MusikTexte 144 – Februar 2015, 49–56

Zwischen Zentrum und Peripherie

Ideal und Wirklichkeit: Grundsätzliches zum Verhältnis von Musik und Kritik

von Rainer Nonnenmann

Wem die Musik keine Freude macht, der soll kein Kritiker werden, er ist von vornherein ein Philister.

Theodor W. Adorno1

Wann und wieso verhält sich Kritik zur Kunstmusik essentiell oder peripher? Wann gehört Kritik als unabdingbarer Wesensbestandteil zur Kunstmusik, und wann ist Kritik nur ein mehr oder minder unterhaltsamer, wahlweise netter oder fieser, letztlich aber entbehrlicher Zusatz, auf den jeder an Musik Interessierte ebenso verzichten kann wie die Musik selbst? Wenn vom Verhältnis zwischen Kritik und Musik die Rede ist, geht es normalerweise um das teils handfest reale, teils eher hypothetisch unterstellte Kräfteringen zwischen Komponisten und Musikkritikern, wie es sich während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts exemplarisch an zentralen Opponenten wie Richard Wagner und Eduard Hanslick manifestierte: Auf der einen Seite der allmächtige „Kritikerpapst“, dessen einflussreiches Urteil über Wohl und Wehe von Künstlerschicksalen entscheidet und selbst eine von Anhängerscharen auf den Sockel gehobene Größe handstreichartig zu stürzen in der Lage ist; auf der anderen Seite das titanenhaft über jede Kritik erhabene Künstlergenie, dessen visionäre Kraft die kleinlichen Zeitgenossen meilenweit überragt und alle Schreiberlinge und Kritikaster zu insektenhaften „Beckmesser“-Figuren schrumpfen lässt, deren spitze Federn allenfalls niedere Instinkte wie Neid, Missgunst, Ignoranz, Borniertheit und Unkenntnis verraten. Zentraler Streitpunkt im Ringen zwischen Künstler und Kritiker ist stets – nicht nur in dieser historischen Hochphase der ästhetischen Debatte – die Frage der Deutungshoheit: Wer schreibt eigentlich Musikgeschichte beziehungsweise die Geschichten der Musik? Ist es der innovative Komponist mit seinen wegbereitenden und maßstabsetzenden Werken, zu deren Durchsetzung er sich zuweilen auch programmatischer Texte und Selbstkommentare bedient? Oder ist es der bedeutende Kritiker, dessen Urteil durch seinen Zugang zu auflagenstarken Printmedien oder prominenten Sendeplätzen in Hörfunk und Fernsehen die Rezeption beziehungsweise Wert- oder Geringschätzung eines Œuvres nachhaltig beeinflusst?

Das sind spannende und strittige Themen. Im Folgenden geht es jedoch nicht um Machtfragen, sondern darum, ob und inwiefern Kritik und Musik einander wesensnotwendig bedingen und brauchen, gleichsam symbiotisch. Ein Pol dieses komplexen Verhältnisses lässt sich immerhin schnell klären: Ohne Musik ist keine Kritik möglich, sprich: Für Musikkritik ist das Verhältnis zur Musik absolut essentiell. Ungleich schwieriger ist die Frage, inwieweit Musik und zumal Kunstmusik wesentlich auf Musikkritik angewiesen ist. Hilfreich bei der Suche nach Antworten sind die historischen Bedingungen der Entstehung der öffentlichen Musikkritik im Zusammenhang mit dem seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts sich herausbildenden öffentlichen Musikleben. Hilfreich sind ferner einige philosophische Überlegungen, die für das Schreiben und Sprechen über neue Musik relevant sind, was eingehende musikwissenschaftliche Analysen ebenso einschließt wie musikjournalistische Auftragsarbeiten, Konzertbesprechungen, Werkkommentare, Rundfunksendungen, Programmhefttexte, Komponistenporträts et cetera. Denn wer sich Gedanken über das Verhältnis von Kritik und Kunstmusik macht, sollte sich auch Gedanken über Musik als Kunst machen. Und wer sich Gedanken über den Kunstcharakter von Musik macht, muss seinen historischen Horizont weiten und feststellen, dass Musik nicht schon immer und überall als Kunst wahrgenommen wurde, wie wir uns zu unterstellen angewöhnt haben. Schließlich lassen sich aus historischer Distanz erhellende Lehren für die gegenwärtige Situation der Kunstmusik und Musikkritik ziehen, in der hehre Ideale mit vielen Zwängen einer zumeist ­deprimierenden Wirklichkeit kollidieren. Die folgenden grundsätzlichen Überlegungen verdanken sich Einsichten und praktischen Erfahrungen, die der Autor seit dem Jahr 2000 durch seine verschiedenen Tätigkeiten sowohl als Musikwissenschaftler in Forschung, Lehre und Publizistik als auch als Musikjournalist für Zeitschriften, Rundfunkanstalten und seit 2004 bis heute als Musikkritiker für eine Kölner Tageszeitung sammeln konnte.

Schwierigkeiten: Kritiklose Musik(Kritik)

Die Relevanz von Musikkritik korrespondiert stets mit der jeweiligen musikgeschichtlichen Dynamik. Hochphasen der Musikkritik gingen in der Vergangenheit einher mit dem Paradigmenwechsel von der Vokal- zur In­strumentalmusik des klassischen Stils sowie mit den dramatisch sprechenden, formensprengenden und deswegen besonders deutungsbedürftigen Werken Ludwig van Beethovens. Einen Aufschwung erlebte die Musikkritik auch während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durch den Richtungsstreit zwischen Neudeutschen beziehungsweise Wagnerianern auf der einen Seite sowie Klassizisten und Brahminen auf der anderen. Musikkritik gewann offenbar immer dann an Bedeutung, wenn es galt, musikalische Umbrüche oder besonders polarisierende Ansätze und Künstlerpersönlichkeiten durchzusetzen oder zu bekämpfen beziehungsweise aus neutraler Warte zu erklären. Das trifft für die Moderne von Richard Strauss und Gustav Mahler um 1900 ebenso zu wie anschließend für die Zweite Wiener Schule und deren Schritt in die Atonalität sowie für Adornos polarisierende Gegenüberstellung von „Schönberg und der Fortschritt“ versus „Strawinsky und die Reaktion“ und die Darmstädter serielle Avantgarde nach 1950. Inzwischen gehören all diese Ansätze und Debatten jedoch der Vergangenheit an.

Seit den achtziger Jahren lässt sich beobachten, dass zwar weiterhin unendlich viel neue Musik entsteht, es zwischen den unterschiedlichen Werken, Ansätzen, Sparten und Untersparten aber kaum mehr ein Gefälle hinsichtlich Anspruch, Berechtigung und Qualität gibt. Zwischen Hoch- und Subkultur wird infolge eines in allen Medien stark erweiterten Kultur- und Kunstbegriffs kaum mehr unterschieden. Der zuvor vertikal ausdifferenzierte, also wesentlich hierarchisch gedachte Kunst- und Kulturbegriff wich einer horizontal breit gestreuten Vielstimmigkeit, deren unterschiedliche Phänomene als weitgehend gleichrangig angesehen werden. Alles beansprucht nebeneinander das gleiche Recht auf Existenz und Aufmerksamkeit. Die Folge dieser Gleichwertigkeit ist eine grassierende Gleichgültigkeit. Statt über Qualitäten wird nur noch über Quantitäten gestritten. Wo aber nichts mehr herausragt und polarisiert, da verebbt auch die Debatte. Daran ändern auch nichts die gegenwärtigen Diskussionsangebote einiger jüngerer Komponisten wie Patrick Frank, Johannes Kreidler, Martin Schüttler und anderen, die sich in unproduktiven Grabenkämpfen verlieren und entgegen ihrem berechtigten Anliegen, neue Musik wieder stärker in der Gesellschaft zu verankern, sich mit – vor allem auf Selbstprofilierung bedachten – pauschalisierenden Polemiken gegen die neue Musik im Allgemeinen sowie im Besonderen gegen einige von deren herausragenden Vertretern wie etwa Wolfang Rihm oder Helmut Lachenmann faktisch nur an den Inner Circle der neuen Musik wenden. Folglich ernteten diese – oft mehr als Autoren denn als Musiker – wahrgenommenen Künstler auch prompt nur Widerstand aus Fachkreisen, etwa von Musikjournalisten wie Stefan Drees, Frank Hilberg, Bernd Künzig und anderen, die deren Versuchen einer generalisierenden Umdeutung beziehungsweise Abwertung der neuen Musik der letzten vierzig Jahre widersprachen.

Die historisch parallele Entwicklung von öffentlichem Konzertleben und Musikkritik zeigt, dass Musikkritik in dem Maß wahrgenommen wird, in dem das von ihr publizistisch begleitete Musikleben eine große, meinungsbildende Öffentlichkeit erreicht. Heute findet neue Musik jedoch vielerorts nicht von sich aus diese Öffentlichkeit. Vielmehr dient umgekehrt Musikkritik dazu, der neuen Musik diese Öffentlichkeit erst zu verschaffen. Eine Ursache für die mangelnde Wahrnehmung weiter Bereiche der neuen Musik liegt in deren Ausdifferenzierung in zahllose Sparten und Untersparten bis hin zu einzelnen Privatästhetiken von Komponisten, Interpreten, Performern und Klangkünstlern, die sich auf kleine Spezialfestivals und Spielorte der Off-Szene verteilen. Sofern Musikkritik dieser fortschreitenden Zersplitterung und der damit verbundenen Marginalisierung entgegen zu wirken versucht, indem sie neue Initiativen, Veranstaltungen, Ensembles, Komponisten, Interpreten und Werke einer mög­lichst großen Öffentlichkeit publik macht, geht dies zumeist auf Kosten der Kritik. An die Stelle fundierter Auseinandersetzung mit einem Phänomen, wie sie Qualitätsjournalismus und Musikwissenschaft gleichermaßen voraussetzen, tritt schnell und oberflächlich zusammengesuchte sowie kritiklos weitergegebene Informa­tion, die sich oft genug von Werbung und Talk kaum unterscheidet. Unkritischer Musikjournalismus, der sich auf Allerweltsdesinformationen, Gemeinplätze, Phraseologien und gedankenlose Leerformeln beschränkt, ist keine eigene Stimme und Instanz, die gehört zu werden verdient, sondern nur noch der verlängerte Arm von Partialinteressen der am Musikleben beteiligten Veranstalter, Produzenten, Verlage, Verbände, Institutionen, Agenturen, Komponisten, Ensembles und Interpreten. Folglich erfährt nicht die qualitativ bedeutendste Musik die ihr gebührende Aufmerksamkeit, sondern die am aggressivsten beworbene „Produktpalette“ der finanziell potentesten Veranstalter mit der schlagkräftigsten Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie der am lautstärksten und eloquentesten sich selber Präsenz in der Öffentlichkeit verschaffende Netzwerker. Unter Musikveranstaltern und – besonders erschreckend – selbst bei einigen Musikjournalisten hat sich längst das Missverständnis eingeschlichen, Musikberichterstattung diene primär der Multiplikation der Image-, Marketing- und Selbstdarstellungsstrategien von Agenturen und Veranstaltern, während man echte Kritik für geschäftsschädigend hält.

Fundierte kritische Rezeption und Interpretation von Musik findet – das zeigen Beobachtungen aus der Praxis des Autors der letzten Jahre – zunehmend unter Ausschluss der breiten Öffentlichkeit statt. Das liegt sowohl an der weitestgehend unkritischen Musikkritik selbst als auch daran, dass Tageszeitungen kaum mehr für fundierte Kritik zur Verfügung stehen. Qualitätsjournalismus macht viel Arbeit, braucht Zeit und kostet dementsprechend Geld. Beides aber fehlt und wird immer knapper. Denn die wirtschaftlich unter Druck stehenden Verlage beantworten die seit Jahren rückläufigen Auflagen und Werbeeinnahmen ihrer Zeitungen mit drastischen Kürzungen, vor allem im Minderheitensektor der Kunst- und Kulturberichterstattung. Es werden Redakteursstellen abgebaut, weniger freie Musikjournalisten beschäftigt und dieselben Artikel im Medienverbund mehrerer Zeitungen veröffentlicht oder möglichst günstig von Presseagenturen eingekauft. Immer weniger Autoren sollen immer mehr machen. Und die zwangsläufig bei den Autoren anschwellende Durchlaufmenge führt notwendigerweise zu abnehmender Durchdringung, Qualität und Diversität. Nach Wunsch der Chefredaktionen sollen die verbliebenen Musikredakteure alles selber machen, was zeitlich und fachlich unmöglich ist, so dass über viele Veranstaltungen nicht mehr berichtet wird. In regelmäßigen Abständen erscheinende CD-Seiten mit Besprechungen von Neuerscheinungen dürfen nur noch „kostenneutral“ erstellt werden, das heißt nicht mehr durch (wenn auch noch so spärlich) honorierte freie Mitarbeiter, sondern nur noch durch hauseigen beschäftigtes Personal. Zudem werden Konzertkritiken mehr und mehr durch Vorankündigungen und Künstlerinterviews verdrängt, wann welche Stargeigerin mit welchem Programm in der Stadt gastiert. Selbst noch so respektvoll geäußerte Kritik ist bei dieser Textgattung wenig opportun, zumal dann nicht, wenn das entsprechende Verlagshaus auch noch geschäftlich oder personell mit Veranstaltern, Kuratorien, Stadtmarketing oder Ticketing verflochten ist. Schließlich tritt an die Stelle lokaler und regio­naler Kulturberichterstattung vielfach ein unverbindliches Feuilleton mit mehr oder minder kulturaffinen Themen aus Live-Style, Mode, Politik, Küche, Keller, Wein, Showbiz, Personality, Klatsch und Tratsch. Dafür interessieren sich angeblich alle Leser und nicht nur die paar Kulturfreaks, die beim Verkauf der Zeitung ohnehin kaum zu Buche schlagen.

Neue Musik und Kritik geraten in einen fatalen Abwärtsstrudel: Je weniger die Medien fundiert über neue Musik berichten, desto weniger Öffentlichkeit findet diese, desto weniger wird sie von Publikum, Veranstaltern, Geldgebern und Medien für relevant gehalten, desto weniger scheint sie wert, desto weniger wird über sie berichtet, desto weniger Präsenz im gesellschaftlichen Diskurs hat sie, desto weniger Interesse erfährt sie … und so weiter. Die Rolltreppe abwärts in die Bedeutungslosigkeit wird zusätzlich angetrieben durch den Umstand, dass nicht nur in Hörfunk und Fernsehen, sondern längst auch in der Kulturberichterstattung von Tageszeitungen und Internetportalen das Quotendenken um sich gegriffen hat. Die Relevanz eines Ereignisses wird nicht mehr primär nach dessen eigener Bedeutung, Qualität oder Einmaligkeit bemessen, sondern nach Größe und Prominenz der Veranstaltung beziehungsweise danach, wie viel Publikum diese erwartungsgemäß erreichen wird. Statt Qualität gibt bloße Quantität den Ausschlag. Zwar wird in Tageszeitun­gen weiterhin einigermaßen flächendeckend über Premieren und Konzerte großer Opernhäuser und Philharmonien berichtet, immer seltener jedoch über Veranstaltungen der freien Szene in kleineren Spielstätten, Clubs, Kulturzentren, Lofts und Kirchen. Sollte ausnahmsweise doch einmal von dort berichtet werden, dann geschieht dies zumeist nicht im Feuilleton oder Kulturressort des Mantelteils einer Zeitung, sondern unter ferner liefen in Mischrubriken wie „Lokales“ oder „Stadtteile“. Jenseits des Mainstreams verlieren so ausgerechnet Nischen- und Minderheitenprogramme ihre mediale Öffentlichkeit, derer gerade diese besonders bedürfen.

In Umfang, Reflexionsniveau und analytischer Durchdringung substantielle Musikkritik wird seit Jahren aus den traditionellen Medien verdrängt. Während dort das Totschweigen von Kunst und Kultur grassiert, verlagert sich kritisches Schreiben und Sprechen über Musik und speziell neue Musik auf Fachzeitschriften sowie bestimmte Sendeplätze im Radio oder besondere Internet-Foren, die anstelle des Breitenpublikums nur noch bestimmte Interessengruppen ansprechen. Der stilistischen Ausdifferenzierung des Musiklebens korrespondiert auf diese Weise eine Ausdifferenzierung der Musikkritik in unterschiedliche Erscheinungsformen und Medien. Von den traditionellen Medien – einst zentrale In­strumente der Meinungsbildung – zunehmend ausgeschlossen, verschwindet Musikkritik sukzessive aus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sie wird damit ebenso peripher und marginal wie die von ihr besprochene Kunstmusik, die wie alles vom herrschenden Massengeschmack Abweichende nicht die „Mitte“ oder das Gros der Gesellschaft erreicht, sondern zwangsläufig ein Minderheitenphänomen bleibt. In ihrer öffentlichen Erscheinungsform und Wahrnehmung an den Rand gedrängt, bleibt indes das Verhältnis von Kritik und Kunstmusik der Sache nach gleichwohl essentiell. Das lehrt die Geschichte der Musikkritik der letzten zweihundertfünfzig Jahre.

Schwestern im Geiste: Musik und Musikkritik

Wie noch heute in einigen Kulturen war Musik auch in Europa Jahrhunderte lang verschiedenen usuellen und rituellen Zusammenhängen unterworfen. Selbst Musik jenseits von Unterhaltung und Tanz, die ihrer Faktur nach einen klaren Kunstanspruch erhob, hatte primär eine dienende Rolle: Entweder diente sie in der Kirche der Verkündigung von Gottes Wort oder bei Hofe der Repräsentation fürstlicher Macht. In liturgische beziehungsweise klerikale und feudale Funktionen eingebunden, war Musik nur eingeschränkt öffentlich. Und ihr Kunstcharakter stand nur bedingt zur Diskussion, weil sie stets in Kontexten aufgeführt und wahrgenommen wurde, in denen sie weniger nach ästhetischen Kriterien bestellt, bezahlt und bewertet wurde, sondern danach, wie sie die ihr von Kirche und Hof abverlangten Aufgaben erfüllte oder nicht. In diesem Rahmen war Kritik, die auf den Kunstcharakter von Musik abzielte, schlicht fehl am Platz. Und folglich existierte auch kein öffentliches Bedürfnis nach Kritik.

Gleichwohl gab es zu allen Zeiten Tendenzen des Komponierens, sich gegenüber außermusikalischen Belangen zu emanzipieren: das gilt für die Ars nova und Ars subtilior des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts ebenso wie für die Vokalpolyphonie der Renaissance, die Fugenkunst des Barock und erst recht für die Klassik und alle nachfolgenden Epochen. Bezeichnenderweise erschienen Musikkritiken in nennenswerter Quantität und Qualität erst in dem Moment, in dem sich ein vom Bürgertum getragenes öffentliches Musikleben entwickelte. Die zunehmenden Veranstaltungen öffentlicher Konzerte und das anwachsende allgemeine Interesse an Musik ließen im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts auch das Bedürfnis nach Informationen über Musik wachsen. Zeitungen und erste Musikzeitschriften berichteten über Komponisten, Werke, Interpreten, Aufführungsorte, lokale und nationale Schulen und Strömungen. Das öffentliche Informationsbedürfnis wurde zusätzlich gesteigert durch den zeitgleich mit der Entstehung des öffentlichen Musiklebens sich ereignenden Paradigmenwechsel: weg vom Jahrhunderte alten Primat der wortbestimmten, zumeist klerikalen Vokalmusik und höfischen Oper hin zur reinen Instrumentalmusik. Mit dem Verzicht auf die Vertonung von Texten verlor die Musik ihre sich selbst erklärende Verständlichkeit, bei der dem Hörer sowohl der Text als Schlüssel zur Musik wie auch umgekehrt die Musik als Schlüssel zum Text diente.

Obwohl auf Texte und Singstimmen verzichtend, wurde die Instrumentalmusik der Wiener Klassik in einer Weise als sprechend und beredt empfunden, die nach Deutung verlangte. Mit Haydn, Mozart und vor allem Beethoven wurde die Instrumentalmusik erst kommentarbedürftig. Sie forderte Analyse, Erklärung, Exegese, Hermeneutik. 1798 gründeten Friedrich Rochlitz und der Musikverleger Gottfried Christoph Härtel in Leipzig die „Allgemeine musikalische Zeitung“ – eine der ersten Zeitschriften ihrer Art. Neben dem allgemeinen Musikleben sollte vor allem die jüngst vergangene und in Gestalt Haydns und Beethovens noch unmittelbar zeitgenössische Wiener Musik besprochen und im Konzertbetrieb als eben jene „Klassik“ durchgesetzt werden, als welche dieses kanonisierte Repertoire bis heute geschätzt und gepflegt wird. Beethoven geriet dabei besonders in den Brennpunkt der Musikpublizistik, weil seine Klaviersonaten, Sinfonien und späten Streichquartette teils geradezu revolutionär mit den bis dato etablierten Form- und Gattungsmodellen und deren harmonikalem, thematischem und satztechnischem Regelkanon brachen. Vielfach als „Skandalon“ empfunden, waren Beethovens Werke in gesteigertem Maß erklärungsbedürftig. Was Frühromantiker wie Ludwig Tieck, Novalis oder August Wilhelm und Friedrich Schlegel um 1800 vor allem im Hinblick auf die Poesie formulierten, dass nämlich jedes Kunstwerk die ihm vorangegangene Kunst kritisiere, löste sich in der Musik exemplarisch erst durch Beethoven ein. Die in der europäischen Kunstmusik schon früher ausgebildete Tradition des revolutionären Bruchs mit der Tradition fand hier eines ihrer prominentesten Beispiele.

Die zeitgenössische Auseinandersetzung mit Beethoven – zumal mit der Neunten Sinfonie und den späten Streichquartetten – ist von Hilflosigkeit, Unverständnis und Unangemessenheit gekennzeichnete. Formuliert wurden Geschmacksurteile auf der Grundlage stilistischer Maßstäbe, die für Haydn und Mozart noch Geltung besaßen, von Beethoven aber gesprengt und überwunden worden waren.2 Seine Kompositionen verstießen gegen die herkömmlichen Regeln klassischer Stimmführung, Harmonik, Formung und Instrumentenbehandlung und wurden von „Referenten“ beziehungsweise „Kunstrichtern“ entsprechend beurteilt beziehungsweise verurteilt. An überkommenen Normen gemessen, wurden die Werke entsprechend miss- oder gänzlich unverstanden. Doch gerade in diesem Nicht-Verstehen zeigt sich – wenn man es genau nimmt – ein Aspekt des eigentlichen Verstehens der Andersartigkeit, Originalität, Neuartigkeit und Einmaligkeit der Werke. Dieses Dilemma der zeitgenössischen Beethoven-Kritik bietet für den Umgang mit jeglicher neuer Musik einige bedenkenswerte Lehren.

Am Beispiel von Beethoven und der Kritik seiner revolutionären Werke verband Theodor W. Adorno die Idee der Kritik von Musik durch Musik mit der – schon von der frühromantischen Dichtungstheorie entwickelten – Idee der Entfaltung des ebenso künstlerischen wie historischen „Wahrheitsgehalts“ der Werke durch deren musikwissenschaftliche und musikjournalistische Rezeption: „Der Musik selbst ist Kritik immanent, das Verfahren, das objektiv jede gelungene Komposition als Kraftfeld zu ihrer Resultante bringt. Kritik an Musik wird von deren eigenem Formgesetz gefordert: die geschichtliche Entfaltung der Werke und ihres Wahrheitsgehalts ereignet sich im kritischen Medium. Eine Geschichte der Kritik Beethovens könnte dartun, wie mit jeder neuen Schicht des kritischen Bewusstseins von ihm auch neue Schichten seines Werks selbst sich enthüllten, in gewissem Sinn durch jenen Prozess überhaupt erst sich konstituierten.“3

Symbiose: Vollendung des Kunstwerks durch Kritik

Die Frühromantiker ersetzten den bis dato gebräuchlichen Begriff des „Kunstrichters“ durch den des „Kunstkritikers“. In Anlehnung an Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und vor allem dessen ästhetische Schrift „Kritik der Urteilskraft“ verstanden sie Kritik wesentlich reflexiv. Kunsturteile sollten nicht mehr von „Richtern“ nach feststehenden Gesetzbüchern mit normativen Regeln und Prinzipien gefällt werden, sondern nach Maßgabe des ästhetischen Erlebnisses und der reflektierten Zwiesprache des Kritikers mit dem Kunstwerk. Überdies forderten die Frühromantiker die kritische Reflexion der Bedingungen des Zustandekommens von Kunsturteilen. Damit folgten sie Kants kritischem Prinzip, wonach es keine Erkenntnis ohne Selbsterkenntnis des Erkennenden gibt. Und als Entsprechung zu diesem Grundsatz verstanden sie – allen voran Friedrich Schlegel – das Kunstwerk selber als eine Art Reflexion, mithin als eine Manifestation von Denken und Geist. Die Kritik der Kunst begriffen sie folglich weniger als eine Reflexion „über“ die Kunst, denn vielmehr als Entfaltung der dem Kunstwerk selber bereits innewohnenden Reflexion. Schlegels „Kritische Fragmente“ zitierend schrieb dazu Walter Benjamin 1918/1919 in seiner Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“: „Es ist klar: für die Romantiker ist Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung. In diesem Sinne haben sie poetische Kritik gefordert, den Unterschied zwischen Kritik und Poesie aufgehoben und behauptet: ,Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, … als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden … hat gar kein Bürgerrecht im Reich der Kunst.‘“4

Ähnlich sprach Adorno 1967 in seinem Vortrag „Reflexionen über Musikkritik“ von der „Bedürftigkeit der Werke“ nach Kritik und deren Begründungszusammenhängen, damit die Werke ihr „Wesen“ in der Zeit entfalten: „Kunstwerke selber sind ein Prozess, und sie entfalten ihr Wesen in der Zeit. Es ist prozessual. Medien dieser Kunstentfaltung sind Kommentar und Kri­tik.“5 Das romantische Verständnis der Kritik als Medium der Vollendung des Kunstwerks hat weitreichende Folgen, auch und gerade heute für den Umgang mit neuer Musik jenseits tradierter Gattungen, Materialien, Gestaltungs- und Formkategorien. Erstens gibt es für die Kritik keine objektiv gültige Werteskala mehr, weil es ihre Aufgabe ist, in erster Linie die dem Werk bereits immanente Reflexion zur Entfaltung zu bringen. Daraus folgt zweitens, dass nur echte, also in sich reflexive Kunst überhaupt kritikfähig ist, während alles nicht in sich reflexive der Kritik letztlich unzugänglich bleibt und schlicht keine Kunst ist. Nur Kunst ist kritisierbar, und nur das Kritisierbare ist auch Kunst im Sinne der Vollendung der dem Kunstwerk selbst innewohnenden Reflexion. Kritisierbarkeit avancierte zu einem wesentlichen Qualitätskriterium von Kunstmusik. Vor allem Friedrich Schlegel hielt das Verhältnis von Musikkritik und Kunstmusik für essentiell: Denn nur Kritik bringt den Kunstcharakter, das heißt die immanente Reflexivität des Kunstwerks zur Entfaltung. Daraus folgt drittens, dass sich jede Kritik zunächst einmal immanent auf das Kunstwerk und die diesem eigenen Reflexionsbewegungen und Kategorien beschränken muss. Das ist besonders für neue Musik relevant, die im Extremfall mit jedem Werk ihr eigenes Kategoriensystem setzt, so dass es sich verbietet, ein Werk aufgrund ihm inadäquater Kriterien und Geschmacksvorlieben zu beurteilen, anstatt die Kriterien und Maßstäbe des Urteils von innen heraus aus dem Kunstwerk selbst zu entwickeln. Schließlich zeigt sich viertens, dass mit der Aufwertung der Kritik zu einer eigenen Form von Kunst auch die Kunst selbst zur Kritik von Kunst wurde. Pointiert ausgedrückt findet sich dies in Schlegels Postulat: „Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden.“6

Den Gedanken, dass Kunstwerke Kritik an anderen Kunstwerken üben, griff später Adorno auf, um die geschichtliche Dynamik der europäischen Kunstmusik zu erklären. In seiner „Ästhetischen Theorie“ formuliert er: „Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist fusioniert mit ihrem kritischen. Darum üben sie Kritik auch aneinander. Das, nicht die historische Kontinuität ihrer Abhängigkeiten, verbindet die Kunstwerke miteinander; ,ein Kunstwerk ist der Todfeind des anderen‘; die Einheit der Geschichte von Kunst ist die dialektische Figur bestimmter Negation.“7 Adorno definierte den Kunstcharakter von Kunst wesentlich als Kritik an Kunst, was nicht heißt, dass sich Kunst nur selbstgenügsam auf sich selbst bezöge. Denn die eigengesetzlich verlaufenden Bewegungen der Musik deutete Adorno in seiner „Philosophie der neuen Musik“ bekanntlich mit der Annahme einer historisch objektiv notwendigen Tendenz des musikalischen Materials, die mit den allgemein gesellschaftlichen Entwicklungen korrespondiert. Deswegen sagt Musik – als ein Medium begriffsloser Erkenntnis – nicht nur etwas über Musik aus, sondern verrät zugleich auch diagnostisch etwas über den Zustand des allgemeinen Bewusstseins einer Gesellschaft und Epoche. Die von den Frühromantikern geforderte immanente Kritik des Kunstwerks weitet sich dadurch von der inneren Durchdringung der spezifischen Reflexivität des Kunstwerks zur allgemein gesellschaftlichen Situation, in der das Kunstwerk entstand und auf die es laut Adorno – wie auch immer vermittelt – reagiert.8

Maximen: Umgang mit neuer Musik

Wenn ein Musikkritiker mittels seines durch Erfahrung und Wissen gebildeten Kategoriensystems ein Urteil über ein musikalisches Phänomen fällt, und dabei auch die Maßstäbe seines Urteils deutlich macht, vermag selbst ein Fehlurteil – das zeigt die zeitgenössische Beethoven-Kritik – aufschlussreich zu sein, wenngleich vielleicht erst aus einiger historischer Distanz. Auch ein Fehlurteil gibt Aufschluss über das Verhältnis beziehungsweise Missverhältnis zwischen dem Normen- und Erwartungshorizont der musikalischen Rezeption und der zeitgenössischen kompositorischen Produktion. Dazu ist allerdings unerlässlich, dass der Kritiker tatsächlich ein Urteil formuliert und dieses begründet. Denn nur ein argumentativ fundiertes Urteil lässt auch die ihm zugrunde liegenden Maßstäbe erkennen und stellt sich und seine Maßstäbe wiederum selbst der Kritik: Nur echte Kritik ist ihrerseits kritikfähig. Ohne Kritik ist dagegen jeder Beifall wertlos und ohne differenzierte Betrachtung wird künstlerische Arbeit der Unverbindlichkeit preisgegeben, so dass sich Musik irgendwann selber nicht mehr ernstnehmen kann. Ein echtes Urteil ist dabei nur möglich – wie Joachim Kaiser 1967 in seinem Vortrag „Zur Praxis der Musikkritik“ betonte – als Zusammenwirken von subjektivem Erleben und objektiven Fakten: „Weil es keine verbindlichen Regeln gibt […], muss der Kritiker seine Reaktionen so wichtig nehmen, ihre Verbindlichkeit dartun […]. In dem Augenblick, wo ein Kritiker bloß noch Reporter ist, hat er natürlich die Forderung der Sache verfehlt. In dem Augenblick, da er sich nur noch mit einem speziellen Aspekt der Sache beschäftigt, ohne zu informieren, wer, was, warum, da hat er sich der journalistischen Sorgfaltspflicht entzogen.“9

Weil alle Werke, Werte und Worte historisch geworden sind und weiterem Wandel unterliegen, ist selbstverständlich auch Musikkritik ein historisches Phänomen, das seine Voraussetzungen selbstkritisch an der aktuellen Kompositions- und Interpretationspraxis messen und revidieren muss. Die Kritik neuer Musik anhand bestimmter, eigens kenntlich gemachter und historisch reflektierter Kategorien muss – auch das lehrt die zeitgenössische Beethoven-Kritik – einhergehen mit der Kritik dieser historischen Kategorien anhand der aktuellen Musikproduktion, die möglicherweise ganz anderen Kategorien folgt. Denn wenn es stimmt, dass die Wahrnehmung von Kunst untrennbar mit der Kunst der Wahrnehmung verbunden ist, dann sind die Kategorien beider Systeme – Kunst und Wahrnehmung – möglichst miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Adorno formulierte es so: „Die subjektiven Reaktionen des Kritikers, die gelegentlich Kritiker selbst, um ihre Souveränität zu dokumentieren, für zufällig erklären, sind nicht der Objektivität des Urteils entgegengesetzt, sondern dessen Bedingung. Ohne solche Reaktionen wird die Musik überhaupt nicht erfahren. An der Moral des Kritikers wäre es, den Eindruck durch ständige Konfrontation mit dem Phänomen zur Objektivität zu erheben.“10 Als Leitsatz gilt dann auch: „Wer seiner sicher ist, der soll auch sagen, wo er unsicher ist.“11 Ein Autor kann sein Unverständnis auch auf Verständnis fördernde Weise eingestehen.

Bewusst oder unbewusst wirken in jeder Musikkritik Bewertungskategorien wie Originalität, Individualität, Authentizität, Stimmigkeit, Intensität, Prägnanz (strukturell und expressiv) und Komplexität (Vielschichtigkeit). Diese Maßstäbe sind sehr allgemein, können im Einzelfall aber Griffigkeit gewinnen. Vor allem sind sie prinzipiell genug, um unterschiedliche Erscheinungen möglichst undogmatisch beurteilen zu können, vom abgeschlossenen Kunstwerk bis zu Konzeptkunst, Improvisation, Installation, Happening und Performance. Die genannten Kategorien greifen selbst dort, wo Musik sich bewusst von einer oder mehreren dieser Kategorien absetzt, indem die Musik etwa auf besonders innovative Weise mit dem Innovationsgebot bricht, auf stimmige Art unstimmig ist, in eigener Weise unoriginell ist, auf individuelle Art unauthentisch oder in ihrer Einfachheit komplex beziehungsweise in ihrer Komplexität einfach. Indem Musikkritik die Kategorien ihrer eigenen Urteilsfindung erkennen lässt oder gar eigens thematisiert, vermag sie bei Lesern und Hörern das Bewusstsein für die Diskussionswürdigkeit von Qualitätskriterien zu wecken. Musikkritik befähigt den Leser damit idealerweise zu eigenem Urteilsvermögen. Schließlich sind Orientierungsmöglichkeiten im total diversifizierten und zudem weitgehend saturierten Kulturbetrieb nötiger denn je.

Das Hören von Musik ist ein komplexer, vielschichtiger und multidirektionaler Vorgang, der sich in gleicher Weise auf das klingende Objekt richtet wie auf das hörende Subjekt. Diese Janusköpfigkeit macht das Hören von Musik – wie Helmut Lachenmann betont hat – zu einem Medium der existentiellen Welt- und Selbsterfahrung. Da jeder Versuch, die Welt zu erfassen, nach Maßstäben erfolgt, denen unsere Sinneswahrnehmung und die Art und Weise unseres Musikhörens insgesamt folgt, bietet Musik dem Hörer die Möglichkeit, beim Musikhören auch etwas über sich selbst und seine Umwelt zu erfahren, insbesondere über seine Selbst- und Weltwahrnehmung mittels eines Kategoriensystems, das entscheidend durch die Gesellschaft geprägt ist, in der er lebt und von deren Konventionen, Codes, Reflexen, Kommunikationsformen und Medien er beeinflusst wird. Musikhören weitet sich so idealerweise zu einem Akt der reflexiven Selbstverortung des über sich und seine Dispositionen und Potentiale aufgeklärten Menschen. Musikkritik vermag solche Selbst- und Weltverortung durch Musik explizit zu machen. Dabei ist zweitrangig, ob es sich um zeitgenössische Kunstmusik handelt oder um Alte Musik, Jazz, Rock- und Popmusik oder welche Musik auch immer. Entscheidend ist, dass Musik beim Hörer eine solche existentielle Wirkung erzielt. Denkt man den von den Frühromantikern und Lachenmann gleichermaßen reflexiv verstandenen Musikbegriff weiter, so werden kritischer Musikjournalismus und Musikwissenschaft zu einer ausgezeichneten Instanz, welche Musik an allgemein gesellschaftliche Diskurse anbindet, und zwar insbesondere solche Musik, die von sich aus keine direkte Auseinandersetzung mit der Gesellschaft sucht. Wie Kunst ist schließlich auch Kritik – wie unterschwellig oder demonstrativ auch immer – aufklärerischen, humanitären Idealen verpflichtet und stets auch ein Einspruch gegen allgemein gesellschaftliche Missstände, denn als Maßstab und Korrektiv wohnt ihr notwendigerweise eine – wie auch immer reflektierte oder diffuse – Utopie von einem „schöneren“, „besseren“, „wahreren“ Leben inne.

In Anknüpfung an Adorno unterstrich Albrecht Wellmer, dass allem Spielen, Interpretieren und Kommentieren von Musik das Moment der Reflexion angehöre. Wie alle Künste sei auch Musik immer schon „mit Begrifflichem durchdrungen“ und mit „Welthaltigkeit“ aufgeladen.12 Das Schreiben und Sprechen über Musik – mithin der gesamte Diskurs in und über Musik – erschließt überhaupt erst die der Musik eingeschriebene Reflexivität. Neben der Musik selbst gibt es nichts Lebendigeres und für die Weiterentwicklung des Musiklebens Produktiveres als die respektvolle und für jedermann offene diskursive Auseinandersetzung mit neuer Musik. Wie Musik selbst ist auch Musikkritik im besten Sinne Unterhaltung, das heißt Zwiesprache von Musik und Hörern/Lesern sowie Anstoß zum Dialog zwischen Hörern/Lesern und Musikern mit- und untereinander. Wo substantielle Musikkritik breitere Publikumsschichten und (kultur)politische Entscheidungsträger noch erreicht, muss sie durch die Intensität ihrer gedanklichen Auseinandersetzung auch vermitteln, dass es bei neuer Musik nicht um die Wahrung privater Besitzstände einer verschworenen Insider-Gemeinde geht, sondern um ein essentielles Kernstück des Empfindungs- und Geisteslebens unseres Gemeinwesens, nämlich um die kritische Selbstbespiegelung der Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit Unvertrautem, Anderem, Neuem, Fremden. Wo aber Musik als Gegenstand des öffentlichen Wahrnehmungs- und Gesprächsinteresses verschwindet, wie es gegenwärtig vielerorts geschieht, ist über kurz oder lang die Existenz der Musik selbst bedroht.13

Der „Fall“ Beethoven setzt sich bei aktuellen Besprechungen von Musik der Vergangenheit in die Forderung um, auch diese historische Musik als die neue Musik ihrer Zeit kenntlich zu machen. Ein im Repertoirebetrieb zum kanonisierten Bestandsstück erstarrtes „Meisterwerk“ wäre durch Erörterung der spezifischen Bedingungen seiner Entstehung wieder in seiner ursprünglichen Modernität und Singularität – oder auch Konventionalität und Konformität – gegenüber den musikalischen und außermusikalischen Verhältnissen seiner Zeit zu beschreiben. Adorno betonte: „Die Fähigkeit, Probleme dort zu ent­decken, wo das allgemeine Bewusstsein seiner selbst falsch sicher ist, gehört überhaupt zu den wesentlichen Aufgaben der Kritik.“14 Und weiter heißt es: „... die Aufgabe des Kritikers wäre [es], das musikalische Werk aus einem geronnenen, verhärteten, versteinerten Zustand in das Kraftfeld zurückzuübersetzen, das ein jedes, und jede Aufführung, eigentlich ist. Das allein, nicht das sogenannte Temperament des Kritikers, genügte dem Begriff lebendiger Kritik.“15 Würden die „Klassiker“ aus dem Blickwinkel der neuen Musik beschrieben, so blieben sie nicht länger das leblos gewordene Inventar eines zum objekthaften Besitz verdinglichten klingenden Museums, dessen altbekannte „Meisterwerke“ nur noch – wie einmal Wolfgang Rihm sagte – als „selbstverständlich“ missverstanden werden. Gerade angesichts der Omnipräsenz traditioneller Musik in unserer Gegenwart wären Perspektiven auf die Musik der Vergangenheit als der neuen Musik von damals zugleich als ein Plädoyer an das heutige Publikum zu verstehen, nicht nur das geliebte alte Repertoire zu hören, sondern sich auch für die neue Musik von heute zu interessieren. Denn wer von neuer Musik nichts wissen will, verkennt, dass auch die alte Musik einst die neue Musik ihrer Zeit war. Und umgekehrt gilt: Wer über neue Musik sprechen will, sollte von alter Musik nicht schweigen.

Ein Ausblick: Zwischen Peripherie und Zentrum

Bei allen Schwierigkeiten der gegenwärtigen Situation und trotz aller berechtigten Klagen über die „Krise der Musikkritik“ – die allerdings schon in den aus heutiger Sicht geradezu „goldenen“ sechziger Jahren diagnostiziert wurde – sind Grabgesänge auf das Ende des kritischen Schreibens und Sprechens über neue Musik fehl am Platz. Denn solange sich Menschen für Kunstmusik begeistern und diese als Medium existentieller Selbst- und Welterfahrung begreifen, wird es auch Menschen geben, die selber begreifen und anderen Menschen begreifbar machen möchten, was und wie und warum diese Musik ist, wie sie ist. Und so lange Autoren einen solchen Impuls zum Verstehen- und Mitteilen-Wollen haben, werden sie – obgleich auf zunehmend prekärer ökonomischer Basis – auch die dafür nötigen Formate und Medien finden oder sich diese – wie das Beispiel MusikTexte zeigt – gegebenenfalls selber schaffen, unabhängig davon, ob damit breite Publikumskreise oder nur Minderheiten zu erreichen sind. Auch am Rande der Gesellschaft – manchmal gerade dort – lassen sich Sachverhalte aufdecken, welche die Gesellschaft ins Herz treffen und aufzucken lassen. Denn die kritische Auseinandersetzung mit Kunst, Musik und Kunstmusik ist immer auch eine Form der kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Daher steht am Ende kein Nachruf auf den Tod der vielerorts dahinsiechenden Musikkritik, sondern die mit einigen Ratschlägen verbundene offensive Einladung zu fundierter Musikpublizistik.

Alles journalistische und wissenschaftliche Schreiben und Sprechen über neue Musik setzt die Fähigkeit zur Hörerfahrung voraus. Und diese schließt mehrere Dinge ein, die sich ideal denken lassen, in der täglichen Praxis von Kritik, Publizistik, Forschung und Lehre aber – anderes anzunehmen wäre naiv – kaum jemals in Reinform bewahren lassen, nämlich: Offenheit, Neugierde, Vorurteilslosigkeit, Freiheit von Ressentiments und persönlichen Rücksichtnahmen, wirtschaftliche und gedankliche Unabhängigkeit, persönliche Anteilnahme sowie Liebe und Leidenschaft zur Musik gepaart mit kritisch beobachtender Distanz. Ein Autor sollte Musik im Vertrauen auf seine eigene Sensibilität und Erfahrung, möglichst ohne Fremdbestimmung von außen, frei und offen erleben und selbstverantwortlich kommentieren. Dazu bedarf er des Vermögens und der intellektuellen Lust, die Musik und seine musikalischen Erfahrungen zu verbalisieren, also möglichst treffend etwas über Musik zu sagen und nicht auf bloße Äußerlichkeiten auszuweichen. Fundiertes journalistisches und wissenschaftliches Schrei­ben und Sprechen über neue Musik setzt daher die Möglichkeit voraus, objektivierbare Sachverhalte und Fakten richtig zu recherchieren und wiederzugeben, sowie Hintergründe und Zusammenhänge zu erkennen, um bei möglichst gesicherter Informationslage unter Verzicht auf Spekulationen die in Frage stehenden Werke, Theorien oder Veranstaltungen zunächst einmal immanent an ihren eigenen Ansprüchen zu messen und in die Beurteilung gegebenenfalls das Auseinanderklaffen mit dem tatsächlich Geleisteten einfließen zu lassen. In einem zweiten Schritt lassen sich dann die erfassten Sachverhalte einordnen, kontextualisieren und vergleichen sowie durch Gegenthesen und Alternativen auf ihre Originalität und Qualität prüfen, um auf dieser Grundlage endlich ein argumentativ begründetes Urteil zu formulieren, mit dem der Autor in der Öffentlichkeit einstehen und sich seinerseits der Kritik stellen kann. Los geht’s!

1Theodor W. Adorno, Reflexionen über Musikkritik (1967), in: Derselbe, Musikalische Schriften VI (= Gesammelte Schriften Band 19), herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, 588.

2Vergleiche Ludwig van Beethoven: Die Werke im Spiegel seiner Zeit. Gesammelte Konzertberichte und Rezensionen bis 1830, herausgegeben und eingeleitet von Stefan Kunze, Laa­ber: Laaber, 1987.

3Theodor W. Adorno, Öffentliche Meinung, Kritik, in: Derselbe, Einleitung in die Musiksoziologie – Zwölf theoretische Vorlesungen (1961/1962) (= Gesammelte Schriften Band 14), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, 179.

4Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1918/1919), in: Derselbe, Gesammelte Schriften Band I,1, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 69.

5Theodor W. Adorno, Reflexionen über Musikkritik, am angegebenen Ort, 575.

6Friedrich Schlegel, Kritische Fragmente („Lyceums“-Fragmente“) Nummer 117, in: Fragmente der Frühromantik, herausgegeben von Friedrich Strack und Martina Eicheldinger, Berlin: de Gruyter, 2011.

7Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, herausgegeben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, 59–60.

8Vergleiche Rainer Nonnenmann, „Die Sackgasse als Ausweg? – Kritisches Komponieren: ein historisches Phänomen?“, in: Musik & Ästhetik, 9. Jahrgang, Heft 36, Oktober 2005, 37–60.

9Joachim Kaiser, Zur Praxis der Musikkritik (1967), in: Symposion für Musikkritik ( = Studien zur Wertungsforschung Band 1), herausgegeben von Harald Kaufmann, Graz: Styria, 1968, 26.

10Theodor W. Adorno, Öffentliche Meinung, Kritik, am angegebenen Ort, 178.

11Theodor W. Adorno, Reflexionen über Musikkritik, am angegebenen Ort, 589.

12Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München: Hanser, 2009, 103.

13Vergleiche Rainer Nonnenmann, Die Ästhetik des Anästhetischen. Von tauben Flecken und ungenutzten Chancen der neuen Musik, in: Freiräume und Spannungsfelder. Reflexionen zur Musik heute. Kolloquium im Rahmen der 20. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik, herausgegeben von Marion Demuth und Jörn Peter Hiekel, Mainz: Schott, 2009, 36–37.

14Theodor W. Adorno, Reflexionen über Musikkritik, am angegebenen Ort, 581.

15Ebenda, 590–591.