MusikTexte 145 – Mai 2015, 41–42

Im Rückblick nach vorne

Umfrage zum Thema „(Neuer) Konzeptualismus“

von Rainer Nonnenmann

Wer wollte es leugnen: Ja, es gibt langweilige Stücke neuer Musik, nichtssagend, belanglos, altbacken, selbstzufrieden, zahnlos … Auch in einer Schale mit Nüssen finden sich manche taube. Doch wer wollte daraus folgern, Nüsse überhaupt seien taub? Wie Nüsse wollen auch Kompositionen und Konzepte geknackt werden. Nur so lässt sich feststellen, ob und was sie taugen. In den Debatten der vergangenen Jahre, die unter den Schlagworten „Digitalisierung“, „Diesseitigkeit“, Welthaltigkeit“, „Gehaltsästhetik“, „Konzeptualismus“ und anderen geführt wurden, wurde immer wieder über „die neue Musik“ geschrieben und gesprochen. Doch wer oder was soll das sein? Zumeist ohne bestimmte Namen, Richtungen und Stilistiken zu nennen oder gar auf konkrete Werke einzugehen, formte sich durch kunstfremde Verallgemeinerung ein hässliches Zerr- und Feindbild von „der neuen Musik“: verkopft unsinnlich, unverständlich elitär, beziehungslos selbstverliebt, in selbstreferentielle Spezialdiskurse verkapselt, technisch stagnierend, intellektuell verhärtet, stilistisch erstarrt, überkommenen Kunst- und Avantgarde-Idealen nachhängend, repressiv gegenüber Neuem, dem breiten Publikum entfremdet, mithin marginal, weltfremd, abgehoben, vorgestrig, irrelevant, nur wert, dass sie zugrunde geht.

Chimären

Der anschwellende Bocksgesang solcher Vor- und Pauschalurteile erinnert an dunkelste Zeiten konservativer Musikkritik, welche die historischen Avantgarden der zehner bis sechziger Jahre ähnlich undifferenziert aburteilte. Im Gegensatz zu damals kommt die Kritik an „der“ neuen Musik heute jedoch aus dem Inner Circle der neuen Musik selbst, von Komponisten und Theoretikern der mittleren und vor allem jüngeren Generation. Und die jüngsten, in den neunziger Jahren Geborenen, haben sich das chimärenhafte Feindbild einer „zeitgenössischen Klassik“ bereits zu eigen gemacht. Das ist ein Alarmsignal. Etwas stimmt nicht mit der neuen Musik, der Art ihrer Wahrnehmung, Vermittlung und der an ihr geäußerten Kritik. Dem gilt es auf die Spur zu kommen. Manchem Zeit- und Streitgenossen scheint neue Musik erstaunlicherweise wie damals immer noch gleichbedeutend zu sein mit den puristischen Reinheitsidealen des Serialismus und dessen intellektualistisch untermauertem Materialfortschritt und Kontrollwahn über sämtliche Parameter. Man veranstaltet künstliche Schaukämpfe in Schattenboxen gegen einen Gegner, der sich bereits vor fünfzig Jahren selbst überwunden hatte. Dabei hat sich das Komponieren, Improvisieren, Installieren, Konzeptualisieren und Performen schon in alle Richtungen zu einem unübersehbar vielstimmigen Multiversum ausdifferenziert. Es gehört ja gerade zum Wesen neuer Musik, dass in ihr alles immer auch ganz anders sein könnte. In dieser unglaublichen Diversität und Varianz liegt letztlich auch so etwas wie eine humane Botschaft: Wir können andere Wege einschlagen und sollten die der anderen auch akzeptieren. Der einhundert Jahre alte Begriff „neue Musik“ hat mit all den Erscheinungsformen, Materialerweiterungen und Verfransungen mit anderen Kunstsparten und Medien nicht mehr gemein als die Summe aller Spezies mit dem kleinen Wörtchen „Baum“, ohne dass wir dafür immer neue Begriffe erfinden müssten. Zen­trales Problem ist vielmehr das gegenwärtig simplifizierende Reden über Bäume: Es wird zum Schweigen über die sagenhafte Vielfalt neuer Musik.

Wer das stupide Abqualifizieren „neuer Musik“ zurückweist, leugnet damit noch nicht, dass es Stücke gibt, die routiniert sind, konservativ, akademisch, nichtssagend, engstirnig, adornitisch verbohrt, belanglos, banal … Jeder hat das Recht und – je nach Beruf – auch die Pflicht, das zu benennen. Doch in vielen Fällen liegen die Defizite nicht bei den Stücken, und schon gar nicht pauschal bei „der“ neuen Musik im Allgemeinen, sondern beim allzu theoretisch verallgemeinernden Schreiben und Sprechen über neue Musik. Nicht „die“ neue Musik hat versagt, sondern deren Präsentationsform, Vermittlung, Begriffs- und Theoriebildung. Seit dem technoiden Referieren mathematischer Materialdispositionsprozesse der seriellen Musik tendiert der Diskurs der neuen Musik zu einem regelrechten Soziolekt. Und angesichts der schwindenden Präsenz neuer Musik in Fernsehen, Hörfunk und Printmedien wird das Schreiben und Sprechen über neue Musik vielerorts oberflächlicher, schnelllebiger, blumiger, phrasenhafter, bornierter, lieb- und einfallsloser. Doch bleibt es ein Fehlschluss, von grassierenden musikjournalistischen Leerformeln und Gespreiztheiten auf den Gegenstand selber zu schließen. Die Esoterik, Oberflächlichkeit, Irrelevanz, Gedankenlosigkeit und Urteilsunfähigkeit mancher Aussagen über Musik richtet nicht die Musik, sondern nur sich selbst.

Hitze im Debattierclub

Prägend für die bisherige Debatte war erstens die Ablehnung des Material- und Strukturdenkens der Lehrergeneration durch jüngere Komponisten, die sich neuen gestalterischen Prinzipien und multimedialen, teils bewusst Pop-affinen Aufführungsformen zuwandten, um damit auch ein anderes Publikum jenseits der etablierten Festival- und Konzertveranstalter zu erreichen; zweitens die Ausrufung eines „Neuen Konzeptualismus“, der insofern zwar nicht genuin „neu“ ist, als er bewusst auf Ansätze der bildenden Kunst und Musik der sechziger Jahre zurückgreift, gleichwohl aber manche der damaligen Ideen erst jetzt dank der digitalen Produktions- und Präsentationsmittel umzusetzen in der Lage sei; drittens die Einbeziehung informativer Medien wie Text, Video, Internet, Performance, Moderation et cetera, bei der es nicht vorrangig auf ästhetisch erlebbare klangliche und strukturelle Qualitäten ankomme, sondern primär auf eine Politisierung und gehaltsästhetische Aufladung der Musik; und viertens die bereits genannten Faktoren im Verbund mit der von jedem leicht und überall nutzbareren Hard- und Software, die zu einer Krise der neuen Musik und ihrer Institutionen geführt habe. Wenn daher von „Neuem Konzeptualismus“ die Rede ist, dann fast immer auch von Digitalisierung, gehaltsästhetischem Wirkungsanspruch und einem Generationenkonflikt, in dem sich manche Äußerungen über „die“ neue Musik zum pauschalisierenden Totalangriff verzerren.

Die Debatte der vergangenen fünf Jahre spielte sich ab in zahllosen – teils auch in dieser Zeitschrift abgedruckten – Artikeln und Kommentaren sowie in Büchern, Symposien, Podiumsgesprächen, Sendungen, Blogs, Glossen, Polemiken, Repliken …, deren ausgefaserte Rede und Widerrede sich an dieser Stelle unmöglich aufarbeiten lässt. Erstaunlich war neben der großen Publizität vor allem die Vehemenz der gegenseitigen Angriffe. Das hatte die saturierte Welt der neuen Musik lange nicht erlebt: Längst überwunden geglaubte Gräben wurden wieder aufgerissen, neue Fronten und Demarkationslinien gezogen, Parteien eingeschworen, Bannflüche verhängt und wechselseitig der Vorwurf erhoben, man sei dogmatisch, intolerant und strebe nach „Deutungshoheit“ über die gegenwärtige oder gar künftige neue Musik. Da sich jedoch Gut und Schlecht, Für und Wider nicht so leicht trennen lassen, besteht für niemanden ein zwingender Grund, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Vielmehr sollte man mit Rücksicht auf die Vielfalt neuer Musik statt in „Entweder-oder“-Mustern besser in Kategorien des „Sowohl-als-auch“ denken.

An der bisherigen Debatte fällt ferner auf, dass sie sich fast ausschließlich auf Deutschland beschränkte und nur von relativ wenigen jüngeren Komponisten angestoßen und forciert wurde, während sich die Mehrheit dieser Generation nicht daran beteiligt hat. Missverständnisse, Fehleinschätzungen, Wut und Ärger wurden insbesondere dadurch ausgelöst, dass diese Handvoll Komponisten ungleich mehr verbal als Theoretiker von sich reden machten als durch ihre Musik, und einige Journalisten und Theoretiker die zunächst aus individueller Schaffensperspektive heraus formulierten Gedanken vorschnell aus deren subjektiven Zusammenhängen lösten, um sie sich unkritisch zu eigen zu machen und vorschnell zu verallgemeinern. Ein Komponist darf sich – unter Wahrung der Menschenrechte – jedes künstlerische Ziel setzen und die von ihm gewählten Mittel nach Gutdünken begründen. Das Erkenntnisinteresse reflektierter Musiktheorie hat indes anderen Kriterien zu gegen: Will man nicht einfach Behauptungen aufstellen oder wild spekulieren, so müssen Aussagen auf verifizierten Fakten sowie historisch, analytisch und logisch begründeten und nachvollziehbaren Argumenten basieren.

Der Ton der Debatte war teils erfrischend angriffslustig, teils apodiktisch, altklug und von Verdikten bestimmt. Zuweilen wurde nicht auf gesicherter Kenntnis- und Sachlage argu­mentiert, sondern gemäß persönlicher Befindlichkeiten und Freund-Feind-Schemata. Als ignorant, beschränkt, konservativ und spießig erwiesen sich dabei natürlich immer nur die jeweils anderen. In Zeitschriften begonnen, setzte sich der Schlagabtausch in der Blogo-Sphäre – mangels redaktionellem Filter – besonders ungehemmt fort, Verunglimpfungen und Shitstorms eingeschlossen. Was als ernsthaftes Diskussionsangebot begann, endete als Schlammschlacht. Anstelle dialektischen Abgleichs von Thesen und Antithesen zum Zweck der Wahrheitsfindung“ ging es um Affirmation der eigenen Denkungsart durch Abgrenzung nach außen. Das führte zu Kanalisierungen nach dem Kreislaufmuster „A beruft sich darauf, was B schreibt, B bekräftigt, was A geschrieben hat“, und so munter weiter im geschlossenen Hamsterrad. Die von einigen Akteuren auf die Agenda gebrachten Themen wurden dadurch zugleich von denselben Akteuren inhaltlich verengt und auf kontraproduktive Weise personalisiert.

Die Umfrage

Die von den MusikTexten jetzt aus etwas zeitlichem Abstand gestartete Umfrage versucht, die bisherige Debatte auf eine breitere sachliche und personelle Diskussionsgrundlage zu stellen. Um der Meinungsvielfalt Raum zu geben und den Perspektiv- und Aspektreichtum konzeptuellen Denkens in der Geschichte und Gegenwart neuer Musik zu umreißen, wurden Komponisten und Theoretiker im In- und Ausland gebeten, kurze Stellungnahmen im Umfang von maximal sechstausend Zeichen zu schreiben. Die Resonanz war überwältigend: fast alle antworteten. Der ursprünglich vorgesehene theoretisch-analytische Schwerpunkt zur Geschichte und zu Aspekten konzeptuellen Denkens in der Musik musste deshalb auf Heft 146 verschoben werden. Allein diese Tatsache spricht für die Verbreitung und Selbstverständlichkeit konzeptuellen Denkens bei Komponisten aller Generationen. Neben Stimmen, die schon die bisherige Debatte prägten, äußerten sich viele Autoren erstmals zum Thema. Zur Anregung erhielten sie folgende Fragen:

    Wie würden Sie „Konzeptmusik“ definieren? Wann und wo setzen Sie deren Ursprung an?
    Sehen Sie den Begriff vor allem im Zusammenhang mit Concept Art und Fluxus?
    Inwiefern ist John Cages Definition „an experimental action is one the outcome of which is not foreseen“ darauf anwendbar?
    Wo sehen Sie Grenzen der Arbeit mit Konzepten? Gewinnen diese ein (eventuell auch unerwünschtes) Eigenleben?
    Sehen Sie einen grundsätzlichen Unterschied zwischen konzeptionellen Ansätzen der Vergangenheit und dem sogenannten „Neuen Konzeptualismus?“
    Spielen Konzepte für Ihr Komponieren eine Rolle? Wenn ja, in welcher Art und in welchem Ausmaß?

Da sich die Debatte bisher auf den deutschsprachigen Raum beschränkte, wurden die in englischer Sprache angefragten Autoren auf den Vortrag „New Conceptualism in Music“ hingewiesen, den Johannes Kreidler 2012 bei den Darmstädter Ferienkursen gehalten hat. Manche Autoren sind über das Ziel einer MusikTexte-Seite hinausgeschossen, andere haben sich dafür kürzer gefasst. Sie alle vertreten eigene Perspektiven, Standpunkte, Argumente, Wertungen, Wissens- und Erfahrungshorizonte. Die versammelten Texte machen bestehende Kontroversen kenntlich und bilden in der Summe ein Kompendium konzeptuellen Denkens in der neuen Musik, das der abschließende Kommentar aufzuschlüsseln versucht. Die Diversität der Texte unterläuft jede mit Begriffsetiketten verbundene Hierarchisierung. Die Beiträge wurden daher – soweit es der Seitenumbruch zuließ – analog zur musikalischen Allintervallreihe in alphabetischer Abfolge der Autorennamen gereiht, und zwar so, dass W auf A folgt, U auf B, und so immer weiter durch sämtliche Nah- und Distanzverhältnisse zwischen den Autoren, bis sie sich in der Mitte des Alphabets im Buchstaben K treffen. Damit ist jeder Leser eingeladen, sich seinen eigenen Reim auf den „Neuen Konzeptualismus“ zu machen.