Eine verbale Beschreibung wäre immer eine Reduktion.

Der von der Gattung Streichquartett seltsam abstechende Titel „Tier“ könnte auf die geradezu kreatürliche Sprachhaftigkeit vieler Partien dieses Werks anspielen. Ebenfalls könnte ein Vierbeiner gemeint sein, dessen Extremitäten – in Analogie zu den vier unabhängigen Stimmen – ihr Eigenleben führen und zugleich ein und demselben Organismus zu koordinierter Fortbewegung verhelfen: das Streichquartett als Vierfüßler.

Quadratur des Quartetts: „Wald“

In „Wald“ für vier Streichquartette (2009/2010) erweitert Poppe die streng kodifizierte Formation des Streichquartetts durch Vervierfachung zu etwas Neuem. Ähnliches hatte zuvor schon Giacinto Scelsi unternommen, als er sein Quartetto No 3 (1963) und Quartetto No 4 (1964) für ein Vielfaches der Originalbesetzung erweitern ließ, nämlich zu „Ohoi“ für sechzehn Streicher (1966) und „Natura renovatur“ für elf Streicher (1967). Erwähnenswert ist auch Iannis Xenakis’Aroura“ für zwölf Streicher (1971), dessen parabelförmig in unterschiedlichen Geschwindigkeiten netzartig auseinanderstrebende und sich überlagernde Glissandolinien sich wie in Xenakis’ berühmtem Orchesterwerk „Metastaseis“ (1953/1954) mathematischen Prinzipien beziehungsweise stochastischen Modellen verdanken. Aus ähnlichen Gründen wie Xenakis und Scelsi wählte auch Poppe eine erweiterte Streicherbesetzung, deren stufenlose Glissandi, mikrotonale Schwankungen und dichte Clusterbildungen die von ihm intendierte Verflüssigung des Tonraums befördern. Zugleich zielt er auf eine regelrechte Quadratur des Quartetts: „Meine musikalische Forschungsarbeit hat immer mit Maßstäben zu tun, Vergrößerungen und Verkleinerungen. Ich möchte in einer Arbeit zum Thema Streichquartett erstens das Mikroskop nehmen und jeden Musiker mit seinen vier Saiten als Quartett auffassen. Gleichzeitig wird das Ensemble vervierfacht zu einer Art Metasatztechnik. Mit vierundsechzig Saiten.“9 Einerseits bewahrt „Wald“ die Zusammensetzung der vier Streichquartette, die sich auf der Bühne blockweise im Halbkreis dem Publikum zuwenden. Andererseits ermöglichen die insgesamt 4 x 4 = 16 Musiker mit ihren insgesamt vierundsechzig Saiten ganz andere Arten des Zusammenspiels und der Texturbildung.

Das Ausgangsmaterial bilden diesmal Repetitionen, in die sich Glissandi verschiedener Geschwindigkeit, Richtung, Ausdehnung, Kombination und Dichte schieben. Den Anfang machen die vier Bratschen. In der Reihenfolge 4, 1, 2, 3 setzen sie pp mit derselben Tonhöhe c ein, jedoch alle mit anderer Dauer und zu verschiedenen Zählzeiten. Wie im zur selben Zeit entstandenen „Speicher I“ für großes Ensemble (2009/2010) stellt Poppe an den Anfang „das denkbar einfachste Motiv, das ich je benutzt habe: nur einen einzelnen Bratschenton“.10 In „Wald“ überlagern sich die vier Bratschen zu einer einzigen durchlaufenden Einton-Repetition. Scheinbar nur simple Wiederholungen desselben Tons handelt es sich in Wirklichkeit um ein äußerst komplexes zeiträumliches Phänomen. Denn die Folge der Töne schwankt zeitlich und zuckt auch räumlich durch alle vier Quartette auf der Bühne. Das asynchrone Zeit- und multiple Klangraum-Koordinatensystem des weiteren Stückverlaufs erfährt so eine sinnfällige Eröffnung.

Bereits in Takt 2/3 erfolgt die Sprengung des diatonisch-chromatischen Tonraums mittels eines mikrointer­vallisch gespreizten und zudem glissandierenden Clus­ters, der dem glissandierenden Terz-Doppelgriff der Viola zu Beginn von „Tier“ ähnelt und sich im letzten Viertel von „Wald“ zu einem riesigen Tutti-Glissando auswachsen wird. Das Mikroglissando expandiert dort zum Makro­glissando. Wie zuvor die Bratschen setzen nun auch die vier Streichquartette nacheinander in der Folge IV, I, II, III ein. Ihren jeweils ersten Clustereinsatz spielen die Quartette synchron, doch alle weiteren Einsätze laufen auseinander. Als Reaktion auf den ersten asynchronen Cluster von Quartett IV (Takte 4/5) kombiniert die vierte Viola (Takt 6) ihre vorherige Einton-Repetition (jetzt vierteltönig erhöht) mit dem Glissando des Clusters und modifiziert ihr bisheriges sul ponticello zu ordinario und vibrato (Takt 6). Umgekehrt greifen die übrigen Spieler von Quartett IV die vorherige Synchronität des ersten Clusters in Gestalt synchroner Tuttirepetition auf, welche die vier Bratschen zuvor asynchron gespielt hatten. Die spieltechnischen Paradigmen werden vertauscht. Wie in „Herz“ und „Tier“ sind damit nicht nur sämtliche Ausgangsmaterialien des Stücks exponiert, sondern auch die zeitlich-räumlichen Grundprinzipien in allen möglichen Kombinationen: Singularität und Repetition, Punktualität und Kontinuität, Eintönigkeit und Vieltönigkeit, feste und gleitende Tonhöhe, Synchronität und Asynchronität.

Als eine Kombination von Eintönigkeit und Kontinuität setzen ab Takt 13 auf vier Oktaven gespreizte Unisono-Liegetöne ein. Gemäß der obligaten Einsatzfolge IV, I, II, III steigen diese an- und abschwellenden Unisoni von e zu vierteltönig erhöhtem f (Takt 19), g (Takt 22) und vierteltönig erhöhtem g (Takt 23) an. Bei aller Wiederholung des Unisono-Prinzips ereignet sich so zugleich eine klar gerichtete Verschiebung im Tonraum. Zudem verkürzt sich der Abstand der Einsätze von sieben auf vier Takte und schließlich auf einen Takt, so dass sich die beiden letzten Unisoni überlagern und plötzlich etwas völlig anderes entsteht: eine vierteltönige Schwebung zwischen den Quartetten II und III. Die Abfolge isolierter Einzelereignisse führt zu formal wirksamen Einheiten, Zusammenhängen, Kontrasten und weiterführenden Entwicklungen. Und wie hier haben auch sonst minimale Modifikationen in Raum und Zeit komplette Transformationen des klingenden Resultats zur Folge.

Überlappend mit den Unisono-Liegetönen setzen ab Takt 20 die Quartette nach dem Schema IV, I, II, III mit vierstimmigen Texturen ein. Da die letzten beiden Einsätze in Takt 28 fast zeitgleich erfolgen, überlagern sie sich zu neuer Achtstimmigkeit. Diese potenzierte Polyphonie erfasst nach und nach den gesamten Apparat. Eine kombinatorische Neubildung aus Cluster, Glissando und Liegeklang findet sich ab Takt 35 in Quartett II. Es ist ein liegender Akkord, dessen Einzeltöne über die Dauer von drei Takten langsam einen Viertel- beziehungsweise Halbton aufwärts glissandieren. Diesem Glissando mit minimalem Ambitus und maximaler zeitlicher Streckung folgt ab Takt 42 im Rahmen kleiner Soloeinlagen der ersten Violinen das genaue Gegenteil: zeitlich komprimierte und dafür intervallisch ausgreifende Glissandi. Während zuvor die lang gestreckte Tonhöhenveränderung kaum merklich erfolgte, entstehen jetzt durch rhythmische Beschleunigung und intervallische Spreizung derselben Spielweise qualitativ völlig andere impulsive Gesten und je nach Richtungssinn unterschiedliche sprachhafte Intonationskurven.

Im weiteren Verlauf bilden die vier Streichquartette abwechselnd Doppel-, Tripel- und Quadrupel-Quartette sowie Solo- und Tutti-Konstellationen und mehrchörige Gegenüberstellungen. Ab Takt 51 spielen sämtliche sechzehn Einzelstimmen kanonisch dieselben Melodielinien mit jeweils anderer Rhythmisierung, so dass wie in Ligetis „Atmosphères“ eine hyperpolyphone Gesamttextur entsteht. Anschließend bilden blockweise versetzte Einsätze der vier Streichquartette hoquetusartige Wechsel und eine übergeordnete Vierstimmigkeit zweiten Grades. Ab Takt 100 treten die vier Cellisten zu einem eigenen Quartett zusammen, das sich punktuell in einstimmigen Ak­tio­nen trifft (etwa zu Beginn von Takt 103 in der gemeinsamen Ausgangszelle H und vierteltönig erhöhtem H), um sich dann mittels unterschiedlicher Glissandi und Intervallketten zur Vierstimmigkeit aufzufächern. Poppes Quadratur des Quartetts ermöglicht wechselnde Metastrukturen mit teils ungewöhnlichen Kombinationen und Achsenbildungen. Ab Takt 133 reihen sich alle vier Bratschen zu einem einzigen durchgehenden Violasolo, das sich nur in Takt 141 aus einem kurzen Unisono-Schnittpunkt der zweiten und dritten Bratsche zu realer Zweistimmigkeit und in Takt 157 zu kompletter Vierstimmigkeit verzweigt. In Takt 178 springt das durch alle vier Quartette mäandrierende Viola-Solo in die erste Violine von Quartett III, die zunächst solistisch und ab Takt 191 im Duo mit der ersten Violine von Quartett IV – die hier gewissermaßen die Rolle der zweiten Geige übernimmt – das Geschehen dominiert. Und während ab Takt 206 die Quartette II, III und IV pausieren, erscheint Quartett I als Solo-Quartett mit einer Akkordfolge, aus der wiederum die Viola solistisch hervortritt. Je nach Bezugsebene steckt also wie bei einer russischen Puppe ein Solo im Solo und ein Quartett im anderen.

In der Mitte des 557 Takte umfassenden Stücks spielen ab Takt 282 plötzlich alle sechzehn Streicher exakt synchron dieselbe Intervallkette. Angesichts der sonstigen Polyphonie wirkt dieser Einsatz wie ein Unisono, obwohl es sich um achttönige Cluster handelt. Die nachfolgende Passage greift erneut (nach ersten Vorwegnahmen schon ab Takt 133) eine Dreitonfigur auf, bei der das Rahmenintervall der kleinen Terz exakt in der Mitte von einem Dreiviertelton geteilt wird. Hier kristallisiert sich die dem gesamten Stück zugrunde liegende Dreivierteltonskala. Poppe verwendet eine solche Skala in mehreren Stücken, weil sie eine andere Tonalität ohne die für das Dur-Moll-System typischen großen Terzen, reinen Quarten und Quinten bedingt. Dieselbe Dreitonfigur begegnet auch in „Koffer“ für großes Ensemble (2011/2012), „Schrank“ für neun Musiker (1989/2009) und „Speicher“ für großes Ensemble (2008–2013). Die „poppesken“ Titel dieser Werke verdanken sich verschieden dimensionierten Aufbewahrungsmöglichkeiten zunehmend höherer Ordnung und deuten – wie die vier Streicherwerke – die materiale Verwandtschaft dieser Stücke an. In „Wald“ dreht und wendet Poppe aus derselben Dreitonzelle fast zweihundert Takte lang immer wieder neue Varianten und wechselseitig sich überlagernde Melodiebögen.

Erst der Schlussteil ab Takt 449 befreit sich wieder von der obsessiven Dreitonfigur. Verschieden lange Einzel­glissandi verbinden sich dort zu einem durchgehenden Riesenglissando des gesamten Ensembles. Durch permanentes Gleiten aller Stimmen kommt es fortwährend zu Umschichtungen und plötzlich aufleuchtenden Dur- und Sept-Spektralakkorden, die den entstehenden Sog nach oben durch harmonisch-kadenzielle Spannungen verstärken. Die Stimmen und Stimmgruppen schrauben sich durch überlappende Neuansätze wechselseitig so lange aufwärts in schrillste Höhen, bis alle Streicher (einschließlich der Celli bis ais3) unter einem vierteltönig erhöhten h4 als Spitzenton in einen durch immer schnellere Repetitionen rhythmisch belebten und molto vibrato sirrenden bitonalen E/Fis-Dur-Schlussklang münden, der endlich vom fffff schnell al niente decrescendiert. Wie „Herz“ und „Tier“ endet damit auch „Wald“ nach kulminierendem dritten Formteil mit einem abrupt verdämmernden Schluss.

Der Titel „Wald“ beschreibt einen komplexen Lebensraum, in dem unterschiedliche Individuen und Gemeinschaften von Organismen in wechselseitig sich bedingenden Verhältnissen koexistieren. Ebenso agieren die sechzehn Einzelstimmen sowohl autonom in verschiedenen solistischen als auch als Streichquartetten oder reinen Bratschen- und Celloquartetten et cetera in polyphonen und homophonen Texturen wie in unterschiedlichen „Biotopen“. Der dunkle Werktitel meint eben dieses labyrinthische Dickicht ineinander verschlungener Stimmen, die alle solistisch agieren und doch zusammen orchestrale Klangfülle entfalten. Möglicherweise meint „Wald“ aber auch ganz handfest – wie bei „Holz Solo“ für Klarinette oder Fagott (2000/2004) – das Baumaterial der sechzehn Streichinstrumente, die in der Tat viel „Holz“ auf die Bühne bringen.

Biosphärische Weitung: „Welt“

„Welt“ für großes Streichorchester (2010/2011) ist eine Takt für Takt identische Uminstrumentation des kurz zuvor entstandenen „Wald“. Das Nahverhältnis beider Werke klingt bereits in den lediglich durch zwei kleine Lautverschiebungen sich unterscheidenden Titeln an: aus „Wald“ wird „Welt“. Die beiden auffallendsten Unterschiede sind die chorische Besetzung der zuvor solistisch notierten Einzelstimmen sowie die zusätzliche fünfte Stimme der Kontrabässe, die abgesehen von wenigen abweichenden Tonhöhen mit den Celli weitgehend parallel laufen. Indem das Streichorchester analog den vier Quartetten aus vier nebeneinander auf der Bühne plazierten gleich großen Gruppen der Besetzung 4.3.3.3.2 besteht und je vier Solisten möglichst weit vorne sitzen, bleiben die vier Quartette von „Wald“ auch inmitten der orches­tralen Erweiterung von „Welt“ ansatzweise enthalten. Dass Poppe die vier Orchestergruppen als eigene Einheiten versteht, signalisiert auch seine dringende Empfehlung in der Partitur, vor den Tuttiproben erst einmal „mit jeder der vier Orchestergruppen eine dreistündige Einzelprobe durchzuführen“.

Die Ausweitung des Quadrupelquartetts zum Streichorchester dient zum einen spieltechnischen Erleichterungen. Beispielsweise lassen sich vierteltönig intonierte und zusätzlich glissandierende Doppelgriffe statt von einem Spieler viel besser von zwei Spielern mit je einem Glissando realisieren. Zum anderen zielt die chorische Besetzung inklusive Kontrabässen auf eine Erweiterung von Farbpalette und Ambitus sowie auf dichtere Texturen, Cluster, klangliche Massierungen und stärkere Kon­trastbildungen zwischen Soli und Tutti. Beispielsweise wird ab Takt 51 zwischen glissandierenden Tutticlustern die sechzehnstimmige kanonische Passage exakt wie in „Wald“ nur von den sechzehn Solostimmen gespielt, so dass die vormalige Tuttipassage – ohne dass etwas an ihr verändert worden wäre – jetzt durch den größeren Bezugsrahmen des Orchesters plötzlich als eine Solosequenz von viermal vier Solisten erscheint. Dagegen wird das einstige Quartett der vier Cellisten ab Takt 100 zum Quartett von vier solistischen Kontrabässen, die dieselbe Partie eine Oktave tiefer spielen und den Charakter der Stelle dadurch stark verändern.

Die ab Takt 133 von einer Bratsche zur anderen wandernde Melodie wird so lange mit blockhaften Quartett- und Tutti-Einsätzen kontrastiert, bis sich das Verhältnis umkehrt und die Dreitonmotive der Bratschen in die Soloquartette und ab Takt 163 in einzelne Tutti-Orchesterstimmen marcato wandern. Das von den Bratschen immer wieder variierte und fortan in unterschiedlichsten Erweiterungen und Verkürzungen erscheinende Motiv aus kleiner Terz und Dreiviertelton wird auf diese Weise deutlicher herausgestellt als in „Wald“. Mit verschärften Kontrasten von Soli und Tutti arbeitet auch das Violinsolo ab Takt 181 und das Violinduo ab Takt 191. Eine wichtige Rolle spielt die Orchestrierung auch im Schlussabschnitt, wo die ständig an- und abschwellenden Stimmen sich gegenseitig immer höher treiben und mit ihrer chorischen Besetzung einen noch stärkeren Sog entfalten. Der in schrillste Höchstlagen geschraubte Schlussklang verklingt jedoch nicht wie in „Wald“, sondern wird vom Tutti unvermindert fffff molto vibrato gehalten, um urplötzlich in steilem Glissando fast drei Oktaven abzustürzen. Der bis zum Bersten energetisch gespannte Klang erfährt so eine regelrechte Implosion. Poppe unterstreicht damit die Verschiedenheit von „Welt“, indem er die von „Herz“ über „Tier“ und „Wald“ durch alle Schlussabschnitte dieser Werkserie sich erstreckenden finalen Ausgriffe in Höchstlagen abreißen lässt.

Obwohl Takt für Takt identisch, entwickelt das viermal so stark besetzte Orchester gegenüber dem Qua­drupel-Quartett eine ganz andere aufführungspraktische Dynamik und Ausstrahlung. Das zeigt allein schon der Umstand, dass die theoretisch identische Dauer beider Stücke praktisch zu großen Differenzen führt. So benötigten die sechzig Streicher des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks bei der Uraufführung von „Welt“ ganze vier Minuten länger als die Aufführung von „Wald“ durch das Hamburger Ensemble Resonanz. Obwohl durch nichts in der Partitur gerechtfertigt, verschaffte sich der größere Apparat das ihm nötige Mehr an Zeit, als folge er dem physikalischen Gesetz von der Trägheit der Masse. Angesichts der mit neuer Musik gut vertrauten Interpreten wäre es vorschnell, die längere Aufführungsdauer einseitig als interpretatorischen Mangel zu begreifen. Vielmehr liefert sie auch ein Indiz für die künstlerische Intention und Effektivität von Poppes Orchestration. Denn statt wie sonst alle Parameter umfangreichen Abwandlungen zu unterziehen, multipliziert er in diesem Fall lediglich die Anzahl der Spieler und gelangt dennoch zu einer hinsichtlich Massierung, Farbe, Energetik, Spannung sowie Mikro- und Makrozeit anderen Musik. Indem auch hier bloße Quantität in Qualität umschlägt, erweist sich Poppes Uminstrumentation von „Wald“ zu „Welt“ ebenfalls als eine Variante der für sein Schaffen zentralen Idee der generativen Formung beziehungsweise Umformung von Musik.

Im Gegensatz zu „Herz“, „Tier“ und „Wald“, deren Titel alle Organismen zunehmend höherer Ordnungsgrade benennen, meint „Welt“ diejenige Totalität, die Ludwig Wittgenstein in seinem „Tractatus logico-philosophicus“ (1922) mit dem berühmten Anfangssatz definierte: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Die Grenzen dieser Allheit wurden im Zuge wachsender menschlicher Erkenntnismöglichkeiten immer weiter verschoben. Bedeutete Welt zunächst nur die unmittelbare Lebenswelt des Menschen, so weitete sie sich sukzessive zur ganzen Erde, zum Kosmos und schließlich zum Universum. Angesichts dieser Ausdehnung auf das jeweils umfassendste Größte verstand Immanuel Kant unter „Welt“ schließlich nur noch eine regulative Idee der reinen Vernunft, die als Orientierungshilfe zwar ihren Wert habe, der aber keine reale Anschauung entspräche, da Welt weder als Einzelnes noch als Ganzes erfahrbar sei. Dasselbe gilt von Musik im Allgemeinen, die sich nie als Ganzes wahrnehmen lässt, sondern immer nur als Folge zahlloser einzelner Jetzt-Punkte. Dasselbe gilt auch für Poppes Musik, die durch mikrologisch feine Variation kleinster Elementarereignisse jedes Stück als einen eigenen Makrokosmos generiert. Und dasselbe gilt schließlich im Besonderen für Poppes Komposition „Welt“, deren musikalischer Kosmos das Vorgängerwerk „Wald“ umfasst, das seinerseits durch die vierfache Quartettbesetzung das Streichquartett „Tier“ auf eine höhere Stufe stellt, das seinen initialen Lebensimpuls wiederum dem Violoncellostück „Herz“ verdankt.

dasselbe ist nicht dasselbe

Die auskomponierten Vibratovarianten der Streicherkompositionen „Herz“, „Tier“, „Wald“ und „Welt“ finden sich auch in anderen Werke Poppes, nicht zuletzt in seinen Musiktheater- und Vokalwerken, allen voran dem ausschließlich auf Glissandi basierenden Solostück „Wespe“ für Stimme solo (2005). Gleitende und vibrierende Tonhöhen prägen insgesamt Poppes Personalstil. Mit Ausnahme seines frühen „Thema mit 840 Variationen“ (1993/1997) komponierte er bezeichnenderweise nicht für Klavier, dessen distinkte chromatische Skala er lieber durch Keyboards mit mikrotonal verflüssigten Tonhöhen ersetzte. Dass in seiner Musik alles fluktuiert, oszilliert, schwankt, sich wandelt und unaufhörlich fortzeugt, hat etwas Genotypisches. Es entspricht dem Körper und Charakter dieses Musikers, der Art und Weise seines Sprechens, Sich-Bewegens und ebenso impulsiven wie gestisch prägnanten Dirigierens. Immerhin verwies Poppe bei der Bremer Tagung selber auf die leibhafte Haptik seines Komponierens: „Die Musik, die ich schreibe, geht auch immer durch meine Stimme, durch die Hände und meinen Körper.“

Soll sich die Auseinandersetzung mit Poppes Musik nicht auf bloße Beschreibungen ihrer Materialien, Techniken und Verlaufsformen beschränken, sondern auch etwas über deren Ausdrucksgehalt und Wirkung aussagen, so wäre – wie eingangs gefordert – auch nach ihrem „Sinn“ zu fragen. Dieser ist nicht anders zu treffen als durch eine Korrelation von außer- und innermusikalischem Sinn. Obwohl in Poppes Werken durch dasselbe Ausgangsmaterial und das darauf angewandte generative Entwicklungsverfahren alles mit allem zusammenhängt, ist dennoch nichts miteinander identisch. Kein Detail entspricht exakt dem anderen. Oder laut Bertolt Brecht: „dasselbe ist nicht dasselbe“. Vielmehr sind alle Details durch fortwährende Variation individuell verschieden. Diese Varianz in Permanenz macht aus jedem Ton ein unverwechselbar einmaliges und in sich komplex aus verschiedenen Parametern individuell zusammengesetztes Phänomen. Und genau dafür öffnet Poppes Musik Augen und Ohren. Jedes seiner Stücke ist ein eindrückliches künstlerisches Plädoyer für Andersheit, Differenzierung, Wandelbarkeit, Vielfalt, Phantasie und – wie Adorno gesagt hätte – das „Nicht-Identische“. Dabei eignet den variativen Fortzeugungen, Ausfaltungen und Verästelungen etwas Vegetatives, Wachsendes und Organisches, als seien sie der Natur abgelauscht. Und tatsächlich gleichen die verwendeten Fraktale und rekursiven Verfahren den Gesetzmäßigkeiten von Kristall- und Pflanzenwachstum.

Poppes Formungen generieren auf allen Ordnungsebenen Selbstähnlichkeiten, wie bei einem Baum, dessen Stamm sich zur Krone weitet, deren Äste sich in kleinere Zweige teilen, deren Blätter sich in immer feinere Adern auffächern. Den Strukturen des Kleinsten entsprechen die Strukturen des Größten. Und so wie kein Blatt eines Baums dem anderen gleicht, sondern jedes auf der Grundlage desselben genetischen Codes eine minimal andere Ausprägung in Form, Größe, Färbung und Adernstruktur aufweist, ist auch in Poppes Werken nichts mit etwas anderem identisch. Seine Musik appelliert an die Aufmerksamkeit und Sensibilität der Hörer für eben jene kleinen und kleinsten Unterschiede. Der Kernsatz „dasselbe ist nicht dasselbe“ gilt daher nicht nur für seine Musik, sondern richtet sich als Botschaft ebenso an uns Hörer. Denn auch außerhalb der Musik ist kein Ort wie der andere und jeder Tag im Detail unendlich reich und verschieden, weil nichts in der Welt und im Leben sich exakt wiederholt. Diesen Reichtum muss man nur erkennen. Und genau dafür sensibilisiert die Musik von Enno Poppe: Carpe diem!

Beitrag zum musikwissenschaftlichen Symposion „Komponieren als Experiment: Enno Poppe“, das am 28. und 29. November 2013 an der Hochschule der Künste Bremen vom dortigen Atelier Neue Musik im Rahmen der „Bremer Podien“ namentlich von Jörg Birkenkötter und Till Knipper veranstaltet wurde.

1 Enno Poppe, zitiert nach „Aufmerksamkeit und Fasslichkeit. Armin Köhler im Gespräch mit Enno Poppe“, in: Programmbuch der Donaueschinger Musiktage 2013, herausgegeben von der Gesellschaft der Musikfreunde Donaueschingen e.V., Donaueschingen 2013, 55.

2 Enno Poppe, zitiert nach Bernd Künzig, „Enno Poppe – Porträt eines Komponisten als junger Materialist“, Manuskript zur Sendung SWR2 OPER vom 13. Mai 2012.

3 Diese Äußerung von Enno Poppe sowie alle anderen kursiv gesetzten, nicht weiter gekennzeichneten Zitate entstammen einem Gespräch des Autors mit Enno Poppe vom 22. April 2014 in Köln.

4 Theodor W. Adorno: „Form in der Neuen Musik“ ( = Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik Band 10), herausgegeben von Ernst Thomas, Mainz: Schott, 1966, 19.

5 Ebenda, 10 und 19.

6 Enno Poppe, zitiert nach „Aufmerksamkeit und Fasslichkeit“, siehe Anmerkung 1, 58.

7 Ebenda, 57 und folgende Seiten.

8 Enno Poppe, zitiert nach „Aufmerksamkeit und Fasslichkeit“, siehe Anmerkung 1, 60 und 62.

9 musica viva, Saisonbroschüre 2010/­2011, München: Bayerischer Rundfunk, 4.

10Enno Poppe, zitiert nach „Aufmerksamkeit und Fasslichkeit“, siehe Anmerkung 1, 60.