MusikTexte 144 – Februar 2015, 111–113

Facettenreiches Kaleidoskop

Bálint András Varga sammelt Streiflichter der neuen Musik

von Rainer Nonnenmann

Am Anfang standen drei Fragen: „Hatten Sie ein Erlebnis, das Ihr musikalisches Denken veränderte? Lassen Sie sich von Klängen Ihrer Umwelt beeinflussen? Inwieweit kann man von einem persönlichen Stil sprechen und wo beginnt die Selbstwiederholung?“ An dreiundsiebzig Komponisten gestellt, ergeben diese drei Fragen nach Adam Riese zweihundertneunzehn Antworten, mitnichten jedoch in diesem Band. Denn manch Befragter reagierte mit Gegenfragen und aspektreichen Antworten, die neue Fragen aufwarfen und weitere Antworten provozierten, so dass sich das kodifizierte Frage-Antwort-Spiel in unterschiedlich umfangreiche Gespräche auflöste. Bálint András Varga weckte mit seinen Fragen eine Fülle grundsätzlicher und persönlicher Überlegungen. Die von ihm gesammelten Reaktionen sind nicht der Weisheit letzter Schluss, aber ein facettenreiches Kaleidoskop des musikalischen Denkens seit Ende der siebziger Jahre. Wie man da hin­einblickt, so schaut es heraus. Der Leser dieser vielen Geschichten von, mit und über Komponisten hat die ja Freiheit, quer zu lesen und sich herauszupicken, was ihn interessiert.

Nachdem Varga bereits Gesprächsbücher mit Lutosławski, Xenakis, Berio und Kurtág veröffentlicht hat, ist sein jüngstes Buch zugleich das mit der ältesten Entstehungsgeschichte. 1941 in Budapest geboren, übernahm der studierte Anglist und Slawist 1971 die Werbeabteilung der Editio Musica Budapest, um sich dort neunzehn Jahre lang für zeitgenössische ungarische Musik einzusetzen. In gleicher Funktion wirkte er ab 1992 bis zur Pensionierung 2007 bei der Universal Edition Wien. Die Verlagstätigkeit brachte Varga mit zahlreichen Komponisten zusammen, denen er seit 1978 seine eingangs zitierten drei Fragen stellte. Das erste Ergebnis war 1986 ein ungarisches Buch mit Antworten von zweiundachtzig überwiegend ungarischen Komponisten. 2011 folgte die amerikanische Edition „Three Questions for Sixty-Five Composers“ unter Verzicht auf etliche ungarische Komponisten von eher lokaler Bedeutung. Die nun erschienene deutschsprachige Übersetzung „Drei Fragen an dreiundsiebzig Komponisten“ ergänzte Varga um Antworten von Komponisten der gegenwärtig mittleren und jüngeren Generation, von denen er allerdings gesteht, nur den wenigsten persönlich begegnet zu sein.

Geblieben sind die Schwerpunkte auf ungarischen und bei der UE verlegten Komponisten. Das weckt den Verdacht, der pensionierte Promotions-Abteilungsleiter könne auch im Ruhestand nicht von seiner Berufung lassen. Gleichwohl ist es vollkommen legitim, eine Auswahl auf der Grundlage des eigenen beruflichen und persönlichen Erfahrungshorizonts zu treffen. Ferner ist es eine lässliche Sünde, dass dabei dieser oder jener Komponist nicht vertreten ist, denn schließlich ist Vollständigkeit unmöglich sowie eine Auswahl unabdingbar und das gute Recht jeden Autors, zumal wenn sie wie hier eine so große Bandbreite verschiedenster Nationalitäten, Stilistiken, Richtungen und Generationen erkennen lässt. Allein die Liste der Altmeister liest sich wie ein „Who Is Who“ der neuen Musik, angefangen bei Babbitt, Berio, Birtwistle, Boulez, Cage, Carter, Cerha, Crumb, Denissow, Henze, Klaus Huber, Kagel, Krenek, Kurtág, Lachenmann, Ligeti, Lutosławski, Nono, Penderecki, Pousseur, Reich, Wolfgang Rihm, Schnebel, Schnittke, Stockhausen, Takemitsu, Tippett, Wolff und Xenakis bis Zender und anderen. Die Optik des Buchs kennt nur einen befremdlich blinden Fleck: Unter den dreiundsiebzig Befragten sind lediglich drei Frauen: Unsuk Chin, Sofia Gubaidulina und Rebecca Saunders. Hier wäre mehr Umsicht und bewusste Setzung angebracht gewesen.

Den Antworten der Komponisten stellt Varga eigene Kommentare voran, in denen er seine Eindrücke von den Künstlerpersönlichkeiten und deren Musik schildert. Mit manchen Komponisten pflegte er jahrzehntelangen vertrauten Umgang, bei anderen blieben die Kontakte eher zufällig und flüchtig. Dementsprechend unterschiedlich gerieten die Einführungen in die verschiedenen Œuvres. Zuweilen beschränkte sich der Zugang auf das Hören von ein oder zwei Compact Discs, so dass man kaum mehr zu lesen bekommt als schnell paraphrasierte Basisdaten und Schilderungen persönlicher Hörerlebnisse. Ohne analytische Fundierung kratzen die Texte nur an der Oberfläche und bleiben manche ungefilterten Einschätzungen bloße Floskeln und unbegründete Behauptungen, wie etwa: „George Benjamin schafft es, Musik zu schreiben, die gleichzeitig neu und bekannt ist.“ Wenn der Autor in der Musik des englischen Komponisten „betörend schöne Stellen“ entdeckt, dann spricht er weniger als Fachmann denn als schwärmender Amateur zu einem Liebhaberpublikum, das der eigentliche Adressat seiner Publikation zu sein scheint. Statt kritisch abgewogener Urteile liest man spontane Impressionen eines Begeisterten, dessen Leidenschaft für neue Musik zwar durchaus ehrlich ist, bei aller glaubhaft gemachten Berührung durch diese Musik es aber kaum versteht, deren Individualität näher zu kommen. Stattdessen gehen dem einstigen Werbefachmann aufwertende Suggestiv-Adjektive allzu leicht von der Hand: Vieles findet er „großartig“, „wichtig“, „bedeutend“, „faszinierend“, „einzigartig“, „neuartig“. Doch was genau an dieser oder jener Musik „fesselnd“, „exquisit“ oder „raffiniert“ sein soll, wird nicht weiter erklärt.

Die Musik von Detlev Glanert findet Varga „großartig instrumentiert, bildhaft, gestenreich, ungemein farbig, lichterfüllt“. Allerdings gesteht er, keine von dessen Opern zu kennen, so dass seine Skizze über den Komponisten leider lückenhaft bleiben müsse. Wie auch bei Enno Poppe entschuldigen etliche weitere Kommentare ihre Unvollständigkeit mit der Erklärung, der Autor habe keines der Werke des Komponisten in Oper oder Konzert erlebt. Diese Offenherzigkeit ist zwar korrekt, vielleicht sogar sympathisch, hilft dem geringen Informationswert etlicher Kommentare aber nicht ab. Manche Komponisten werden mit wenigen Zeilen anmoderiert, andere – wie etwa Georg Friedrich Haas, György Kurtág oder Wolfgang Rihm – erhalten liebevolle Kurzporträts, die den routinierten Konzerteinführungsstil mit tieferen Einblicken übersteigen. Der sachliche Hinweis, während der gesamten Zeit seiner Tätigkeit bei der Universal Edition „für und mit Wolfgang Rihm“ gearbeitet zu haben, entringt sich Varga wie ein Stoßseufzer angesichts der schätzungsweise fünfhundert Werke, mit denen Rihm den Verlag bisher in Atem gehalten hat. Ansonsten zeichnet er schöne Schnappschüsse von Rihm beim Essen und Weinkarten-Studium, Rihm in seinem Karlsruher Arbeitszimmer, Rihm im Museum, Rihm nervös vor einer Uraufführung, Rihm beim Deklamieren eines Textes, Rihm als Vortragender.

Ungleich spannender als Vargas Einleitungstexte sind selbstverständlich die Stellungnahmen der dreiundsiebzig Komponisten selbst. Auch deren Antworten sind unterschiedlich umfangreich und tiefgehend. Doch in jedem Fall handelt es sich um originäre Selbsteinschätzungen, deren Vielstimmigkeit den eigentlichen Wert dieser Publikation ausmacht. Während Cage den Impulsgeber mit wenigen Worten abspeist, schildert dagegen etwa Unsuk Chin detailliert ihren Selbstfindungsprozess mit allen Einflüssen durch Ligeti, Elektronik, Gamelan und Ars subtilior. Ausführliche Antworten und Gespräche lieferten auch Feldman, Lachenmann, Manoury, Xenakis und Manfred Trojahn. Letzterer verstrickte den Fragenden in einen regelrechten Disput, indem er scharfsinnig mögliche Implikationen von dessen Fragen bloßlegt und sich gegen oberflächliche Charakterisierungen wehrt. Gegen seine Festlegung auf das traditionell episch-dramatische Opernmodell kontert Trojahn mit der provokanten Einschätzung, auch Lachenmanns weithin als „Pioniertat“ gefeiertes Musiktheaterwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ sei „nicht mehr als eine auf die Bühne gebrachte programmatische Sinfonische Dichtung“, die sich „der Dramaturgie von Strauss’ ,Tod und Verklärung‘ versichert“. Solch verblüffende und polarisierende Sichtweisen machen – gerade wenn man nicht mit ihnen übereinstimmt – das Buch lesens- und diskutierenswert.

Auch sonst gibt es manche inhaltlich und auch charakterlich aufschlussreiche Trouvaille, etwa bei Earle Brown, dessen Antworten ein gerüttelt Maß an verletzter Eitelkeit erkennen lassen. Im Jahr seiner Antwort 1984 erklärt sich der damals achtundfünfzigjährige Amerikaner kurzerhand zum alleinigen Erfinder „mobiler Partituren“ und wirft Lutosławski besserwisserisch vor, dessen Schlüsselerlebnis sei nicht – wie jener selbst erklärt hatte – Cages „Concert for Piano and Orchestra“ gewesen, sondern die Aufführung von Browns eigenem Orchesterstück „Available Forms I“ 1961 in Darmstadt, was Lutosławski jedoch leichthin mit dem Hinweis entkräftet, niemals in Darmstadt gewesen zu sein. Als Ignorant und Erzreaktionär entpuppt sich Pierre Schaeffer: „Ich entdeckte Bach im Alter von zwölf Jahren. Das war meine einzige musikalische Entdeckung, niemand sonst interessiert mich“, denn bei Bach verschmelzen „der melodische Diskurs und der harmonische Kontrapunkt“, während es jenseits davon keine Musik gebe. Überdies habe die Musik ihren „Höhepunkt“ im achtzehnten Jahrhundert erlebt, während im neunzehnten bereits der „Abstieg“ eingesetzt habe und es später „nur andauernd schlimmer“ geworden sei. Die Invektiven des einstigen Pioniers der Musique concrète gegen die neue Musik im Allgemeinen und im Besonderen gegen seine eigene Musik gipfeln im Bekenntnis: „Ich verabscheue Geräusche. Ich bin ein weltweit anerkannter Geräuschspezialist und hasse sie.“

Arvo Pärts Antwort auf die Frage nach Personalstil und Selbstwiederholung ist insofern interessant, weil gerade er mit seinem „Tintinnabuli-Stil“ wie nur wenige andere während der vergangenen vier Dekaden einen ganz klaren Personalstil herausgebildet und seit 1976 ungebrochen perpetuiert hat. Denn ex negativo liefert er ein Plädoyer für die Selbstwiederholung: „Wenn du aber um jeden Preis versuchst – einfach oberflächlich und aus Angst dich zu wiederholen – etwas Neues zu kreieren, das du gestern noch nicht geschafft hast, wirst du dich trotzdem nicht davor retten können, dass du dich doch wiederholst.“ Ansonsten erweist sich Vargas dritte Frage als am wenigsten ergiebig, weil sie die meisten Komponisten ähnlich beantworten, nämlich dass sie sich nicht wiederholen wollen, es aber dennoch gewisse, konstant bleibende Eigenschaften gebe, die jedoch weniger vom Urheber selbst, als von anderen gehört und beschrieben werden können. Damit sind die Hörer und Leser am Zug, denen ein Personenregister auch einen gezielteren Zugriff auf diesen Band ermöglicht.

Bálint András Varga, Drei Fragen an dreiundsiebzig Komponisten, aus dem Englischen von Barbara Eckle, Regensburg: Con Brio, 2014.