MusikTexte 145 – Mai 2015, 86–90

Kontra Zepter

Kommentar zur Umfrage „(Neuer) Konzeptualismus“

von Rainer Nonnenmann

Die Leute sollen merken, dass sie selbst ihre Erfahrungen machen und dass sie ihnen nicht fertig vorgesetzt werden.

John Cage1

Die ausgeuferten Debatten zu „Digitalisierung“, „Diesseitigkeit“, „Welthaltigkeit“, „Gehaltsästhetik“, „Konzeptualismus“ und „Konzeptmusik“ lassen sich auf keinen Punkt bringen. Ebenso wenig ist eine Quintessenz der vorliegenden Umfrage zum (Neuen) Konzeptualismus zu ziehen. Trotzdem soll hier eben dies in aller Skizzenhaftigkeit versucht werden, um ein bisschen systematischen Überblick und kritische Distanz in den überreichen Dschungel divergierender Aspekte und Thesen zu bringen. Denn bei aller Vielstimmigkeit der individuellen Positionen und kontroversen Sichtweisen lässt die Summe der versammelten Beiträge zugleich einige übergeordnete Anliegen, Entwicklungen und Fragen erkennen. Diese betreffen das Theorem von einer „gehaltsästhetischen Wende“ ebenso wie die Frage nach der Neuheit des „Neuen Konzeptualismus“ versus der bleibenden Aktualität von Ansätzen der sechziger Jahre, auf die sich ausdrücklich auch die „Neuen Konzeptualisten“ berufen. Ferner wird offensichtlich, dass die Zielsetzungen und Argumentationen der Autoren stark von ihrer Herkunft und Generationszugehörigkeit abhängen. Anders ausgedrückt: Hinter der wechselseitig geäußerten Kritik der jungen Komponisten an den etablierten, sowie umgekehrt der älteren an den jungen, schwelt ein veritabler Generationenkonflikt, der sich auch in verschiedenen Auffassungen des Kunstcharakters von Musik niederschlägt.

Neue neue Musik

Die jüngere Generation richtet ihr Negativbild neuer Musik (siehe das Editorial zur Umfrage) gegen die Vätergeneration und skizziert damit zugleich ex negativo die Zielsetzungen der eigenen Musik. Diese wünscht man sich wirklich neu, innovativ, technisch avanciert, originell, spannend, lebendig, aktuell, vielsagend, verständlich, sinnlich, kritisch, bissig, relevant, anschlussfähig an gesellschaftliche Diskurse, Hör- und Alltagserfahrungen. Wunderbar, wenn das auch gelingt. Im Grunde verfolgen diese Anliegen alle Komponisten von A wie Michel van der Aa bis Z wie Florian Zwißler. Beispielsweise zu nennen wären Annesley Black, Malte Giesen, Lars Petter Hagen, Robin Hoffmann, Ole Hübner, Paul Hübner, Neele Hülcker, Leopold Hurt, Gordon Kampe, Johannes Kreidler, Rodrigo López-Klingenfuss, Sergej Maingardt, Maximilian Marcoll, Eduardo Moguillansky, Brigitta Muntendorf, Stefan Prins, Trond Reinholdtsen, Martin Schüttler, Hannes und Niklas Seidl, Jagoda Szmytka, Simon Steen-Andersen, Lisa Streich, Joanna Wozny, und viele andere mehr. Etliche dieser Komponisten sind mit Stellungnahmen in der Umfrage vertreten. Die meisten verfolgen konzeptuelle Ansätze, wehren sich aber zugleich gegen die Verschlagwortung als „Konzeptualisten“. Manche ziehen andere Begriffe vor: Sebastian Clarens Begriff „explizite Musik“ unterstreicht, dass der Programmhefttext Teil eines Stücks wird; Patrick Frank spricht von „Diskurskomposi­tion“, um Kunst und Theorie in etwas Drittes zu überführen; Stefan Prins verweist auf die Rede von „sound satura­tion“ bei Raphaël Cendo, Franck Bedrossian und Yann Robin; Michael Maierhof und Martin Schüttler sprechen statt von Konzepten lieber von Kontexten beziehungsweise „einer über ihre Kontexte informierten Musik“; und mit Rücksicht auf den Einsatz von Fremdmaterial und Medien bevorzugt Simon Steen-Andersen den Ausdruck „extended music“.

Die Arbeit der Genannten verdient Respekt, und insofern auch Anerkennung, wenn sich der Anspruch an lebenspralle neue Musik in ihren Konzepten und Stücken tatsächlich einlöst. Wie viele andere zeitgenössische Komponisten und Strömungen bereichern und beleben sie die neue Musik. Sie sind willkommen und haben – allem Lamentieren über den Konservatismus der Institutionen zum Trotz – längst ihren Platz in den einschlägigen Foren der neuen Musik gefunden, in Hochschulen, Publikationen, Verlagen, Festivals, Konzert- und Sendereihen. Die in den neunziger Jahren geborene jüngste Generation versteht daher die ganze Aufgeregtheit der verflossenen Debatte nicht, die für sie längst Geschichte ist. Wie viele Autoren der Umfrage stellt beispielsweise Ole Hübner, Jahrgang 1993, mit demonstrativ postkonzeptueller Gelassenheit fest, dass für ihn und seine Generation konzeptuelles Denken eine Selbstverständlichkeit sei. In der Tat haben konzeptuelle Vorstellungen, Ideen und Phantasien jeglicher Art schon in der Vergangenheit Musik beflügelt und tun dies weiterhin, ohne dass sie deswegen bereits unter einen neuen „Ismus“ gefasst werden müssten. Jennifer Walshe bringt diese Einsicht auf die Formel: „Neuer Konzeptualismus ist [weil dieses Schlagwort mit Johannes Kreidler identifiziert wird] proprietär. Konzeptualismus ist Open Source.“ Auch Jörg Birkenkötter will konzeptuelles Denken nicht auf bloße Algorithmen und Automatismen reduziert sehen, sondern sieht darin eine unverzichtbare, spekulative „Denktechnik“, welche die kompositorische Phantasie über Gewohnheiten, subjektive Vorlieben und vermeintliche Sicherheiten hinaus ins „Unbekannte, Unabgesicherte, Neue“ vordringen lässt, worauf der Komponist dann seinerseits sensibel zu reagieren habe.

Gehalt mit aller Gewalt

Zur Beschreibung tiefgreifender Veränderungen in Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft kann das Ausrufen sogenannter „turns“ hilfreich sein. Zugleich sind solche „Wenden“ oft nur wissenschaftliche Selbstlegitimierungsversuche und „self-fulfilling prophecies“. Das gilt vom „linguistic turn“ und „iconic turn“ ebenso wie vom jetzt proklamierten „semantic turn“ und „conceptual turn“, den hinsichtlich der Kunst und Musik der sechziger Jahre – worauf Peter Ablinger in seinem Beitrag verweist – schon im Jahr 2000 Rosalind Krauss ausgerufen hatte. Harry Lehmann begründet die von ihm proklamierte „gehaltsästhetische Wende“ – auch in diesem Heft – damit, dass sich der Kunst- und Neuheitsanspruch der neuen Musik heute nicht länger über die Arbeit am ästhetischen Material, sondern nur noch „über neue ästhetische Gehalte im einzelnen musikalischen Kunstwerk realisieren“ lasse. Doch indem Lehmann Adornos historisch objektiv notwendige Tendenz des Materials ex negativo zur Grundlegung eines vermeintlich neuen Paradigmas heranzieht, restituiert er eben diese Doktrin, ohne zu sehen – worauf Jörg Birkenkötter hinweist –, dass Materialfortschritt für die allermeisten Komponisten schon seit Anfang der achtziger Jahre kein zentrales Thema mehr ist. Die Proklamation einer „gehaltsästhetischen Wende“ kommt daher gut dreißig Jahre zu spät.

An anderer Stelle bedient sich Lehmann des Gegenbegriffs „absolute Musik“ als Beispiel für eine rein „immanentistische“ Ästhetik, von der sich die Konzeptualisten abgrenzen. „Absolute Musik“ ist aber kein überzeitlicher Terminus, sondern ein historischer Kampfbegriff der Zeit um 1800, mit dem die bis dato als sinn- oder gehaltfrei abqualifizierte Instrumentalmusik – gegenüber dem Primat der Vokalmusik – gerade als besonders gehaltvoll aufgewertet werden sollte. Die Freiheit von kirchlichen Funktionen, feudalen Repräsentationszwecken und vertonten Texten befähigte die „absolute Musik“ für die Romantiker zu einem qualitativ völlig neuen Ausdruck anderer Gehalte und Ideen. Wer wollte behaupten, Beethovens Werke – Inbegriff „absoluter Musik“ – hätten keinen Gehalt? Der Begriff taugt folglich nicht als Antithese zu „Gehaltsästhetik“.

Indes reagierte die frühe Philologie hilflos auf den formsprengenden, dramatisch sprechenden Gestus von Beethovens „Ideenmusik“, der man nicht anders beizukommen wusste als durch Biographismus oder mit Erzählungen von im Notentext kaum belegbarer literarischer beziehungsweise frei assoziierter Programme. Derlei hermeneutische Verirrungen kann sich heute keiner mehr zurückwünschen. Und doch schleicht sich davon etwas ein, wenn Musik ihren Gehalt nicht aus sich heraus entfaltet, sondern durch nicht-musikalische Elemente von außen aufgesetzt bekommt oder sich dezidiert anästhetisch gibt und statt auf ästhetische Erfahrung mit allen Sinnen und Verstandeskräften primär auf gedankliche Reflexion zielt. Für Michael Maierhof lenkt das „Herbeizerren“ von Programmen und Inhalten regelrecht vom Problem musikalischer Arbeit ab, die für den Komponisten immer noch auch im „Ausbalancieren von Klang und Pause“ bestehen kann. Nicolaus Brass brachte die Nicht-Musikalität eines Konzepts sogar zur Einsicht: „... die Reinform von Konzeptmusik ist Programmmusik“. Und während Sebastian Claren im Gehaltsparadigma die Gefahr einer publikumswirksamen „Feuilletonmusik“ sieht, erkennt Markus Hechtle dagegen in der Ausdrucks- und Ich-Losigkeit der Konzepte gerade die Inhaltsleere solcher Arbeiten.

Kunst und Musik entfalten ihren Gehalt im Zusammenspiel von Ausdruck, Gestik, Material, Struktur und Form. Das gilt auch für Anti-Kunst und Anti-Musik, bei der einer oder mehrere dieser Dimensionen auf ein Minimum reduziert sind. Insofern ist jede Kunst und Musik – wenngleich mit unterschiedlicher Gewichtung – gehaltvoll, emotional, ideell, politisch, sozial und lebensweltlich verankert. Kant und Hegel sprachen von „ästhetischen Ideen“, die dem Rezipienten viel zu denken und zu erleben geben, Hanslick und Schönberg handelten – worauf Claus-Steffen Mahnkopf verweist – von „musikalischen Gedanken“. Um den „Gehalt“ einer Komposition zu erfassen, bedarf es einer hellhörigen und analytisch präzisen Durchdringung der Faktur der Musik sowie deren inner- und außermusikalischer Kontexte.

Gehalt verkommt zum bloßen Märchen, wo er sich auf Titel, Texte, Widmungen und Zitate beschränkt oder im Einsatz von Elektronik, Computer, Samples, Bildern, Videos, Alltagsgegenständen und -klängen erschöpft. Die von vielen jungen Komponisten favorisierten audiovisuellen Aufnahme-, Speicher-, Produktions- und Wiedergabemedien garantieren allein noch keinen substantiellen Gegenwarts- und Weltbezug von Musik. Der in wortreichen Moderationen und Theoriebildungen erhobene Wirkungsanspruch muss sich erst in der Praxis des Komponierens und Musikhörens einlösen. Entziehen sich die Resultate jedoch der ästhetischen Erlebbarkeit, so bleiben sie Teil eines intellektualistisch verspielten und – wie Birkenkötter beklagt – „erschreckend unmusikalischen“ Wolkenkuckucksheims, das über den Inner Circle der neuen Musik ebenso wenig hinausreicht wie irgend eine andere unvertraute Kunstäußerung jenseits des Mainstreams. Gehalt bleibt so lange leere Behauptung, wie er nichts mit den tatsächlich komponierten Materialien, Techniken, Strukturen und Formverläufen zu tun hat und sich ästhetischer Erfahrung entzieht. Denn das „Wie“ der Faktur eines Werks ist nicht vom „Was“ und „Wozu“ seines ästhetischen Gehalts zu trennen, andernfalls wäre dieser bloß aufgesetzt, statt wirklich „ästhetisch“ aus dem Werk zu erwachsen und entsprechend erlebbar zu sein.

Komponieren nahm immer schon Anteil an der Wirklichkeit, und Musik war und bleibt ein Bestandteil der sinnlich erlebbaren Welt. Das gilt auch für Werke, die ausdrücklich dem romantischen Modell der Gegenwelt und dem ästhetischen Autonomieprinzip folgen, wesalb Trond Reinholdtsen zu Recht fragt: „Sollte Kunst nicht eher danach streben, was die Welt nicht ist?“ Und das gilt nach 1950 auch für herausragende Werke der Avantgarde, die sich ausdrücklich der Erweiterung des musikalischen Materials verpflichtet sahen und von der angeblich tristen Regel gehaltloser neuer Musik keine rühmlichen Ausnahmen bilden, sondern deren Kanon: etwa Stockhausens „Kreuzspiel“ und „Momente“, Nonos „Il canto sospeso“, Xenakis’ „Metastaseis“, Ligetis „Atmosphères“, Kagels „Match“, Berios „Sinfonia“, Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“, Feldmans „Rothko Chapel“, Henzes „Tristan“ und Neunte Sinfonie, Klaus Hubers „Tenebrae“, Nicolaus A. Hubers „Harakiri“, Lachenmanns „Kontrakadenz“ und „Tanzsuite“, Wolfgang Rihms „Subkontur“, Griseys „Les espaces acoustiques“, Spahlingers „passage/paysage“ und „doppelt bejaht“, Goebbels „Surrogate Cities“, und und und. Die proklamierte „gehaltsästhetische Wende“ – für Gisela Nauck eine „historisch nicht haltbare Schimäre“ – erweist sich so in Wirklichkeit ganz schnell als eine gerade Linie, mithin als durch alle Brüche und Materialerweiterungen der europäischen Kunstmusik hindurch kontinuierliche Fortsetzung des seit Jahrhunderten verankerten Verständnisses von Musik als Medium begriffsloser Selbst- und Welterkenntnis. Warum also die Dinge künstlich gegeneinander ausspielen statt sie zusammenzudenken?

Generationenkonflikt

Maßgeblich geprägt, vielleicht sogar ursächlich veranlasst wurde die Debatte der letzten Jahre – was viele Autoren der Umfrage beobachten – durch einen Generationenkonflikt, der den Ton verschärft und dazu geführt hat, dass vielfach – so die Feststellung von Manos Tsangaris – der Respekt gegenüber Andersdenkenden und die dem Konzeptualismus angemessene Leichtigkeit verloren ging. Der in den dreißiger und vierziger Jahren geborenen Komponisten- und Lehrergeneration tritt die in den siebziger und achtziger Jahren geborene Schülergeneration mit dem berechtigten Anspruch entgegen, künstlerisch auf ihre veränderte und vor allem medial durchdrungene Arbeits- und Lebenswelt zu reagieren. Beide Generationen verbindet und trennt der – infolge verschiedenen Renommees – ungleiche Kampf um kostbare Ressourcen, Finanzmittel, Aufführungen und mediales Echo. Die Generationszugehörigkeit stiftet daher Allianzen und Lagerbildungen wie sie zugleich den Konkurrenzdruck unter Gleichaltrigen verschärft. Denn aller Gruppenzugehörigkeit und Schwarmintelligenz der Social Media zum Trotz arbeitet letztlich jeder Künstler für sich allein. Dass die jüngeren ihre Stellung dabei auch durch Abgrenzung von den älteren bestimmen, ist seit je ein gängiges und legitimes Verfahren. Doch sollte diese Profilierungs-Strategie von den beteiligten Künstlern und Journalisten durchschaut und entsprechend relativiert werden. Andernfalls werden Positionen verabsolutiert, die nur relational als Mittel der Selbstbestimmung zu verstehen sind.

Zu Beginn seiner Karriere kritisierte zum Beispiel auch Helmut Lachenmann die älteren Komponisten Kagel, Ligeti und Penderecki, denen er „Verharmlosung des avantgardistischen Anspruchs“ vorwarf, weil sie durch „reaktionären Humor“, „verdinglichte Emotionalismen“, „geborgte Klischees“ und „Reste philharmonischen Denkens“ dem Publikum unverbindliche „Querfeldein-Kontakte“ zur Musik gebahnt und damit die Avantgarde in den etablierten Musikbetrieb „eingebürgert“ hätten.2 Heute wird nun Lachenmann von manchen Jungen – vermutlich gerade, weil er vielen ein Wegbereiter war – schärfer kritisiert als etwa der ohnehin für jenseits von Gut und Böse befundene Wolfgang Rihm. Lachenmanns erweiterte Spieltechniken gehören längst zum Repertoire der neuen Musik und seine Werke sind Teil des einst von innen heraus kritisierten bürgerlichen Musikbetriebs. Jede noch so radikale Abweichung vom herrschenden ästhetischen Apparat wird irgendwann von diesem vereinnahmt. Das ist der Lauf der Zeit. Doch manch polternder Kritiker hat offenbar immer noch nicht begriffen, dass es Lachenmann nie bloß um neue Spieltechniken oder Materialfortschritt ging, sondern primär um die dialektische Neubestimmung bekannten Materials zum Zweck eines neuen Hörens. Und was wäre dagegen einzuwenden? Vielmehr ließe sich hierüber – man muss es nur wollen – jenseits künstlich gezogener Frontlinien manch substantielle Gemeinsamkeit entdecken. Wohltuend sachlich beschreiben daher Michael Beil, Jörn Peter Hiekel und Elena Ungeheuer die Arbeit mit Konzepten und deren Auswirkungen auf Resultat und Kunstbegriff.

Bleibende Aktualität

So wenig angemessen es wäre, gemäß dem Sprichwort „Wie die Alten sungen, so twittern auch die Jungen“ die Anliegen der Jungen als bloßen Aufguss bereits existierender Ideen abzutun, so wenig kann unkommentiert bleiben, das die Jungen – wie sie selbst unterstreichen – auf Errungenschaften ihrer Vorläufer aufbauen. Tatsächlich liegen die Kontrahenten in manchen Punkten gar nicht so weit auseinander wie von ihnen selbst behauptet. Die größten Schnittmengen gibt es mit dezidiert anti-romantisch, anti-künstlerisch und anti-ästhetisch motivierten Ansätzen wie Dada, Ready-made, Art brut, Pop Art, Nouveau Réalisme, Happening, Fluxus, Performance, Aktionismus, Situationismus, Konkretismus … Zu nennen sind auch die elektroakustischen Collagen von Cage, Schaeffer, Henry, Stockhausen und Fritsch, die Videokunst von Nam June Paik und Robert Ashley, der Polystilismus von Alfred Schnittke und Bernd Alois Zimmermann, die Klangkunst von Max Neuhaus und Bill Fontana, das Environment von R. Murray Schaffer, die Konzertinstallationen und Verbalpartituren von La Monte Young und Alvin Lucier. Weitere Bezugspunkte bilden die sprach- und ideologiekritisch gemeinten multilingualen und intermedialen Arbeiten von Schnebel, Kagel, Helms, Vostell und George Brecht sowie aus dem Grenzbereich zur Popmusik Strömungen wie Industrial, Noise und Ars Electronica. Ferner zu nennen sind Nicolaus A. Hubers „konzeptionelle Rhythmuskomposition“, „konzeptionelle Einstimmigkeit“ und „kritisches Komponieren“ sowie Mathias Spahlingers „konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten“. Angesichts all dieser Ansätze wird die Rede von einer konzeptuell gestützten „gehaltsästhetischen Wende“ mehr als fraglich.

Doch allen Rückgriffen oder Kontinuitäten zum Trotz – auf die nicht zuletzt die Amerikaner Alvin Curran, Gordon Mumma, Pauline Oliveros und Christian Wolff verweisen – wäre die Haltung „Alles schon dagewesen“ – das lehren alle Kulturpessimisten der Vergangenheit – vereinfachend und irrig. Immerhin konstatiert Sabine Breitsameter einen seit Ende der achtziger Jahre einsetzenden „Roll Back“, der konventionelle Ansätze verstärkt vermarktet und experimentelle Ansätze konventionalisiert habe, indem beispielsweise die Klangkunst durch „Musikalisierung“ ihrer ursprünglich spartenübergreifenden Originalität und „nicht-standardisierten Publikumsbeziehung“ beraubt wurde. Ebenso verweist Peter Ablinger auf die Dominanz der klassisch instrumentalen Konzert- und Präsentationsformen gegenüber konzeptuellen Ansätzen, um zugleich klarzustellen, dass kaum einer der mit dem Etikett „Konzeptmusik“ beklebten Komponisten das „klassische Setup“ gänzlich verlassen habe. Insofern ist die gegenwärtige Wiederentdeckung von Ansätzen der sechziger Jahre durchaus eine Bereicherung. Und wie schon Max Weber allgemein für technologische Entwicklungen feststellte, wirken sich die quantitativ und qualitativ veränderten Möglichkeiten der geradezu explodierenden Speicher- und Rechenleistungen samt der daraus folgenden Miniaturisierung, Flexibilisierung und Universalisierung der Digitaltechnologie – wie sie vor allem Neele Hülcker und Johannes Kreidler betonen – auf das Kunstwollen aus, ohne dass der bloße Einsatz neuer Medien schon Originalität garantiere. Stefan Prins beschreibt als sein zen­trales Thema die technologische „Infiltration“ von Alltag und Musik. Selbstverständlich ist alles im Wandel, nur vollzieht sich vieles mit längerem Vorlauf und in kleineren Schritten als mancher digitale Revolutionär postuliert, und hat sich einiges schon tiefgreifender verändert als manch analoger Dinosaurier hofft.

Digitalisierung

Der Vorwurf, die jüngere Generation verhalte sich der Musikgeschichte gegenüber ignorant, weil sich ihre Informa­tionskanäle auf das Internet beschränken, fällt auf den zurück, der sich den veränderten Informations-, Produktions- und Präsentationsformen im Internet verweigert. Auch Medienverhalten ist generationsspezifisch. Martin Hiendl sieht im Zuge der „Medienrevolution“ die ältere Generation bereits „durch technischen Analphabetismus ihre Mitsprachemöglichkeit“ verlieren. Immer mehr Verlage, Labels, Bibliotheken, Videotheken, Diskotheken, Archive, Museen und Millionen Einzelpersonen stellen ihre Bestände und Informationen im Internet zur Verfügung. Doch hat damit im Web 2.0 noch längst nicht alles seine adäquate Präsenta­tionsform gefunden. Insbesondere Musik verliert – online zum „Content“ entwertet – ihre essentielle Materialität und Sinnlichkeit. Doch genau diese mediale Überformung der Klänge, Bilder und Texte durch das Internet steht ganz oben auf der künstlerischen Agenda der jungen Konzeptualisten. Und das totale Archiv des Internets wirft weitere Fragen auf: Inwiefern kann ein Künstler bestehende Dinge einfach benutzen und in neue Strukturzusammenhänge bringen, in denen die verwendeten Materialien ihre spezifische Qualität entweder entfalten, verlieren oder ändern? Und inwiefern ist es einem Künstler erlaubt, Dinge zu tun, von denen er nicht weiß oder wissen will, dass sie vor ihm bereits von anderen getan wurden? Da kein Komponist voraussetzungslos aus dem Nichts schöpft, besteht der Sinn von Kunst nicht zuletzt in der Neubestimmung von bereits Bekanntem. Und da sich Unwissenheit nicht verbieten lässt, hat jeder das Recht, sich so unhistorisch und uninformiert zu verhalten, wie er will. Zudem ist keiner verpflichtet, im eigenen Tun ständig der Vorfahren und Lehrer zu gedenken. Doch um nicht Epigonales zu produzieren, sollte, wer Neues schaffen will, auch das Alte kennen. Und damit beginnen die Probleme.

Die gegenwärtige Debatte kulminiert in der Frage, inwieweit es sich beim „Neuen Konzeptualismus“ tatsächlich um „neue“ Ideen, Ansätze, Techniken, Materialien und Wirkungsabsichten handelt. Reicht zur Begründung der immer wieder angeführte Verweis auf die neuen Möglichkeiten der Digitaltechnologie? Führt die ubiquitäre Reproduzierbarkeit und Verfügbarkeit von Klängen, Bildern, Texten – bei allen unleugbaren Chancen von Computer und Internet – nicht auch zu Verdinglichung, Fetischisierung, Standardisierung, Beliebigkeit und Entqualifizierung oder gar – wie Nicolaus A. Huber im Interview sagte – zu einem „medialen Imperialismus“? Vielfach wird die Digitaltechnologie einfach affirmativ benutzt, ohne ihre spezifische Medialität und Verwendungsweise kritisch zu befragen. Angesichts der universalen Verfügbarkeit von Klängen und Bildern im Zeitalter von Download, Cut, Copy & Paste müssen die von den Komponisten angewandten Konzepte, Instrumente, Stimmen, YouTube-Videos, Photos, Popsongs, Samples, Field Recordings, Texte und Moderationen erst durch die Art ihrer Strukturierung beweisen, ob und wie sie sich ästhetisch erleben lassen und Wirklichkeitsbezüge entfalten, oder ob Musik dabei bloß durch außermusikalische und tendenziell an-ästhetische und logozentrische Narrative ersetzt wird.

Und wie neu ist eigentlich die Digitalisierung der neuen Musik? Immerhin benannte Gottfried Michael Koenig, einer der Pioniere der Computermusik, bereits vor bald fünfzig Jahren zentrale Anwendungsmöglichkeiten des Computers im musikalischen Bereich: „Analyse musikalischer Texte, Komposition von Musik, Produktion musikalischer Klänge, Herstellung von Partituren.“3 Und angesichts der Überformung der musikalischen Produktion, Distribution und Rezeption durch die Medien und der daraus resultierenden Krise der Institutionen prägte Kurt Blaukopf schon 1989 den seither mit Blick auf die Digitaltechnologie weiter entwickelten Begriff der „Mediamorphose“.4 Doch lange Zeit haben sich nur wenige Komponisten mit den Auswirkungen der technologischen Entwicklungen auf das künstlerische Schaffen und die Verbreitung und Wahrnehmung von Musik auseinandergesetzt. Dass dies jetzt mit Nachdruck geschieht, war hoch an der Zeit. Allerdings muss sich am Einsatz der neuen Medien und Materialien allererst die strukturell brechende und gestaltende Kraft einer Komposition oder eines Konzepts erweisen. Theoretischer Anspruch und kompositorische Praxis sind abzugleichen, um gegebenenfalls Divergenzen zu benennen und Kritik zu üben.

Kunst und Charakter

Die Frage nach der Neuheit des „Neuen Konzeptualismus“ ist letztlich nur im Einzelfall des jeweiligen Stücks zu beantworten. Sie berührt die grundsätzliche Frage nach dem Kunstcharakter von Kunst, die gerade dadurch historisch wirkungsmächtig geworden ist, dass sie zu verschiedenen Zeiten immer wieder neu aufgeworfen und anders beantwortet wurde. Die Wiederkehr dieser Frage im Zuge der Debatte um den „Neuen Konzeptualismus“ zeugt daher weniger von Einfallslosigkeit oder unorigineller Rückgewandtheit als vielmehr von der vitalen Fähigkeit der neuen Musik zu Kritik und Selbstkritik. Im Laufe der Geschichte gab es neben Stilkritik immer wieder auch Kritik am Kunstsystem insgesamt. Albrecht Wellmer vertrat die Auffassung, bedeutende moderne Kunst sei „immer zugleich auch eine im Medium der Kunst selbst sich vollziehende Reflexion auf den Begriff, die Idee der Kunst gewesen, und damit zugleich eine Kritik an dem, was aus der Kunst – institutionell und im Bewusstsein der Gesellschaft – geworden ist“.5 In diesem Sinne sprengten die historischen Avantgardebewegungen vor dem Ersten Weltkrieg sowie die Nachkriegsavantgarde den bis dato jeweils gültigen Kunst- und Musikbegriff. Als Gegenbewegung zum seriellen L’art pour l’art versuchten dann in den sechziger Jahre jüngere Komponisten, ihre Musik durch dezidiert anti-künstlerische Momente wieder direkter an die Lebenswelt anzuschließen. Und genauso lehnen sich heute jüngere Komponisten gegen brave Selbstgenügsamkeit und gepflegte Routine auf. Statt auf handzahme Stilkritik zielen manche auf Fundamentalkritik am Musikbetrieb, um ein grundsätzliches Nachdenken über Sinn und Zweck neuer Musik anzustoßen. Das ist aller Ehren wert, sagt in Bezug auf die einzelnen Projekte aber noch nichts über deren tatsächliche Originalität, Qualität und Wirksamkeit aus.

Der seit den neunziger Jahren zunehmend enthierarchisierte und entkanonisierte Kulturbegriff stellt heute Erscheinungen der vormaligen „Hoch“-, „Sub“-, „Pop“- und „Alltags­kultur“ auf dieselbe Ebene. Alles erscheint gleichwertig, und durch „Crossover“, „Remix“ und „Mashup“ lässt sich alles mit allem zusammenbringen. Doch weil alles gleich gültig ist, ist noch nicht gleichgültig, aus welchen Kunst-, Kultur- und sonstigen Lebensbereichen die Erscheinungen stammen. Im Gegenteil, Unterscheidung ist nötiger denn je. Während man vor ein, zwei Generationen sich noch sicher sein konnte, dass Kunstmusik ist, was im Konzert- oder Opernhaus gespielt wurde, stehen heute die Qualitätskrite­rien von Kunst in jedem Einzelfall zur Diskussion. Vermeintlich Avantgardistisches kann sich als restaurativ herausstellen, Veraltetes als Avantgarde, Kitsch als Kunst, Trash als Treasury, Pop als Art. Dieser totale Pluralismus verunsichert und befördert Gleichmacherei im Sinne postmoderner Beliebigkeit. Er bietet aber auch die Chance, den Kunstcharakter von Musik neu zu definieren. Eben dies versuchen die jungen „Konzeptualisten“. Ähnlich früheren Stilwechseln und fundamentalen Systemkritiken befragen sie den Welt-, Kunst- und Musikbegriff und betonen anstelle des fest Fixierten und über die Gegenwart hinaus für die Nachwelt Tradierbaren vielmehr den Charakter des Prozessualen, Offenen, Unfertigen und Augenblickshaften. Umso mehr muss sich der Kunstcharakter des Ereignisses hier und jetzt einlösen. Alvin Curran und Bill Dietz unterstreichen in Bezug auf die Kunst und Musik der sechziger Jahre das heute erneuerte Anliegen, Kunst zu „entobjektivieren“, um sie dem bürgerlichen Besitz- und Konsumdenken zu entziehen. Ähnlich formuliert nun Martin Hiendl, Jahrgang 1986, seine Hoffnung auf das „kreative Kollektiv“.

In der jüngst vielfach geäußerten Ablehnung der Kategorien „Meisterwerk“ und „Genie“ artikuliert sich berechtigte Kritik an Verwertungsmechanismen des saturierten Musikbetriebs, in dem diese Begriffe vor allem eine Marketingfunktion erfüllen, während sie im ästhetischen Diskurs keine oder allenfalls eine unterschwellige Rolle spielen. Die Kritik an merkantilen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsweisen bringt jedoch vorschnell den Kunstcharakter von Musik insgesamt in Misskredit. Denn der Grat zwischen spielerisch leichter oder diffamierend ätzender Kunstkritik im Dienste erneuerter Kunsterfahrung und bloß unterhaltenden Genres ist schmal. Manche Künstler liebäugeln gegenwärtig unverhohlen mit Entertainment, Comedy, Gag, Jux, Soap, Klatsch und Klamauk. Vieles bleibt bloße Ironie und damit letztlich unverbindlich und positionslos. Entgegen der oft behaupteten Negativität, Widerständigkeit und Sprödigkeit mancher Konzepte bescheinigt Marcus Schmickler diesen im Gegenteil eine nachgerade anbiedernde Eingängigkeit: „concept is juicy“. Ebenso hinterfragt Trond Reinholdtsen die vermeintliche „Progressivität“ von Konzepten angesichts von deren höchst profitablem Ausverkauf durch millionenschwere Konzeptkünstler wie Damien Hirst. Und Marion Saxer sieht – bei aller Sympathie für „Mischformen von Konzept und Komposition“ – einen regelrechten Boom an Arbeiten mit „Internet-Trash“, deren Resultate sich von einer „bewusstlosen Reproduktion bewusstlosen Switchens im Netz“ kaum unterscheiden. Nicht die schiere Verfügbarkeit von Genres, Sujets, Stilen, Materialien und Medien ist entscheidend, selbst wenn diese im Digitalzeitalter eine neue Quantität und Qualität erreicht hat, sondern deren kompositorische Verarbeitung.

Verantwortung

Wie alle Menschen sollten auch Musiker ihre Möglichkeiten realistisch einschätzen. Wer meint, gesellschaftspolitische Fragen musikalisch aufwerfen zu müssen, nimmt sich womöglich als Komponist zu wichtig und macht sich als Mensch und Zoon politikon zu klein. Wo politisches Handeln gefordert ist, sollte politisch gehandelt werden und man sich dreimal fragen, was Musik eventuell beitragen kann. Was zeichnet den Blick eines Komponisten auf die Welt vor den Einsichten anderer aus, die als Politiker, Industrielle, Militärs, Banker, Handwerker, Beamte, Angestellte oder Arbeiter in ihren Bereichen bestimmte Zusammenhänge und Wirkungsweisen vermutlich besser durchschauen als ein Künstler, der sich in seligem Angedenken an die vordergründig zwar zurückgewiesenen, unterschwellig aber umso hartnäckiger fortwirkenden romantisch-messianischen Kategorien von Genie und Kunstreligion für die Rettung der Menschheit verantwortlich fühlt? Wer sich an solchen Ansprüchen misst, ist leicht vermessen. Gleichwohl ist unstrittig, dass auch Musiker soziale Verantwortung haben. Und verantwortliches Handeln setzt kritische Selbst- und Welterkenntnis voraus. Auch Musiker sollten sich bewusst machen, welchen Platz sie in der Gesellschaft einnehmen und welche Wirkung ihre Arbeit in der aktuellen kulturellen, sozialen und politischen Situation hat und vielleicht haben sollte. Theoretischer Anspruch ohne realistischen Praxisabgleich mit der Wirklichkeit ist wertlos. Schließlich wird sich in wenigen Jahren erweisen, was sich nach allen hitzigen Kontroversen der Musikgeschichte immer schon gezeigt hat und sich bereits jetzt schon in der Debatte um den „Neuen Konzeptualismus“ abzeichnet: So manches Werk bleibt wohl bestehen, der Schaum der Worte wird vergehen.

1John Cage, Interview mit Roger Reynolds und Robert Ashley, in: Happenings: Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme, herausgegeben von Jürgen Becker und Wolf Vostell, Reinbek: Rowohlt, 1965, 162.

2Helmut Lachenmann, Zur Analyse neuer Musik (1971/91), in: Derselbe, Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, herausgegeben von Josef Häusler, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1996, 21–34.

3Gottfried Michael Koenig, „Notizen zum Computer in der Musik“, in: The World of Music: Quarterly Journal of The International Music Council (UNESCO), 9. Jahrgang 1967, Heft 3, 3.

4Kurt Blaukopf, „Musik in der Mediamorphose. Plädoyer für eine kulturelle Marktwirtschaft“, in: Media Perspektiven, herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Rundfunkwerbung, 9/1989, 552–558. Vergleiche daran anknüpfend auch Alfred Smudits, „Musik in der digitalen Mediamorphose“, in: Musik/Medien/Musik. Wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven, herausgegeben von Beate Flath, Bielefeld: transcript, 2013, 75–91.

5Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München: Hanser, 2009, 104.