MusikTexte 145 – Mai 2015, 73–74
„Je fremder, desto radikaler die Kur“
Nicolaus A. Huber im Gespräch (20. Februar 2014)
mit Rainer Nonnenmann
Angesichts der Debatte über „Neuen Konzeptualismus“, die dank Komponisten wie Johannes Kreidler, Martin Schüttler und anderen auch bei den Darmstädter Ferienkursen 2012 präsent war, frage ich mich, warum dabei nicht auch auf einen alten Konzeptualisten wie Sie Bezug genommen wird? Sind die von Ihnen in den siebziger Jahren entwickelten Ansätze wie konzeptionelle Rhythmuskomposition und konzeptionelle Einstimmigkeit der jungen Generation überhaupt bekannt? Sie haben ja bestimmte musikalische Elemente, lange Töne, Crescendo, Pulsationen, Tempi, Rhythmen systematisch untersucht, auch auf deren außermusikalische Dimensionen.
Ja, die jungen Leute können ruhig diskutieren. Ich halte aber keine Seminare mehr, weil ich denke, dass bestimmte Dinge, die für mich wichtig sind, für sie nicht mehr wichtig sind, das heißt, die Wertargumentation ist falsch. Die Materialkonzeption von Nono habe ich längere Zeit weitergegeben und auch korrigiert. Dann habe ich das nicht mehr gemacht, das kam nur noch in der Analyse vor. Das Konzeptionelle von historischen Entwicklungen zu erkennen, zeigt aber, dass das im Grunde genommen Dinge sind, die eigentlich immer noch gelten, nur aber keine Ausstrahlung mehr haben. Das ist eben so. Mein Lehrer Günter Bialas hat mal zu mir gesagt, man muss sich als Lehrer immer jünger fühlen als die Studenten, dann hat man auch die Berechtigung, Lehrer zu sein. Wenn man sich nicht mehr jünger fühlt, dann soll man aufhören. Und das, glaube ich, ist ein gutes Wort. Und deswegen interessiert mich diese Art von Austausch nicht, denn das ist eine ziemlich tote Geschichte, glaube ich, weil dieser Konzeptualismus sich einfach für andere Dinge interessiert.
Meinen Sie den Austausch zwischen den Generationen?
Nein, das ist nicht nur zwischen den Generationen, sondern das sind grundsätzliche Dinge. Meine Konzepte waren Änderungsvorschläge und hingen mit einer bestimmten historischen Situation zusammen, die war komplex und nicht einfach nur einseitig. Aber das schläft jetzt. Es gibt vielleicht wieder mal eine Zeit, wo diese Werte vorwärtstreibend sind und man denkt, hach, da entdecke ich etwas, da komme ich auf etwas, womit ich weiterarbeiten kann. Das kann jederzeit passieren, sonst bräuchte man heute ja auch keinen Beethoven und Bach spielen. Aber ich weiß nicht, ob ich diese Zeit noch erlebe, wo sozusagen dieses Elementare, die Musik in den Menschen zu plazieren, wieder aktuell wird. Das sind doch Dinge, die heute keinen mehr interessieren. Denken Sie an die Brecht-Rezeption, uninteressant! Aber das heißt nicht, dass es ewig uninteressant bleibt. Also je radikaler, je spitzer oder schärfer etwas formuliert ist, umso mehr ist es den historischen Augenblicken ausgeliefert.
Verbal äußern junge Komponisten, ihnen käme die „neue“ Musik zu weltabgewandt vor, während sie selber eine Musik komponieren möchten, die hier und heute die Menschen und Gesellschaft etwas angeht, weil sich Fragen unserer Zeit in irgendeiner Weise darin niederschlagen. Martin Schüttler sprach deswegen von „diesseitiger“ Musik, andere sprechen von „Welthaltigkeit“ oder „Gehaltsästhetik“. Ich selber vermisse an vielen Arbeiten die Konkretion an einem musikalischen Phänomen, an dem – wie Sie das getan haben – exemplarisch gezeigt wird, was möglicherweise auch an Außermusikalischem damit zusammenhängt. Von „der“ Gesellschaft im Allgemeinen lässt sich leicht sprechen, aber was ist damit gemeint, und wo steckt wirklich das Politische?
Es gibt eben keine politische Bewegung. Und wenn es eine politische Bewegung gibt, dann ist diese nicht scharfsinnig genug, ihre Grundlagen zu analysieren. Bewegung gibt es immer wieder, Streiks, Besetzungen, und so weiter, für irgendwelche Teilziele, aber das ist nicht eingebettet, weil es gegenwärtig eine totale Ideologiefeindlichkeit gibt, durch die Ausquetschung von Ideologien in der Vergangenheit. Man ist vorsichtig, aber gleichzeitig denkt man sich, man braucht das auch nicht, und deswegen gibt es keine großen politischen Bewegungen. In Deutschland hatte die DKP immerhin vierzigtausend Mitglieder und dann kam noch die KPDML, die hatten auch eine eigene Kunstzeitschrift und so weiter. Da gab es wenigstens eine Zahl von Leuten, die ihre Kulturen kannten, welche Lieder das sind, welche Tempokulturen und so weiter. Aber natürlich kein Vergleich mit Frankreich oder Italien, wo die PCI hochprozentig und auch die KPF eine bedeutende Gruppe war. Das ist typisch für Deutschland gewesen, es war der besetzte Frontstaat gegen den Sozialismus, und das ist heute noch so und hat natürlich zurückgewirkt. In Italien gibt es keine PCI mehr, es gibt kein Pressefest der Unità mehr. Da sind meine „Bagatellen“ noch aufgeführt worden, in Reggio Emilia. Dieser internationale Austausch ist weg. Und deswegen wirkt auch das Politische so oberflächlich, ein bisschen als Tünche, kleine Farbe. Man müsste heute herausfinden, wo das Politische wirkliche Kanäle hat und nicht einfach nur kleine Fäden, die irgendwo wieder aufhören. Dazu könnte man schon mal Rosa Luxemburg und Karl Marx lesen, die über Alltäglichkeit geschrieben haben, oder auch so jemanden wie den Psychologen Wilhelm Reich mit seiner Orgon-Theorie, weil die Psyche ja auch etwas Reales ist. Es muss nicht immer nur C. G. Jung sein oder Freud, der Kühlste von allen. Da gibt es eine Fülle von Dingen, mit denen man sich beschäftigen kann, um überhaupt Spuren zu finden. Das ist auch diesseitig. Der Mensch ist nicht einfach nur, was man sieht. „Diesseitigkeit“ ist ein undialektischer Begriff.
Der Begriff dient ja – wie andere auch – nicht zuletzt der Abgrenzung der jüngeren Generation von der älteren, und das ist ja auch legitim.
Genau. Wenn es ihnen nützt, warum nicht?
Ganz oben auf der Agenda jüngerer Komponisten stehen Computer und Internet, ein geradezu globales Thema. Doch wo liegt sozusagen – um einen Begriff von Ihnen zu gebrauchen – das „Mikropolitische“ der alltäglichen Nutzung dieser Technologie? Dass man heute alles Mögliche downloaden, sampeln und remixen kann, hat jeder verstanden und muss nicht immer wieder demonstriert werden.
Genau, reiner medialer Imperialismus ist das eigentlich, oder noch weniger vielleicht. Als ich früher eine ganz einfache Stelle als Theorielehrer an der Folkwang-Hochschule hatte, habe ich einige Kurse in Gehörbildung unterrichtet, zum Beispiel anhand von verschiedenen Verpackungen oder Esswaren. Man beißt in einen Keks rein: Wie klingt das und wie ist es verpackt? Wie arbeiten die Akustikdesigner? Und im Internet: Welche Farben und Geschwindigkeiten gibt es dort, wie kommen da Sachen rein, was bewegt sich, oder steht und bewegt sich? Das funktioniert ja alles auf psychischem Wege, wie die Reklame funktioniert, die sind ja nicht doof. Da könnte man unglaublich viel über Musik lernen und wie man mit seinem eigenen Material umgeht. Aber diese Auseinandersetzung ist, weil sie so begrenzt ist, unglaublich hart. Und sie würde nie einen Betrieb ändern, also die Firma Bahlsen zum Beispiel oder Spaghetti-Firmen, die ihre Verpackungen gestalten, welche Folie, Farbe, was da draufsteht, und so weiter. Überall wird mit Video und solchen Dingen gearbeitet. Früher hat mich das sehr interessiert, aber jetzt nicht mehr so sehr.
Haben Sie die Diskussion ein bisschen verfolgt, etwa in den Heften der Neuen Zeitschrift für Musik zu „Ästhetische Debatten“ und „Konzeptmusik“? Sehen Sie Defizite darin?
Ja, ich finde, dass die neue „Konzeptmusik“ eigentlich nicht über das Happening hinausgeht. Von der Auffassung her ist es das, was Thomas von Aquin und James Joyce mit „etyms“ und Epiphanie meinten, dass plötzlich etwas in ein Leuchten kommt, in eine besondere Art von Wesenheit, wenn man es nur lange genug anschaut. Viele Happenings funktionierten so: Man geht auf ein Bahngleis und guckt einen Stein an. Was passiert? Sehe ich nur einen Stein? Ich muss ihn lang anschauen, ich muss ihn von den anderen unterscheiden, und er wird nicht nur immer schöner, er wird auch immer eigenartiger. Das sind ganz alte Begriffe und Formen, etwa bei Kreidler: Ein Teil stimmt, sozusagen das Auftreten, aber nachher ist nix mehr. Meine Kompositionsschüler mussten in den letzten Jahren etwas aus ihrer Partitur am Klavier vorspielen, und dann habe ich gefragt: Was hören Sie? Und wenn die gesagt haben: „Ich höre Fis und ich höre piano“ und so, dann habe ich gesagt: Das steht da, das brauchen Sie nicht hören, das steht da. Also: Üben, was höre ich, was nicht dasteht, aber trotzdem drin sein könnte. Und das ist bei diesen Naturalisten einfach gar nicht vorhanden. Das ist irgendwie viel zu „diesseitig“. Als Lehrer habe ich in den letzten Jahren immer zu meinen Studenten gesagt: „Macht doch mal Sachen, mit denen ihr in die Kneipe gehen könnt.“ Hat aber keiner fertiggebracht. Da muss man nämlich ganz anders komponieren, nicht um in der Kneipe was Schlechtes zu machen, sondern etwas wirklich Avantgardistisches, für eine Minute oder zwei Minuten. Aber man muss es kommunikativ so anlegen, dass man die Leute wirklich für zwei Minuten anspricht, fördernd. Aber das hat keiner fertiggebracht. Das wäre auch eine Diesseitigkeit, also die Vermittlungen, was in den sechziger Jahren ja auch aufgebrochen worden ist: Weg aus dem Konzertsaal in die U-Bahn-Schächte oder mit den Schlachtereien und so weiter. Das ist auch eine Diesseitigkeit gewesen, aber es hat viel mehr betroffen. Es war nicht dieses elegante Einfach-nehmen-Können, weil ich alles zur Verfügung habe. Ich kann das nehmen, ich kann dies nehmen, dann gehe ich vielleicht ein bisschen auf die Nerven und bin darüber schon froh.
Die Konzeptualisten wollen etwas bewirken und Leute ansprechen, streben aber zugleich auf Avantgarde-Instrumental-Festivals wie die Wittener oder Donaueschinger Musiktage, gehen also nicht in die Kneipe oder sind nicht wirkliche Internet-Komponisten, die ihre Arbeiten ausschließlich bei Facebook, YouTube, Spotify oder sonstwo einstellen, um dort ihr Publikum zu finden.
Auch das mit dem MP3-Player, was heißt das? Soll ich keinen mehr kaufen? Soll ich hören, was wegfällt? Was soll ich eigentlich tun? Wo ist sozusagen – wie Marx sagt – die gesellschaftliche Praxis? Welche Zukunft hat das? Es sind immer nur kleine Ausschnitte, die nie in einen großen Zusammenhang gebracht werden, auch wenn der Zusammenhang zusammenbrechen kann in bestimmten Zeiten, wie jetzt. Der Marxismus ist nicht zusammengebrochen, aber ganz bestimmt die staatliche Form und auch die entsprechenden parteilichen Bewegungen, die noch Organisationsformen hatten. Ich hätte meine „Revuen“ ohne die Organisationsform der DKP nie machen können. Das Auftragshonorar dafür war der Monatslohn eines Facharbeiters. Und das musste auf der Straße gespielt werden können, oder in Sälen mit tausend Leuten, in Kneipen. Das musste so stabil sein, dass es, egal wo es gespielt wurde, immer eine Stärke und Kraft hatte, auch von der Musik her. Heute sind Firmen ja dermaßen autonom und stark geworden, wie man an der Diskussion über den Genmais sieht, dass man mit ein bisschen „Occupy“ gar nichts ausrichten kann. Da ist ja nicht einmal eine Vision von Zukunft drinnen, sondern solcher Protest ist immer totale Gegenwart, und totale Gegenwart ist eigentlich das Gegenteil von Dialektik.
Ich spreche Sie auf den „neuen Konzeptualismus“ an, weil wir in den MusikTexten den Diskurs über konzeptuelles Musikdenken inhaltlich und personell weiten möchten und ich mir dazu auch eine Stellungnahme von Ihnen wünsche.
Nein, das muss von diesen Leuten kommen oder von anderen. Ich selbst bin ja ein Großvater und meine, es muss wenigstens von jemandem kommen, der seinem Alter nach gesellschaftlich sozusagen noch Vater ist. In den „Positionen“ [Heft 93] hat Björn Gottstein mal Ausschnitte aus einem Interview mit mir gebracht über Diesseitigkeit, Alltäglichkeit. Das hat mir gereicht. Auch was ich jetzt hier gesagt habe, würde schon reichen. Denn die Verhältnisse sind nicht so, dass sie den Geist in diese Richtung freimachen. Ich bin überzeugt, dass wir jetzt eine Situation haben, in der man viel mehr über Musik nachdenken soll, und zwar nicht mit dieser Entnahme von Nicht-Musikalischem, sondern mit der umgekehrten Frage: Was braucht die Musik jetzt? Damit bin ich mehr beschäftigt. Wenn man als Marxist aufgewachsen ist oder sich bemüht hat, dann findet man eigentlich diese ganzen Gedankengänge im Grunde zurückgeblieben. Die Dialektik und Hegel sind schon weit drüber hinaus. Oder bei Lukács heißt es, das Ding-an-sich soll ein Ding-zwischen-den-Menschen werden, also es wird plötzlich etwas Bewegliches, Kommunikatives, weil man anfängt, es zu befragen und zu werten.
Gewisse Parallelen zwischen der Situation heute und den sechziger, siebziger Jahren gibt es aber doch zweifellos hinsichtlich der Intention, gesellschaftliche Fragen in und durch Musik zu thematisieren.
Genau, nicht denken, dass die Sphären entfremdet sind. Wenn man zum Beispiel so jemanden wie Habermas nach Darmstadt holen könnte, dann sollte der dort nicht über Musik sprechen, dafür hat man die Komponisten und Instrumentalisten, sondern er sollte über Philosophie und die Gegenwart sprechen. Das ist keine entfremdete Sphäre, denn man muss fähig sein, diesen anderen Bereich in die Musik hineinzunehmen. Das ist eine Aufgabe! Nicht einfach nur Tonsatz oder so, sondern das hat kommunikative, menschliche und sinnliche Elemente, und die Philosophie ist auch ein Sinn. Deswegen finde ich, je fremdartiger Leute fachlich sind und je fremdartiger sie über bestimmte Dinge sprechen, umso besser ist es für die Komponisten. Je fremder, desto radikaler kann die Kur sein.