MusikTexte 146 – August 2015, 83–84
Rand oder Zentrum?
Das Estonian Composers Festival in Tallinn und Tartu
von Rainer Nonnenmann
Estland, der nördlichste baltische Staat, liegt an der Biegung von Ostsee und Finnischem Meerbusen, ist etwas kleiner als Niedersachsen und existiert erst wieder seit 1991 als demokratische Republik. Das Land hat lediglich 1,3 Millionen Einwohner und eine Hauptstadt Tallinn mit gerade einmal vierhunderttausend Menschen, deren bestens restaurierte Altstadt nahezu komplett von mittelalterlichen Wehrgängen, Türmen und Bastionen umgeben ist. Während der langen hellen Spätfrühlings- und Frühsommertage ist sie Touristenmagnet und Schauplatz von vielerlei Festivals. In Tallinn und den beiden 130 beziehungsweise 180 Kilometer entfernten Provinzzentren Pärnu und Tartu gibt es Festivals für Literatur, Theater, Tanz, Oper, Kammer- und Chormusik, Violine, Gitarre, Klavier, Cembalo, Orgel, Brass, Jazz, Folk, Kirchen-, Barock-, Kinder-, alte und neue Musik. Bereits seit 1979 existierten in Tallinn die vom Komponistenverband der Sowjetrepublik Estland jährlich organisierten „Soviet Estonia Music Days“, die ausschließlich Werke heimischer Komponisten zur Aufführung brachten und seit 1993 „Estonian Music Days“ heißen. Mit Gründung der Republik Estland fand 1991 in Tallinn zum ersten Mal das NYYD-Festival statt, das sich unter der künstlerischen Leitung von Erkki-Sven Tüür, Madis Kolk und Olaris Elts als internationales Forum für Präsentation, Information und Austausch begriff. 1993 formierte sich schließlich das gleichnamige NYYD-Ensemble, das ebenso international agiert und seit der Trennung von seinem Gründer und Leiter Olari Elts unter dem neuen Namen YXUS auftritt. 1995 kam das literarisch inspirierte spartenübergreifende Festival Glasperlenspiel hinzu.
Der ersten Gründungswelle im Zuge der estnischen Unabhängigkeit folgte zu Beginn des neuen Jahrhunderts eine zweite Aufbruchphase, die maßgeblich von der jüngsten Musikergeneration initiiert wurde. Diese hatte seit dem Zerfall des Eisernen Vorhangs teilweise außerhalb des Landes studiert, häufig in Helsinki und am Pariser Ircam, so dass sie über internationale Kontakte verfügte. Mit dem Komponisten und Theologen Märt-Matis Lill gründete die Flötistin und Komponistin Monika Mattiesen 2002 das „Estonian Young Composers Festival“, das sich mit zunehmender Reife der hier vorgestellten Musiker schließlich einfach „Estonian Composers Festival“ nannte. Vorläufer dafür waren die von Juhani Jaeger organisierten „St. John’s Church Days“ an der gleichnamigen protestantischen Kirche in Tartu, der zweitgrößten Stadt des Landes, die immerhin über Universität und Musikhochschule verfügt. Während der Sowjetzeit halb verfallen, wurde die Jaani Kirik mit Hilfe der Nord-Elbischen evangelischen Landeskirche über Jahre hinweg umfassend restauriert und 1994 bis 1999 zentraler Schauplatz der „Tartu Music Days“. Gefördert durch Stadt, Kulturministerium sowie den estnischen Rundfunk fand Ende Mai die vierzehnte Ausgabe des „Estonian Composers Festival“ statt. Als Ersatz für das seit 2011 nicht mehr existierende NYYD-Festival strebt die künstlerische Leiterin Monika Mattiesen nach stärkerer internationaler Ausrichtung. Das zeigte sich an den gespielten Komponisten und gastierenden Interpreten ebenso wie daran, dass die Konzerte erstmalig sowohl in Tartu als auch in Tallinn stattfanden, oft gleichzeitig an beiden Orten mit teils verschiedenen, teils hier wie dort wiederholten Programmen.
Als prominentes Ensemble gastierten in der Estonia Concert Hall in Tallinn die Neuen Vocalsolisten Stuttgart unter anderem mit exzellenten Aufführungen zweier estnischer Komponisten. Zum „Reekviem“ des 1971 geborenen Jüri Reinvere wurden Filmausschnitte aus den friedlichen zwanziger und dreißiger Jahren gezeigt, stolze Segelschiffe, Badende, Schlittschuhläufer, Liebespaare, in die sich Eisschollen, Kanonenboote und schließlich der Zweite Weltkrieg schoben. Während das heimische Publikum konkrete Szenen und Schauplätze der estnischen Geschichte erkennen konnte, wirkten die nostalgischen Bilder auf Ortsunkundige wie eine unspezifische Mediation über die Vergänglichkeit jeglichen menschlichen Treibens. Vollends ins Klischeehafte kippte das melancholische Memento mori durch die Verbindung mit moribunden Atemgeräuschen der vier Männerstimmen sowie uhrwerkartig tickenden Klappengeräuschen der anfänglich überaus virtuosen und von Mattiesen brillant gespielten Soloflötenpartie. Beim uraufgeführten Vokalquartett „Lights“ von Tatjana Kozlova-Johannes hatte Johanna Zimmer, die neue Sopranistin der Vocalsolisten, immer wieder von exponierten Spitzenlagen ausgehend lamentoartig abfallende Linien zu singen. Die Exklamationen verloren sich dann in leisen Akkorden und dem sirrenden Orgelpunkt sanft geriebener Metallstangen. Alle emotionalen Ausbrüche und aufwühlenden Affekte versanken so in einem große Gelassenheit verströmenden Ruhepol.
Die 1977 geborene Tatjana Kozlova-Johannes, der ein ganzes Komponistenporträt gewidmet war, hat Komposition bei Jaan Rääts und Helena Tulve studiert. Trotz ihres Aufbaustudiums bei Fabio Nieder in Triest und ihrer Teilnahme an internationalen Meisterklassen sowie den Darmstädter Ferienkursen – wo sie 2006 den Kranichsteiner Musikpreis erhielt –, ist Kozlova-Johannes über Estland hinaus bislang nicht bekannt geworden, sehr zu Unrecht. Ihre schlichte, doch in gestischen und formalen Entwicklungen umso klarere und eindrückliche Musik entfaltet eine große Prägnanz und Poesie. In „Lovesong“ spielten Flötist Tarmo Johannes und Geigerin Merje Roomere des ausgezeichneten estnischen „Ensemble U“ wie das Leben und Lieben selbst. Die beiden Stimmen flohen und haschten, streiften und berührten sich, um plötzlich in flüchtigen Unisoni zusammenzutreffen, einander wieder zu entgleiten und eigene Wege zu gehen. Ein instrumentaler Gesang wie eine Liebeserklärung.
Das 2000 von Monika Mattiesen gegründete Ensemble „Küberstuudio“ widmet sich bevorzugt interdisziplinären Projekten mit Elektronik, Video, Tanz, Film, Literatur und Malerei. Hier spielte es ein internationales Programm mit Werken von Fedele, Sebastiani, Jodlowski, Saariaho und Mattiesen selbst. Intermedial gestaltete sich auch das erste gemeinsame Konzert der Ensembles „Figura“ aus Kopenhagen und „Poing“ aus Oslo. „Sitting Quietly, Doing Nothing“ von Märt-Matis Lill verriet einen für das Schaffen des 1975 geborenen Komponisten insgesamt zentralen Einfluss chinesischer und japanischer Philosophie. Der Schüler der estnischen Lehrerpersönlichkeiten Eino Tamberg und Lepo Sumera entfaltete seine Musik – beginnend mit ruhigem Ein- und Ausatmen des Akkordeons – in sanften Wellen. Das ebenfalls uraufgeführte „In Everyone’s Soul“ des 1976 geborenen Timo Steiner – Schüler von Jaan Rääts und Raimo Kangro – kombinierte jazzaffine Harmonik mit energetisch zuckenden Rhythmen, minimalistischen Repetitionen und einer Vokalpartie über ein moritatenhaftes Gedicht des estnischen Schlagzeugers und Songtexters Silver Sepp, dessen viermal drei Strophen alle im selben Vers gipfelten: „In everyone’s soul there’s a revolution /Let your soul have room to breath.“
Anlässlich des neunzigjährigen Bestehens des estnischen Komponistenverbands und des hundertzehnten Geburtstags von Eduard Tubin gelangten mehrere Lieder und Kammermusikwerke dieses „Vaters der estnischen Symphonik“ zur Aufführung, der seit seiner Emigration 1944 jedoch bis zu seinem Lebensende 1982 in Schweden wirkte. Tubins Sonate für Altsaxophon und Klavier von 1951 folgt in Themenbildung und Form neoklassizistischen Modellen: Im Kopfsatz kontrastieren ein kantables und marschartiges Thema, gefolgt von einem seelenvollen Adagio als Mittelsatz und einem motorischen Finale als Rausschmeißer. Die in den dreißiger Jahren entstandenen, wahlweise neckisch tändelnden beziehungsweise ekstatisch aufwallenden Klavierlieder von Eduard Oja – wie Tubin Jahrgang 1905 – erinnerten an das spätromantische Liedschaffen von Hugo Wolf oder Richard Strauss. Das 2013 entstandene neotonale Lied „Palvetav ema“ des Lepo-Sumera- und Helena-Tulve-Schülers Tauno Aints enthielt gleichwohl unerwartete harmonische Wendungen und wurde von der Mezzosopranistin Iris Oja mit wunderbar gespannter Ruhe vorgetragen. Den Abschluss des Konzerts im erst kürzlich eingeweihten neuen „Tubin-Saal“ der Musikschule Tartu bildete das originell zwischen einstimmigen Psalmodien, Jazzharmonik und repetitivem Minimalismus changierende „Pala kadentsiga“ von Jan Rääts für Saxophon (Virgo Veldi) und Klavier (Johan Randvere).
Als auswärtige Formation gastierte ferner das 2013 gegründete Ensemble „clapTON“ aus London mit Werken von Billone, Rebecca Saunders sowie von Elis Vesik, Elo Masing, Anna Romashkova und Santiago Díez-Fischer. Am Ende des „Estonian Composers Festival“ präsentierte zu später Stunde – und einer Auswahl aus vierzig verschiedenen Biersorten! – im Genialistide Klubi Tartu, einer anheimelnd abgerockten Kneipe mit Veranstaltungssaal, die Dudelsackspielerin Sandra Sillamaa in ebenso lockerer wie konzentrierter Atmosphäre instrumentale Drones mit Elektronik und Video von flatterhafter Quirligkeit und entwaffnender Ironie. Estland ist eine Reise wert, auch musikalisch.