MusikTexte 144 – Februar 2015, 110–111

Ein Statement wie ein Faustschlag

Ein Loblied auf den großen Verkannten: Nicolaus A. Huber

von Rainer Nonnenmann

Was für ein Vordenker wäre er, wenn ihm nur jemand folgte! Die von ihm entwickelten Ansätze „Kritisches Komponieren“, „Konzeptionelle Rhythmuskomposition“, „Quantenharmonik“, Komponieren im „Nahbereich“ und auf „körperlichem Grund“ reichen für mehrere Komponisten und Generationen. Was für ein bedeutender Lehrer war er, der sein halbes Leben lang unterrichtete und dennoch keine Schule gebildet hat! Und was für eine Persönlichkeit ist er, heiter, gesellig, mitteilsam, und doch im Gespräch oft kryptisch bis zur Unverständlichkeit! Sein Denken in und über Musik zeugt von scharfem Intellekt und ist zugleich von einer verwinkelten Hintersinnigkeit, die an Eigenbrötlerei grenzt. Statt wie andere einfach irgendwelche Dinge zu behandeln, geht es ihm auf epistemologischer Metaebene um die Bedingungen der Möglichkeit des Erfassens und Besprechens von Dingen. Einen Wesensverwandten findet er in Charles Ives, denn dieser habe Musik nicht nur aus der Musik heraus gedacht, sondern auch von ganz anderen Bereichen des Lebens aus, so wie er selbst versucht, institutionell getrennte Sphären unserer ausdifferenzierten Gesellschaft zusammenzudenken. Wie damals Ives, ist heute er der große Verkannte unter den gegenwärtigen Komponisten. Und so wie die Leistungen des eigensinnigen Amerikaners erst spät international erkannt und geschätzt wurden, bleibt zu wünschen, dereinst werde auch einmal seine Bedeutung als Erneuerer, Experimentator und freier Geist entdeckt und weitergetragen.

Auf den Tag genau, am 15. Dezember, feierte das Ensemble Modern unter Leitung von Ilan Volkov im Mozartsaal der Alten Oper Frankfurt den fünfundsiebzigsten Geburtstag von Nicolaus A. Huber. Das Programm des Porträtkonzerts hatte der Jubilar selbst zusammengestellt aus eigenen Werken sowie Stücken von Ives und Xenakis. Zuvor jedoch holte der Junggebliebene zu einem großen Einführungsmonolog aus, um dem staunenden Publikum erst einmal in einem naturwissenschaftlichen Exkurs seine während der letzten zehn Jahre aus der Quantentheorie abgeleitete „Quantenharmonik“ zu entwickeln. Nachdem Heisenberg mit der Theorie der Unschärferelation festgestellt habe, dass sich Elementarteilchen je nach Beobachtungsmethode entweder materialisiert als Teilchen oder energetisch als Wellen zeigen, sei die Kausalität von Ursache und Wirkung der klassischen Physik zu bloß fluktuierenden Wahrscheinlichkeiten aufgelöst worden. Für die neue Musik folge aus dieser Erkenntnis eine totale Unabhängigkeit der von allen klassischen Musikvorstellungen emanzipierten Töne, die zu jedem Zeitpunkt auftreten sowie unendlich kurz oder lang, hoch oder tief, laut oder leise sein könnten und zusammen radikal nicht-tonale Netze bilden. In Hubers uraufgeführtem, gut zwanzigminütigen Ensemblewerk „L’inframince – extended“ zeigte sich dies in einem ständigen Umschlagen der Vertikale in die Horizontale und umgekehrt. Bei Heisenberg schwanken die Protonen zwischen Teilchen und Welle, bei Huber oszillieren die Ton- und Akkordquanten zwischen Schlag und Linie, Punkt und Fläche, hochenergetischen Fortissimo-Höchstlagen und ausgebrannt wirkenden Hüllkurven tonloser Blasgeräusche.

Der von Marcel Duchamp entlehnte Titel „L’inframince“ meint laut Huber etwas „Hauchdünnes“ oder „Kaum-Wahrnehmbares“, dem auch die Fragen „Wie beeinflusst der Atem der Bläser den Wind, wie das Schwimmen der Fische die Wellen des Meers?“ nachspüren. Typisch für die Höhensicht des im niederbayerischen Passau geborenen Komponisten, erkennt er darin vor allem eine „Methode, um zu entdecken, wo sich etwas entdecken lässt“. Sichtbare Hinweise auf diese äußerst schmale und zugleich doch irgendwie ausgedehnte Dazwischenwelt des „Ungerahmten“ geben im Stück ein schlaffes Garn, das der Schlagzeuger durch Strecken der Hände spannt, sowie die Mittelseite eines Buchs, die der Dirigent mit beiden Handflächen einfasst, um dem Publikum die Dünnheit des Papier als eben jenes Dazwischen zwischen seiner linken und rechten Hand zu präsentieren. Endlich erscheinen in einem Video zwei Frauenaugen, denen das übliche Dazwischen fehlt, nämlich die Nase. Tatsächlich handelt es sich nur um ein rechtes Auge, das vor weißem Hintergrund zu einem künstlichen Augenpaar verdoppelt wurde. Was bedeutet das? Man sieht das Sehen von jemand anderem, und sollte doch sein eigenes Hören hören, um zu entdecken, dass es hier etwas zu entdecken gibt? Schließlich bleibt nur noch ein Auge übrig, das links und rechts von Eiben-Büschen (warum Eiben?) gerahmt wird, die endlich die ganze Leinwand ausfüllen. Das sanfte Schwanken der Büsche verfolgt jetzt das Publikum mit genauso leicht zuckenden Augen, wie sie zuvor das einäugige Augenpaar auf der Leinwand sehen ließ. Das räumliche Dazwischen vorn-hinten wird nun zur Zeitspanne vorher-nachher. Ebenso rhythmisch von zwei Schlägen eingefasst zerreißt schließlich der Schlagzeuger ein blaues Papier (warum blau?) als ginge ein Riss durch Raum und Zeit. In die Mitte des Papiers tritt so ein neues Dazwischen, dessen räumliche und semantische Leere und Offenheit mehr wert ist als alle vorschnellen Antworten. Doch damit nicht genug. Wie so oft bei Huber folgt eine Coda, in diesem Fall „eine Frankfurter Coda“. Ein kurzes Video zeigt die Pianistin Catherine Vickers im Konzertsaal der Frankfurter Musikhochschule, wie sie nach einem Klassenabend ihrer Studenten den Flügel mit resolutem „So!“ schließt: Deckel zu und alle Fragen offen!

Alltagseinschlüsse gibt es auch in Hubers „Music on Canvas“ von 2003. Während sogenannter „Alltags-Intermezzi“ pro­jizieren Lautsprecher die Geräuschkulisse einer sich angeregt unterhaltenden Menschenmenge, schneiden die Schlagzeuger knirschend frisches Gemüse, rennt ein Jogger quer durch den Saal und wird Salat aus Wasserschüsseln gehoben. Zum Fremdkörper wird auch ein plötzlich losbrechender Paukenwirbel, dessen pathetische Anspannung nach Weiterführung, Durchbruch und Lösung drängt, der aber nirgendwohin führt, sondern ebenso schlagartig wieder aussetzt wie er zuvor begann. Hubers Quantenharmonik verfolgt die Strategie, jedes einheitsstiftende Denken und Wahrnehmen zu durchkreuzen, um dem Rezipienten diejenigen antrainierten Reflexe bewusst zu machen, die ihn immer und überall Einheit unterstellen und sogar noch dort aktiv herstellen lassen, wo überhaupt keine Einheit mehr besteht, wie beispielsweise zwischen Wassertröpfeln und Geigentremolo. Die „Alltags-Intermezzi“ treiben folglich Keile in das beim Hören permanent mitwirkende Verkleistern der Klänge und Wahrnehmungseindrücke. Bei seiner Einführung in die musikalische Quantentheorie brachte dies Huber auf die praktische Formel: „mit dem Notenkopf als Teilchen gegen das Teilchen und dessen mögliche Bindekräfte vorgehen“. Seine Komposition „An die Musik“ von 2009 mündet dagegen in minutenlange Schabgeräusche, welche die im Raum verteilten Musiker mit Griffeln beim Abschaben von Notationsfehlern auf Transparentfolien hervorrufen. Die leisen Geräusche sind für sich genommen harmlos, gehen aber als Auflösung der Musik durch ostentative Präparation von deren Aufführungsmaterial ans Eingemachte, so dass sich ein älteres Paar mit den Worten „Nicht nervös werden!“ ermutigen und sich am Ende ein Gequälter mit trotzigem „Buh“ Luft verschaffen musste.

Bei aller Faszination für den erfahrungs- und lebensfernen Mikrokosmos der Elementarteilchen vertritt Huber schon seit Ende seiner 1967 bis 1968 bei Luigi Nono in Venedig absolvierten Lehrzeit die vehemente Überzeugung, dass Tonalität vom Komponisten nicht nur im Material zu brechen sei, sondern ebenso in unserem eigenen Denken, Fühlen, Handeln, Bewegen. Zu Beginn von „Statement zu einem Faustschlag Nonos“ – 1990 im Gedenken an den gerade verstorbenen Lehrer geschrieben und in MusikTexte 35 veröffentlicht – lässt Huber den Pianisten kleine tonale Skalen im Innenklavier äußerst zart zupfen, als wolle er Nono das hartnäckige Überleben der – von diesem Zeit seines Lebens an der Wurzel bekämpften und dennoch nicht auszureißenden – Tonalität demonstrieren. Während einer gemeinsamen Jurysitzung hatte Huber beobachtet, wie der einstige serielle Avantgardist Nono selber Tonalität körperlich verinnerlicht habe, die sich in einer Reihe von tonal rhythmisierten Faustschlägen Bahn gebrochen habe. Eben diese Schläge lässt Huber den Pianisten (Hermann Kretschmar: luzide und kraftvoll) als wuchtige Unterarm-Cluster auf die Tastatur hämmern: Ein Statement wie ein Faustschlag.