MusikTexte 145 – Mai 2015, 93–94

Kammerflimmern

Wittener Tage für neue Kammermusik

von Rainer Nonnenmann

Nach der Krise 2012 infolge der Haushaltssicherung der Stadt Witten ist die Finanzierung der Wittener Tage für neue Kammermusik durch Stadt, WDR und Land NRW glücklicherweise wieder gesichert. Dennoch merkt man dem Programm – wie auch dem anderer Festivals – die Budgetgrenzen an: Der WDR bringt verstärkt seine eigenen Klangkörper ein, diesmal gleich Rundfunkchor und Sinfonieorchester, und mit Beat Furrer wurde ein „Composer in Residence“ porträtiert, der zwar seit 1975 in Wien lebt, sich aber dank seiner Geburt 1954 in Schaffhausen bequem wieder zum Eidgenossen machen lässt, wenn Fördermittel der Stiftung Pro Helvetia winken. Inhaltliche Gründe sprachen eher gegen Furrer, dessen sechzigster Geburtstag bereits im vergangenen Jahr landauf, landab gefeiert wurde und der in Witten und der Kölner WDR-Reihe „Musik der Zeit“ schon seit Langem regelmäßig vertreten ist.

Als meisterlicher Instrumentator zeigte sich Furrer einmal mehr in „lotófagos I“ von 2007, wo die scheinbar fremd sich gegenüberstehenden Stimmen von Sopran und Kontrabass durch originell erweiterte Vokal- und Spielpraktiken in einen intimen vokal-instrumentalen Dialog treten. Verschiedene Weisen des Sprechens und Atmens bestimmen auch „invocation VI“ für Stimme und Bassflöte von 2003 und „Ira-Arca“ für Bassflöte und Kontrabass von 2012. Der Detail- und Variantenreichtum an Artikulationen und glissandierten Tonfällen gleicht den sprechenden Mikrogesten à la manière de Salvatore Sciarrino und öffnet – etwa durch nasale Sul-tasto-Striche des Bassisten – in glücklichen Augenblicken faszinierend neue Hörwelten, die allerdings durch zigmaliges Wiederholen zerredet oder durch aktionistische Virtuosität verschüttet werden. Die drei Duos wurden intensiv musiziert von Sopranistin Tony Arnold und Mitgliedern des 1985 von Furrer gegründeten Klangforum Wien, Eva Furrer und Uli Fussenegger. Zwischen bloßem Ertasten und realem Erklingen bewegte sich Furrers Ensemblewerk „Spur“ von 1998. Besonders die Pianistin (brillant Nadezda Tseluykina) berührt mit auf und ab eilenden Fingern die Tasten nur derart flüchtig, dass die Töne kaum wirklich ansprechen. Drei ältere und ein neues Werk aus Furrers Chorzyklus „Enigma“ beschränkten sich auf massige Exklamationen und typische Chorgesten, die der WDR Rundfunkchor Köln unter Leitung von Rupert Huber klangstark zur Uraufführung brach­­te. Furrers schematische „Zwei Studien“ schienen in der Tat mehr für Versuchszwecke als für den Konzertsaal bestimmt: Die eine reihte dissonierende Spaltklang-Akkorde, die andere verschmolz Klangfarben zu einem nahtlosen Band.

Um mit dem Festival langjährig verbundene Solisten zu würdigen und zugleich dem Verschleiß des strapazierten Publikums durch stets neues Justieren der Wahrnehmung entgegenzuwirken, hatte der WDR-Redakteur und künstlerische Leiter Harry Vogt die glückliche Idee, den insgesamt sieben Ensemblekonzerten jeweils ein Solowerk zu implantieren. Tatsächlich fokussiert ein einzelner Solist die Aufmerksamkeit ganz anders als ein vielstimmiges Kollektiv. Bestens gelang dies der jungen Klarinettistin Boglárka Pecze mit „Psychogramm II: rettegös“ ihres ungarischen Landsmanns Márton Illés. Wie unter psychischem Druck zitterten verschwiegene Tonketten umher, aus denen plötzlich einzelne Töne lautstark herausstachen, wieder verstummten und endlich in markerschütterndes Kreischen ausbrachen. Teodoro Anzellotti brachte zwei akkordeontypische Werke von Milica Djordjevic´ und Miroslav Srnka zur Uraufführung: das eine ausschließlich in Extremlagen elektronisch sirrend beziehungsweise mit tiefsten Bässen und Clustern knurrend und fauchend; das andere in vertrauter Mittellage dezent mit Anklängen an Drehorgelmusik spielend. Carolin Widmann interpretierte Pascal Du­sapins geigerisch ebenso effektvolles wie konservatives „In vivo“ und Martin Matalons „Traces XI“ planierte die virtuosen Spiel- und Dämpftechniken des Posaunisten Uwe Dierksen durch allzu undifferenzierte Live-Elektronik. Die Uraufführung von zwei großen Klavierwerken lag bei Nicolas Hodges in besten Händen. Hans Thomallas „Ballade.Rauschen“ zerspaltete schumannesk verschlungenes Akkordmaterial durch Accelerando- und Ritardandoprozesse in exzentrische Höchst- und Tiefstlagen, motorische Geläufigkeit und wilde Clusterorgien. Und James Clarks „Untitled No. 7“ trieb das Klavierspiel durch manisch abgespulte Tonkaskaden über jedes pianistische Normalmaß hinaus in Regionen am Rande des Wahnsinns, so dass Arme, Hände und Finger nur noch wie irre über die Tastatur hasteten.

Gleich in drei Konzerten prominent vertreten waren die Neuen Vocalsolisten Stuttgart. In der Johanniskirche sangen sie zu später Stunde Joanna Woznys vorsichtig tastendes „Lacunae“ und Agata Zu­bels neomadrigaleske „Madrigals“, deren rhetorisches Sprechen, Singen, Krächzen, Lachen gekonnt zwischen affektivem Ausdruck und sachlich distanziertem Rausdruck changierte. In die Aula der Blote-Vogel-Schule zogen die Vocalsolisten zunächst mit aneinandergeschlagenen Kieselsteinen, die sie schließlich pantomimisch ins Publikum warfen und gegen Kontrabass, Gitarre, Pedalpauken, Becken, Gongs, Klangschalen, Trommeln, Tröten und andere Zusatzinstrumente eintauschten. Dass sich die kindliche Spielfreude im Laufe des amüsanten Stücks zur brutalen Steinigung einer jungen Frau verkehren sollte, konnte der erstaunte Leser erst dem Werkkommentar entnehmen. Ebenso wenig erschloss sich zum Abschluss des Festivals im Wittener Saalbau die auf „13 Bilder“ reduzierte Oper „Die schöne Wunde“ von Georg Friedrich Haas, deren sinfonischer Apparat mit „Kammermusik“ nichts zu tun hatte. Dass die Anordnung von Kafka- und Poe-Texten in Verbindung mit Spektralakkorden, tonalen Melodien und enervierend einfallslosen Abwärtsskalen beliebig zusammengestoppelt wirkte, mag eine Folge der verzerrenden Kürzungen sein, entschuldigt aber nicht den offenbaren Mangel an Selbstkritik des gefeierten Komponisten. Oder zeigte sich sein kritisches Bewusstsein gerade im gnädigen Einkochen des zweieinhalbstündigen Mu­siktheaterwerks auf erträgliche fünfunddreißig Minuten? Die Neuen Vocalsolisten und das WDR Sinfonieorchester Köln unter Leitung von Titus Engel gaben ihr Bestes: Doch wer nur Wasser zum Verdampfen hat, produziert eben bloß Kalk­ränder.

Der Implosion im Schlusskonzert ging eines der stärksten Werke voraus. An­dreas Dohmens „… blinde worte … (Musik für G.P.H.)“ ließ den kombinatorischen Sprachapparat des Barockdichters Georg Philipp Harsdörffer dreihundertfünfzig Jahre später in Gestalt der kongenialen Sarah Maria Sun lebendig werden. Als eine Kreuzung aus hypernervöser Quasselstrippe und vollmaschinellem Logomaten fabrizierte sie mit auf Hochtouren laufendem Mundwerk wie am Fließband Silben- und Wortketten, deren lautlicher Mitteilungscharakter den Hörbetrachter jedoch mit völliger verbaler Unverständlichkeit traf. Unablässig redet jemand, und doch versteht man kein einziges Wort. Potenziert wurde dieses verstörende Scheitern von Kommunikation durch einen die Sprechstimme mimetisch begleitenden Posaunenpart (Uwe Dierksen) sowie abrupt ein- und aussetzende Orchesterpartien. In seltener Klarheit war auf diese Weise Kunst als Medium fundamentaler Verunsicherung zu erleben.

Die Wittener Ensemblekonzerte – diesmal ohne ein einziges Streichquartett – spielten das österreichische ensemble für neue musik unter Leitung von Johannes Kalitzke und das Ensemble KNM Berlin unter Leitung von Manuel Nawri. Zuerst getrennt und dann gemeinsam als Simultanaufführung präsentierte man Chaya Czernowins luzide „Slow Summer Stay I und II“. In Vito Žurajs „Aftertouch“ spannten die Salzburger nahezu unmerkliche Übergänge von Klang zu Klang – beispielsweise zwischen gestrichenen Zimbeln und ebenso körperlos schwebenden Akkordeon-Tönen –, aus denen formal wirksame Abschnitte jeweils eigenen Charakters resultierten. Clemens Gadenstätters ebenso furioses wie leicht chaotisch wirkendes „Les derniers cris (E.P.O.S. I)“ zog wie ein wirrer Malstrom unspezifisches Material in einen kreisenden Sog, aus dem sich nur vereinzelt traditionelle Gesten, Instrumentationstopoi, Zitate und stimmliche Aktionen der Musiker ausmachen ließen: Pistolenschüsse, Trompetenfanfaren, Lamento, Galopp und das Schmiedemotiv aus Wagners „Ring“. In Vladimir Gorlinskys „Unity“ zauberten dagegen die Berliner mit zart verflochtenen Klängen von E-Piano, E-Gitarre, Flageoletts und mit bloßen Händen berührten Marimbaphon-Platten eine traumhaft verlorene Musik. Hauchdünne Tongespinste verdichteten sich unvermutet zu flüchtigen Gesten, Skalen und tonal irrlichternden Melodien von großer Schwermut über das Werden und Vergehen von Zeit und Leben. Schließlich präsentierte das IEMA-Ensemble im „New­comer Konzert“ fünf Werke junger Kompositionsstudenten, von denen das Duo „Impersonate“ von Yukiko Watanabe mit äußerlich reduziertem, im Detail jedoch umso reicher differenziertem Material herausragte.

Wie schon früher bei den Wittener Tagen führte auch diesmal eine „Klangwanderung“ aus den stickigen Kammern der Musik hinaus in die freie Natur. Schauplatz war das unweit der Stadt gelegene Muttental, die Wiegenstätte des bis 1500 zurückreichenden Steinkohlebergbaus entlang der Ruhr. Durch Gesteinsverwerfungen treten hier Flöze teils an die Oberfläche, wo sie in zahllosen offenen Gruben und Dutzenden Schächten und Kleinzechen bis in die siebziger Jahre hinein abgebaut wurden. An zwölf Stationen waren abwechselnd Installationen und Kurzkonzerte des personell erweiterten Schlagquartetts Köln zu erleben. Alle Arbeiten reagierten auf die Historie und gegenwärtige Situation von Wiese, Wald, Baum, Bach, Fels, Stollen, Schienenstrang, Ruine, Schmiede, Bethaus. Als eigene Tragödie in drei Akten zog sich Franz Martin Olbrischs Installation „Dennoch lauert im Gesang der Vögel das Schreckliche …“ durch den Parcours. In drei verschiedenen Stolleneingängen erzählten ein toter und zwei lebende Kanarienvögel mit oder ohne zugespieltem Vogelgezwitscher von der Arbeit unter Tage, wo früher Vögel als Warnmelder für austretendes Grubengas dienten. Carola Bauckholts „Der aufgefaltete Raum“ beschwor mit metallischem Klackern und dumpfen Schlägen die einst zur Verladerampe über Gleise ratternden Grubenwagen. Wer den Spaziergang am Nachmittag bei strahlendem Sonnenschein machte, erlebte die bewusst gesetzten Klänge und Aktionen zusammen mit munterem Vogelgezwitscher im blühenden Wald- und Wiesental. Wer dagegen am nächsten Tag im Regen oder am späten Abend loszog, erlebte bei reduziertem Gesichtssinn mit dafür umso mehr gespanntem Gehör auch rufende Käuzchen, geheimnisvolles Knacken im Unterholz und vor allem das ganz individuelle Flimmern in der Privatkammer des jeweils eigenen Kopfes.