MusikTexte 143 – November 2014, 88

Aufstieg und Stagnation

Ein Porträt des Komponisten und Dirigenten Matthias Pintscher

von Rainer Nonnenmann

Unterrichtet von István Nagy, Giselher Klebe und Manfred Trojahn sowie gefördert mit Preisen, Stipendien, Residenzen und von Persönlichkeiten wie Hans Werner Henze und Pierre Boulez avancierte Matthias Pintscher – 1971 in Marl geboren – schon in jungen Jahren zu einem von etablierten Interpreten international aufgeführten und gut auf CD repräsentierten Komponisten. Der Durchbruch gelang ihm 1997 bei den Salzburger Festspielen mit der Uraufführung seiner „Fünf Orchesterstücke“ durch das Philharmonia Orchestra London unter Leitung von Kent Nagano. Seitdem komponierte er Dutzende Ensemble-, Vokal- und Solostücke sowie drei Musiktheater- und dreißig Orchesterwerke mit und ohne Solisten. Von 2007 bis 2009 wirkte er als Professor für Komposition an der Musikhochschule München. In Paris und New York zu Hause, lehrt er seit 2010 an der New York University. Mit zunehmendem Erfolg dirigiert Pintscher seit den zweitausender Jahren im In- und Ausland auch namhafte Orchester und Ensembles. Seit der Spielzeit 2013/2014 ist er nun künstlerischer Leiter des Ensemble Intercontemporain. Als solcher gastierte er in der Kölner Philharmonie beim Festival „Acht Brücken“. In der aktuellen Spielzeit 2014/2015 widmet ihm das Konzerthaus nun gleich fünf Porträtkonzerte und eine Ausstellung.

Im Mai dirigierte Pintscher im Rahmen des Ligeti-Schwerpunkts beim „Brü­cken“-Festival Ligetis Cello- und Violinkonzert mit den Solisten Pierre Strauch und Jeanne-Marie Conquer, beides Ensemblemitglieder. Während das 1966 für Siegfried Palm komponierte Cellokonzert seine Intensität aus der Qualität jedes einzelnen Tons entfaltet, erweist sich das fünfundzwanzig Jahre später für Saschko Grawriloff entstandene Violinkonzert mit lustvoll ausgesungenem Geigenschmelz, virtuosen Doppelgriffen, Solokadenzen sowie rasenden Presto-Läufen als umso traditionsbewusster und zugleich gebrochener: infolge extremer Tempo- und Farbwechsel sowie harmonikaler Kollisionen von temperierter Stimmung, Mikrointervallen, Naturtönen und schrillen Okarinas. Dagegen konnte die deutsche Erstaufführung von Pintschers Ensemblewerk „Bereshit“ nur abfallen. Die perfekt instrumentierten Atmosphären des Stücks verloren ihre Dichte und Spannung in dem Maße, in dem sie sich flächig ausbreiteten. Obwohl intensiv musiziert, blieb das schattenhafte Tableau langatmig: geschmackvoll ziselierte Oberfläche ohne Tiefe.

Im September gastierte Pintscher zweimal in Köln. Das Lucerne Festival Academy Orchestra dirigierte er mit einem Programm, das er zuvor mit den aus aller Welt stammenden jungen Musikern bei der Sommerakademie im Schweizerischen Luzern einstudiert hatte. Doch statt den hochbegabten Teilnehmern den Horizont der neuen Musik möglichst weit zu öffnen, zeigte das ambitionierte Programm, dass die seit 2004 bestehende Lucerne Festival Academy immer noch weitgehend der Ästhetik ihres Gründers Pierre Boulez verpflichtet ist. Studiert und aufgeführt werden hier vor allem von Boulez geschätzte Komponisten gemäß den interpretatorischen Idealen des von Boulez initiierten Ensemble Intercontemporain, dessen Mitglieder in Luzern als Dozenten wirken. Es wird Zeit, sich von solch stilistischer Selbstverengung zu emanzipieren. Sein Kölner Debüt bestritt das Academy Orchestra mit zwei betont virtuosen Werken: Luciano Berios „Tempi Concertati“ (1958/1959) am Übergang vom seriellen Konstruktivismus zu freieren Musizierformen sowie Helmut Lachenmanns 2005 in Luzern uraufgeführtes, fast dreiviertelstündiges Ensemblewerk „Concertini“.

Demgegenüber verblassten Pintschers „Songs from Solomon’s Garden“, die 2009 auf den zweiten Gesang des alttestamentarischen „Hohelieds der Liebe“ entstanden und jetzt vom kraftvollen Bariton Leigh Melrose vorgetragen wurden. Wie in seinen frühesten Werken schaltet und waltet Pintscher auch hier souverän über sämtliche instrumentatorischen Raffinessen von der Spätromantik bis zur neuen Musik, mit der Folge, dass sich die Expressivität seiner Musik in erster Linie aus bewährten Effekten speist, statt aus strukturellen oder formalen Abenteuern. Bei aller unstrittigen Klangphantasie wirken daher auch seine jüngeren Kompositionen inszeniert, gewollt, veranstaltet. Und letztlich bleiben sie bedeutungslos: schöner Schein, der nichts zu sagen oder zu zeigen hat. Bezeichnenderweise begnügte sich auch die von Stefan Fricke gestaltete Pintscher-Ausstellung im Foyer der Kölner Philharmonie mit eleganter Oberfläche. Mit wenig Information und umso mehr großformativen Photos – gerne auch zusammen mit dem Philharmonie-Intendanten – inszenierte sie den smarten Komponisten-Dirigenten als Top-Modell der zeitgenössischen Musik.

Im zweiten Porträtkonzert spielte das Ensemble Intercontemporain unter Pintschers Leitung Glen Corteses Kammerorchester-Bearbeitung von Mahlers „Das Lied von der Erde“ und Pintschers eigenes „sonic eclipse“ von 2009/2010. Das konzertante Stück wirkt weniger stimmungshaft, dafür aber strukturell dichter und spannender. Gleich zu Beginn lässt der Solotrompeter (brillant Clément Saunier) ein anschwellendes Blasgeräusch in einen knallenden Zungenstoß münden, der sich anschließend im Ensemble zu zitternden Repetitionen und massiven Tutti-Schlägen verdichtet, während sich der Atemzug zu gespannten Klangflächen ausdehnt. Im zweiten Teil wird das Solohorn (phänomenal Jean-Christophe Vervoitte) virtuos in Szene gesetzt, bevor im dritten beide Mitglieder des Pariser Ensembles dialogisierend die übrigen Musiker zu ekstatischen Zuckungen aufpeitschen. Die drei nächsten Kölner Pintscher-Konzerte werden im März 2015 Solo- und Kammermusikwerke präsentieren.

Als Komponist über die Jahre hinweg eher stagnierend, hat Pintscher als Dirigent dagegen einen merklichen Aufschwung getan. Die Berufung zum Leiter des Ensemble Intercontemporain scheint auf ihn regelrecht befreiend gewirkt zu haben. Früher geradezu steif auf Präzision bedacht, ist sein Dirigierstil viel körperlicher, runder, voller, kerniger geworden. Seine Bewegungen beschränken sich nicht mehr nur auf Hände und Arme, sondern kommen auch aus Füßen, Beinen, Hüfte, Rücken. Sein ganzer Leib lebt die Musik, und auch die Augen sind aktiver. Pintschers impulsives Dirigat wirkt wie gelöst vom vormals diktatorisch anmutenden rein rhythmisch-metrischen Schlag. Die Folge ist kein an Unsauberkeit grenzender Rubato-Subjektivismus, sondern eine in Fleisch und Blut übergegangene gestische Prägnanz. Die lässt sich sehen und hören.