MusikTexte 146 – August 2015, 3–5

Fugatomat

Zum Festivalkarussell der neuen Musik

von Rainer Nonnenmann

Die auf Landwirte gemünzte Redensart „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“ beschreibt eine Déformation professionelle, die sich auch in anderen Berufszweigen findet. Wer länger in einer Branche tätig ist, erwirbt sich mit wachsenden Kenntnissen, Kontakten und Erfahrun- gen fast zwangsläufig auch die Ansicht – die sich leicht zur Haltung verfestigt –, im eigenen Zuständigkeitsbe- reich alles Wichtige zu kennen und alles Unbekannte als irrelevant abtun zu können. Die im Laufe eines Berufsle- bens mit wachsendem Horizont ebenso mitwachsenden Scheu­klappen fallen bei primär auf Reproduktion bedachten Arbeitsfeldern nicht allzu hemmend ins Gewicht, wirken dort vielleicht sogar produktiv. In einem dynamischen und sich selbst als innovativ oder gar avantgardistisch verstehenden Bereich wie dem der neuen Musik, die als per­ma­nent sich veränderndes Terrain stets neu zu kartographieren ist, verkehrt sich solche Fokussierung jedoch schnell zu Blindheit. An der Offenheit beziehungsweise Geschlossenheit von Festivals neuer Musik zeigt sich exemplarisch, inwieweit die veranstaltenden Institutionen nur Bestehendes perpetuieren – sei es qualitativ auch noch so herausragend – oder auch in der Lage sind, neue Impulse und Trends aufzugreifen oder gar selbst zu setzen.

Flieh- und Bindekräfte der Zentrifuge

Den Takt der neuen Musik bestimmen wenige Festivals als „Mustermessen“ für ein Fachpublikum aus Redakteuren, Intendanten, Verlegern, Funktionären, Journalisten und Musikwissenschaftlern. Diese Multiplikatoren erhal- ten Gelegenheit, Neue Musik in geballter Form zu hören und durch Berichterstattung in Rundfunk, Zeitungen und Zeitschriften oder Übernahmen in andere Veranstal- tungen einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu ma- chen. Zudem bedarf es einer Serie von Aufführungen an solch maßgeblichen Stellen des Musiklebens, bis ein Kom­ponist denjenigen Grad an Aufmerksamkeit erfährt, der ihm Aufträge von potenten Veranstaltern und namhaften Ensembles einbringt, die ihn dann gegebenenfalls über den Inner Circle der neuen Musik hinaustragen in Opernhäuser und „normale“ Konzertreihen städtischer Sinfonieorchester oder zu Spitzenensembles wie den Berliner, Wiener oder New Yorker Philharmonikern. Die Präsenz eines Komponisten bei mehreren Festivals wirkt als Durchlauferhitzer und Prüfstein, der Künstler formt und an dem sich diese messen lassen müssen. Ob sich ein Komponist, Solist oder Ensemble dauerhaft auf diesen Plattformen halten kann, entscheiden wesentlich die Festivalleiter. Idealerweise durchkämmen diese unermüdlich den Dschungel der neuen Musik, um die jeweils gerade qualitativ besten und originellsten Komponisten, Interpreten, Ansätze und Werke herauszufinden. Dabei sollten sie von Zeit zu Zeit auch die Grasnarbe des Geschehens streifen und Abstecher in Lofts, Klubs, Kellerkonzerte und Kompositionsklassen­abende von Musikhochschulen unternehmen.

Viele Streifzüge – sofern man sie überhaupt unter- nimmt – folgen jedoch nicht eigenen Pfaden und Intui­tio­nen. Das vermeintlich individuelle Ausschwärmen nach allen Himmelsrichtungen des Multiversums der neuen Musik gleicht in Wirklichkeit einer Karawane. Denn der Reihe nach im Jahreskalender abgeklappert werden meist nur wenige kanonisierte Festivaloasen: Eclat in Stuttgart, Ultraschall und MaerzMusik in Berlin, Wittener Tage für neue Kammermusik, Lucerne Festival, Donaueschinger Musiktage, Klangspuren Schwaz, Warschauer Herbst, Wien Modern … Dem jährlichen Festivalturnus folgt der Zug der Festivalmacher, die im Schlepptau eine ganze Kolonne aus Komponisten, Interpreten und Agenten nach sich ziehen, die Kontakte zu den Machern, Finan­ziers und – ihrerseits um Auftrittsmöglichkeiten bemühten – Ensemblemanagern suchen, um sich ins Gespräch zu bringen und für Aufträge und Engagements zu empfehlen. Alle zwei Jahre macht man auch Station bei den Darmstädter Ferienkursen sowie den Biennalen in Salzburg, Venedig, Zagreb, München und dieses Jahr zum dritten Mal im Rhein-Main-Gebiet bei „cresc…“. Weitgehend links liegen lässt der Tross dagegen zahllose andere Musikfestivals im In- und Ausland, kleine und große, kurze und lange, lokale und regio­nale, mit unterschiedlicher Programmatik, Trägerschaft, Ausstrahlung, Finanzierung an eingeführten Spielstätten oder Off-Orten: Acht Brücken Köln, Borealis Bergen, Chiffren Kiel, Forum neuer Musik des Deutschlandfunk Köln, Klangwerkstatt Berlin, KlangZeit Münster, Musik21 Hannover, NOW! Essen, pgnm Bremen, Rümlingen, Tonlagen Dresden … Wenig wahrgenommen werden auch thematisch spezialisierte Festivals wie Ars Electronica Linz, piano+ und imatronic am ZKM sowie für andere nationale Musikszenen bedeutsame Festivals wie Ars Musica Brüssel, Estonian Composers Festival Tallinn, Festival d’Automne und Agora in Paris, Huddersfield, Impuls und Musikproto­koll Graz, Musiikin aika Viitasaari, Ostrava Days, Rainy Days Luxemburg, transit Leuven … Die Verengung der Perspektive auf wenige „führende“ Festivals verkrümmt die theoretisch nach allen Seiten ins Unbekannte gerichtete Suchbewegung zum Kreis. Die von jedem Interessierten frei zu durchwandernde zeitgenössische Musik- landschaft verformt sich zum „Festivalkarussell“.

Wie bei jeder Rotationsbewegung wirken im Karussell sowohl zentripetale als auch zentrifugale Kräfte. Wer sei- nen Fuß einmal auf das Trittbrett bekommen hat, hat gute Chancen, ein-, zwei- oder mehrmals im Ringelrein von Festival zu Festival mitzuspielen. Denn wer auf einem renommierten Festival reüssiert, erwirbt sich damit eben jene neudeutsch-börseanische „Credibility“, auf die dann auch andere Veranstalter setzen: Wem einmal geglaubt wurde, dem wird wieder geglaubt. Manche zieht die Zen- trifuge im Zentrum spiralförmig in die Höhe – in den letzten Jahren waren dies unter anderem Enno Poppe, Simon Steen-Andersen, Johannes Kreidler, Stefan Prins, Trond Reinholdtsen, Martin Schüttler, Alexander Schu- bert, Jagoda Szmytka; andere werden schon bei der ers- ten Umdrehung wieder hinausgeschleudert, so dass sie bald wieder in der Versenkung verschwinden: Mit seinen wenig durchsichtigen Selektionsmechanismen und häufig unkünstlerischen Gesetzmäßigkeiten tendiert das Festivalkarussell zum geschlossenen Kreislauf. Wo sind die Eingangstüren? Wie schafft ein Neuling, gar eine junge unbekannte Komponistin, den Aufsprung? Wie kommt wer und warum in den Kreisverkehr? Kann ein genialer, aber zurückhaltender Komponist heute noch „entdeckt“ werden? Oder haben längst eloquente Hausierer, charmante Hofschranzen, penetrante Vitamin B-Fresser, skrupellose Egozentriker und professionell in Selfmanagement und Egomarketing geschulte Promoter in eigener Sache alle Kanäle der rarer werdenden Aufmerksamkeit verstopft? Wie durchlässig sind die gegenwärtigen Festivalstrukturen für neue Ansätze und Künstler?

Programmhoheit und Finanzen

Die meisten Festivals basieren auf dem Intendantenprin- zip. Manche Leiter amtieren bis zur Pensionierung oft ein oder zwei Jahrzehnte lang, zuweilen noch länger. Doch jeder stößt irgendwann an die Grenzen seiner Energie, Neugierde, Erfindungs- und Vorstellungskraft. Routine, Überdruss und Rückgriffe auf Bekanntes sind nahezu unvermeidlich. Nur wenige Festivals praktizie- ren andere Modelle der Programmfindung. Manche set- zen auf feste oder turnusmäßig wechselnde Jurys, die sich aus Persönlichkeiten verschiedener Herkunft, Sparte und Stilistik zusammensetzen und auf diese Weise für neue Ideen offenbleiben. Bei anderen wechselt jährlich der künstlerische Leiter. Das SPOR-Festival im dänischen Aarhus wird jedes Jahr von einem anderen Komponisten kuratiert – dieses Jahr war es Simon Steen-Andersen –, dessen Werk zugleich einen Schwerpunkt bildete. Das- selbe gilt von den Weingartener Musiktagen und dem vom Ensemble Avanti! organisierten Festival „Suvisoitto“ im finnischen Porvoo, das dieses Jahr Matthias Pintscher leitete. Das Mehrspartenfestival RuhrTriennale gestaltet ein Intendant nur drei Jahre in Folge, was über die ein- zelnen Festivalausgaben hinaus in den bespielten Denk- mälern historischer Industriekultur dennoch übergeord- nete Themensetzungen erlaubt. Und anders als Josef Häusler und Armin Köhler, die die Donaueschinger Mu- siktage von 1975 bis 1991 beziehungsweise von 1992 bis 2014 leiteten, wurde Björn Gottstein in derselben Funk- tion vorerst nur für fünf Jahre verpflichtet. Der Horizont der meisten Festivals bemisst sich jedoch im Wesentlichen – abgesehen von vielerlei Sachzwängen – an der einen Persönlichkeit, die es leitet: Ist der Macher ein Inspirator oder Langweiler, ein für alles offener Experimentator oder festgefahrener Dogmatiker, ein beratungsresistenter Hierarch oder kollegial auf Partizipation und Transparenz bedachter Kommunikator, ein vorgestriger Traditionalist oder ein dem Zeitgeist nach- oder gar vorauseilender Intellektueller?

Ein dominanter Faktor im Festivalkarussell sind – wie im richtigen Leben – als Schmieröl oder Hemmschuh die Finanzen. Viele Festivals werden vom öffentlich-recht­lichen Rundfunk veranstaltet oder maßgeblich mit Räumen, Technik, Öffentlichkeitsarbeit, Mitschnitten und Honoraren unterstützt. Doch die Geldmittel der ARD stagnieren seit Jahren, was infolge steter Inflation einer schleichenden Kürzung gleichkommt. Zudem werden Mittel für Produktionen, Sendungen und Konzertveranstaltungen reduziert, weil von Intendanten, Rundfunkräten und der Kommission zur Erhebung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) beschlossene Rücklage- und Sparauflagen zu erfüllen sind. Andere Festivals sind vom konjunkturell schwankenden Wohl und Wehe der Haushalte abhängig, von Kommunen, Ländern, Bund, Stiftungen und Akademien. Für alle gilt: Je spärlicher die zur Verfügung stehenden Finanzen, desto stärker die Abhängigkeiten von Drittmitteln und Kooperationen mit anderen Veranstaltern. Kein Festival ist heute mehr autark. Alle sind auf Mischfinanzierungen angewiesen. Die Programme verantwortet daher längst nicht mehr – wenn das überhaupt jemals der Fall war – allein der künstlerische Leiter. Welche Komponisten von welchen Ensembles wann und wo aufgeführt werden, entzieht sich zunehmend dem Gestaltungsspielraum der Macher. Denn jeder Partner, Finanzier und Mitveranstal- ter hat eigene Interessen, kulturelle und politische Maßgaben und Einflussnahmen. Viele Gastspiele, Themenschwerpunkte, Musiker- und Länderporträts verdanken sich der Mitfinanzierung durch potente Musikinformations- und Musikexportzentren reicher Länder wie Norwegen oder finanzkräftiger Organisationen und Stiftungen: BMW, DAAD, Deutsche Bank, GEMA, Pro Helvetia, Siemens, Kunststiftung NRW, Kulturstiftung des Bundes. Mit der Nachweispflicht für verwendete Mittel dringt eine inhaltliche Rechenschaftspflicht zwischen Veranstalter und Geldgeber, Kulturverwaltungen und Politik. Wer einem Finanzier über Erfolg oder Misserfolg Rechenschaft schuldig ist, handelt nicht mehr nur nach eigenen Qualitätskriterien, sondern sieht sich auch mit Vorstellungen und Eindrücken von Kommissionen und Kuratorien konfrontiert, die ihrerseits privatwirtschaftli- chen Unternehmen oder Einrichtungen der öffentlichen Hand rechenschaftspflichtig sind.

Hier schlägt die Stunde der Netzwerker. Sie halten das Festivalkarussell nicht nur in Gang – was angesichts der Bremsklötze von klammen Kassen, Tarifverträgen, ordnungsamtlichen und feuerpolizeilichen Auflagen et cetera verdienstvoll ist –, sondern bringen es durch systematische Zirkulation ausgewählter Rennpferdchen erst richtig in Schwung. Der durch Unterfinanzierung erzwungene Rückgang von Eigenproduktionen und Kompositionsaufträgen erfordert Übernahmen nach dem Prinzip der Kostenreduktion durch Wiederholung derselben Produktionen an anderer Stelle. In einem auf Neuheit und Vielfalt angelegten Bereich tendiert Wiederholung jedoch zur Stagnation. Nachdem die ersten Festivals der zwanziger und dreißiger Jahre vor allem Erst- oder Wiederaufführungen präsentierten, entwickelten sich viele Festivals nach 1950 zu reinen Uraufführungsfestivals. Gegenwärtig steigt der Anteil an Übernahmen und Zweitaufführungen wieder. Der Kreis der gespielten Komponisten und spielenden Ensembles und Solisten wird enger.

Angst und Hyperventilation

Grundsätzlich gilt die freundliche Unterstellung: Alle Leiter von Festivals neuer Musik wünschen sich für die von ihnen verantwortete Veranstaltung ein eigenes programmatisches Profil mit einer gelungenen Mischung aus großen Namen, besonderen Events, herausragender Musik, neuen Entdeckungen, Präsentations- und Vermittlungsformen sowie Öffnungen für neue Hörerkreise. Kein Festival will „Elfenbeinturm“, „goldener Käfig“ oder „Ghetto“ sein, für welche die mutmaßlich isolierte, abgehobene und elitäre neue Musik seit über hundert Jahren kritisiert wird. Doch Maßgabe der Dinge ist vielfach schiere Angst, und die ist stets ein schlechter Ratgeber. Die Furcht der Veranstalter, mit jeder Uraufführung die Katze im Sack zu kaufen, aber dennoch wissen zu wollen und zu sollen, was zu erwarten ist, führt dazu, dass Komponisten beauftragt werden, von denen man weiß, was man an ihnen hat und zu Recht von ihnen erwarten zu dürfen meint. Und die Angst der Komponisten vor dem Scheitern ihrer Ideen und Werke hat zur Folge, dass konfektionierte Normalmaße und Erwartungshaltungen ebenso geflissentlich bedient werden wie Sensationsgier, Skandal- und Provokationslust. Indem die Angst der einen Seite die Angst der anderen bedingt, stellen sich beidseitige Lähmungserscheinungen ein. Der Betrieb beginnt zu hyperventilieren und setzt – wonach die Presse giert – auf Trends und Hypes. Der Druck steigt durch abnehmende Finanzen, sinkende Öffentlichkeit und schwindendes Verständnis von Kunst als einem eigenständigen und zweckrationalen Interessen enthobenen Medium. Als Symptome zeigen sich Erfolgszwang, Risikolosigkeit, latenter Konservatismus sowie die Kalkulation mit Quoten und (Umweg-)Rentabilität. An die Stelle von Individualismus treten Schwarmbildungen und Herdentrieb. Der sogenannte „Neue Konzeptualismus“ – gegen dessen Leistungen damit gar nichts gesagt sein soll – ist das jüngste Beispiel einer Erscheinung, die binnen weniger Jahre in Deutschland von sämtlichen renommierten Festivals nicht nur abgebildet, sondern – was die Institutionenkritik der Vertreter dieser Strömung widerlegt – zu einer regelrechten Mode gemacht wurde.

Ein entscheidender Faktor sind schlussendlich auch die Interpreten, deren Einfluss ständig wächst, obwohl auch sie immer abhängiger werden. Als „kulturelle Botschafter“ ihrer Länder spielen Spitzenensembles im Ausland Werke heimischer Komponisten. Dass ihre Honorar- und Reisekosten dabei teils von nationalen Förderern übernommen werden, macht sie auf dem internationalen Festivalbörsenparkett zu willkommenen, weil guten und zugleich bezahlbaren Gästen. Es kommt zu kunstfremden Lenkungen und programmatischen Verengungen. Und trotz öffentlicher Förderung organisieren Ensem­bles ihren Konzertkalender zunehmend nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Statt Abseitigem und unbekannten Talenten eine Chance zu geben, spielen sie renommierte Komponisten, deren Werke sie nach mühsamer Einstudierung nicht nur einmal aufführen, sondern mehrmals „verkaufen“ können. Die Ensembles verknappen Probezeiten und erhöhen die Schlagzahl der Konzerte. Über das weitere Schicksal eines Stücks entscheiden nicht dessen kompositorische Faktur, ästhe­ti­sche Qualität, Originalität, Individualität, Stringenz und Expressivität, sondern Aufführungspraktikabilität und Wiederverwertbarkeit. Entweder lässt sich eine Komposition in ein, zwei Proben einstudieren und „funktioniert“ auf Anhieb oder sie gilt als gescheitert. Eine zweite Chance wird meist nicht gegeben: ex und hopp. Gerade Widerständiges, Ungewohntes, Unvertrautes und sub­stantiell Neues fällt durch, weil es beim ersten Mal oft nicht angemessen herauszustellen ist. An die Stelle von Aufbrüchen in neue Gefilde tritt Selbstbestätigung der veranstaltenden Institutionen samt ihrer Akteure und ihres Publikums. Das Festivalkarussell dreht sich immer weiter …