MusikTexte 147 – November 2015, 61–66
Bilder hören und Klänge sehen
Carola Bauckholts Komponieren mit Video
von Rainer Nonnenmann
Als kommunizierende Röhren oder kommunizierende Gefäße bezeichnet man oben offene, aber unten miteinander verbundene Gefäße.
Wikipedia
Seit den neunziger Jahren entstehen dank digitaler Klang- und Bildbearbeitungsprogramme auch im Bereich der neuen Musik immer mehr audiovisuelle Arbeiten. Nie zuvor war es technisch so einfach und erschwinglich, Klänge und Bilder miteinander zu verbinden. Die Kombination von Sound-, Graphik-, Bild- und Videoprogrammen machte das Bebildern von Klängen und Verklanglichen von Bildern zu einem regelrechten Massenphänomen, dessen Ergebnisse sich millionenfach auf YouTube, Facebook, Spotify sowie in Clubs, Bars, Lounges und Diskotheken besichtigen lassen. Auch viele jüngere Komponisten schreiben nicht mehr Musik für Instrumente und Singstimmen, sondern nutzen selbstverständlich den Computer als universale Schnittstelle zur Generierung, Transformation und Kombination von Klängen und Bildern. Das Schaffen dieser in den siebziger und achtziger Jahren geborenen „Digital Natives“ zeigt die nachgerade schon zwanghafte Tendenz, nicht einfach Konzertmusik zum „bloßen“ Hören zu komponieren, sondern mit Szene, Text, Licht, Bild und Video immer auch Visuelles mitzugestalten.
Dagegen sind Verbindungen von Musik und Film/Video für die während der fünfziger Jahre geborene Generation eher Ausnahmen. Zu diesen gehört die jüngst zur Kompositionslehre mit Schwerpunkt auf Neues Musiktheater an die Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz berufene Carola Bauckholt. Ihr Werkverzeichnis umfasst bisher allerdings lediglich vier Stücke mit Video beziehungsweise zu Film: „vertraute Rätsel“ für Video, Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass, Klavier und Perkussion (1995/1996) „Vormittagsspuk“ für Trompete, Posaune, Violoncello, Gitarre, Klavier und zwei Schlagzeuger (2008) zum gleichnamigen Stummfilm von Hans Richter, sowie die beiden im Folgenden näher besprochenen Stücke „In gewohnter Umgebung III“ für Violoncello, Klavier (Espérou) und Video (1994) und „Kohle, Kreide“ für Mezzosopran, Violoncello und Video (2011/2012). Angesichts von dreizehn szenischen Arbeiten einschließlich veritabler Musiktheaterwerke sowie fünfzehn Kompositionen mit elektronischen Zuspielungen oder Samples sowie zwei unter Verwendung von Diaprojektionen fällt die Zurückhaltung gegenüber medial vermittelten Bildern auf. Sie erklärt sich durch Bauckholts Überzeugung, dass alle Haptik, Materialität, Sinnlich- und Körperlichkeit des Agierens von Musikern auf der Bühne bereits selber – im Sinne des „instrumentalen Theaters“ ihres Lehrers Mauricio Kagel – szenische Qualitäten entfaltet. Wenn also dennoch einmal Video hinzutritt, darf dieses die Sichtbarkeit des Instrumentalen nicht einfach verdoppeln, sondern muss eine eigene Gestaltungs- und Wahrnehmungsebene öffnen. Hinzu kommt Bauckholts erklärte Dominanz des Hörens über das Sehen: „Ich gehe völlig vom Hören aus, weil ich der Überzeugung bin, dass das wirklich spannende Theater eben im Kopf passiert; in unserer Imagination und in den Zusammenhängen, die wir knüpfen. Nichts kann spannender – theatralischer – sein als zum Beispiel Ahnungen; Zusammenhänge zu ahnen. Wenn man merkt, wie sich die Sachen zusammenfügen, ordnen im Kopf – im eigenen Kopf.“1
Im Abstract zum Vortrag „Über die Dosierung von visueller und akustischer Information“, den sie im April 2015 bei der 69. Frühjahrstagung des INMM Darmstadt zum Thema „Überblendungen – Neue Musik mit Film“ gehalten hat (siehe Vorabdruck in diesem Heft, Seite 59–61), betonte Bauckholt: „Interessant wird das Phänomen des Verknüpfens immer dann, wenn die gelernten Verbindungen ausgehebelt werden. Das ist die Chance von Kunst. Dann wird etwas in Bewegung gebracht und wir werden ganz persönlich gefordert.“ Dieses Anliegen formulierten schon Theodor W. Adorno und Hanns Eisler in ihrem gemeinsamen – in der Höhle des Löwen, in Hollywood – geschriebenen Buch „Komposition für den Film“ (1943/1944). In der im damaligen Mainstream-Kino standardisierten „Zweiteilung ins auffallende Bild oder Wort und den unartikulierten Hintergrund“ erblickten sie „die Grundstruktur aller Reklame“, weil Ton hier nur dazu diene, die Information des Bilds zu stützen, ohne selber etwas zu sagen.2 Ihrer ernüchternden Bilanz des damaligen Massenmediums Film stellten Adorno und Eisler – anknüpfend an die experimentellen Stummfilme der 1910er und zwanziger Jahre – die Forderung entgegen: „Prinzipiell wäre zu fordern, dass das Verhältnis der beiden Medien zueinander durchweg viel mobiler gestaltet wird als bisher.“3 Denn durch die Flexibilisierung der Beziehungen zwischen Bild, Tonspur und Musik ließe sich das Publikum aktivieren und aus passiven Konsumenten zu mitdenkenden, mitanalysierenden Hörbetrachtern verwandeln. Eben dies ist auch zentrales Anliegen von Carola Bauckholt.
In ihren wenigen Kompositionen mit Video/Film begegnen sich Bild und Ton als eigenständige Stimmen, die sich auf struktureller, formaler und semantischer Ebene in verschiedenen graduellen und prinzipiellen Abstufungen zueinander verhalten: in Parallelführung, Entsprechung, Verwandtschaft, Ähnlichkeit, Ableitung, Kontrast, Gegensatz oder komplett eigengesetzlich. Diesem Spiel mit semantischer und struktureller Konsonanz beziehungsweise Dissonanz der Medien korrespondiert die mediale Differenz von Live-Musik und technisch reproduziertem Ton und Bild. Bauckholt lenkt damit die Aufmerksamkeit des Hör-Betrachters auf die spezifische Temporalität und Medialität der beiden Zeitkünste Musik und Film, damit diese gemäß einer kritischen Medienreflexion ihre spezifischen Eigenschaften aneinander aufschließen und die Aufmerksamkeit des Hörbetrachters auf die wechselseitigen Überformungen von Bild und Ton lenken: Denn so wie Klänge Bilder anders aussehen lassen, lassen umgekehrt Bilder auch Musik anders klingen.
Großes Kino im Kleinen
Der Titel von Bauckholts Werkreihe „In gewohnter Umgebung I–III“ (1991, 1993, 1994) betont die Vertrautheit alltäglicher Dinge und Räume, bringt diese jedoch in höchst ungewöhnliche Zusammenhänge. Bei „In gewohnter Umgebung III“ sind im Video vertraute Dinge des Alltags in eigenwilligen Einstellungen und Situationen zu sehen: Toaster, Wasserhahn, Wärmflasche, Zitronen, Brötchen, Streichhölzer, et cetera. Aus der gewohnten Haushaltsumgebung in den ungewohnten musikalischen Kontext verpflanzt, gewinnen die Dinge ein ebenso instrumentales wie magisches Eigenleben.4 Das vorproduzierte Video läuft unabhängig von den live spielenden Musikern, aber strukturell und semantisch eng auf diese bezogen. Obwohl der Hörbetrachter die mediale Differenz schnell erkennt, ereignet sich dadurch ein vielschichtiges Spiel zwischen den bewegten Bildern des Videos und den ebenso sichtbaren Aktionen der Musiker sowie zwischen der Live-Musik und den per Lautsprecher zugespielten Originalklängen der gezeigten Gegenstände auf der Tonspur des Videos. Die Kombination aller vier Ebenen schafft eine komplexe Polyphonie, die Bauckholt im Vorwort ihrer Partitur thematisiert: „Dieses Stück soll als Trio wahrgenommen werden. Die Musik weitet sich ins Visuelle aus.“5 In Wirklichkeit wird das Instrumentalduo durch den unabhängigen Einsatz von Videobild und Videotonspur sogar zum Quartett erweitert. Dass Bauckholt die Interpretinnen der Uraufführung auch im Video auftreten und sprechen lässt, verstärkt die mediale Differenz und führt zugleich zu dem Problem, dass bei Aufführungen durch andere Interpreten diese sich nicht selbst im Video als mediale Doppelgänger begegnen, sondern zwei fremden Musikern, deren Auftauchen den inszenierten Dialog zwischen Live- und Videointerpreten sprengt.
Insgesamt verhalten sich Video und Live-Musik für den Hörbetrachter entweder strukturell und semantisch synkritisch (verbindend) oder diakritisch (unterscheidend). In jedem Fall bestimmend ist sein Versuch, beide Dimensionen gemäß seiner Alltagserfahrungen so zu verbinden, dass sich realistische Beziehungen zwischen Sicht- und Hörbarem entdecken lassen. Die von Bauckholt geschaffene Topographie der „vertrauten Umgebung“ Küche durchkreuzt dieses Anliegen, denn sie wirkt eher surrealistisch: „Eine Technik der Surrealisten findet sich auch bei mir: eine übergenaue Malweise, Verfremdung oder Kombination unmöglicher Dinge und Zustände, welche die Wirklichkeit übersteigen.“6 Manche Videobilder zeigen Küchenutensilien bei Nonsens-Aktionen, welche die reflexhaft synchronisierende Wahrnehmung von Bild und Ton durchkreuzen. Das kurze Öffnen einer im Dunkeln aufleuchtenden und gleich wieder geschlossenen Kühlschranktür mag als kalte Antwort auf die Hitze von zuvor (ebenfalls im Dunkeln) rot aufglühenden Toaster-Schlitzen gemeint sein. Doch die Szene wirkt eher verstörend, weil die Musik dazu fünf Sekunden lang komplett aussetzt und anschließend völlig anders fortfährt. Später sieht man, wie eine Schere eine Partiturseite zerschneidet, bei Nacht in einem Haus (wiederum als Fortsetzung des Kühlschranks) nacheinander die Lichter angehen und wie eine einzelne Zitrone an anderen Zitronen vorüber rollt. Andere Szenen schaffen dagegen Verbindungen zwischen Bild und Ton. Zum Bild eines knapp über dem Boden schaukelnden Stuhls spielt der Cellist ebenso hin- und herwiegende Bogenstriche. Zu gerinnendem Eiweiß in einer schwarzen Bratpfanne hört man das Pusten der Musiker sowie – mit Bogenhaaren und Schlegel auf den Basssaiten erzeugte – dröhnende Klavier- und Celloklänge, deren hörbar anwachsende Energie die sichtbar zunehmende Hitze im Video unterstreicht. Und gleich zu Anfang des Stücks sieht man im Dunkeln langsam rot aufglühende Heizdrähte eines Toasters und hört eindringlich crescendierende und aufwärts glissandierende Doppelgriff-Sekundreibungen des Cellisten (ab Takt 11). Mit zunehmender Glut steigert sich auch hier die hörbar instrumentalkonkrete Energetik, zusätzlich verstärkt durch – mittels einer Bogenhaar-Schleife – obertonreich sirrende Arco-Aktionen im pedalisierten Innenklavier.
Auch in anderen Szenen kommunizieren Musik und Video. Zu einer durch das Bild eiernden Zitrone hört man von der Videotonspur das ebenso eiernde Quietschen einer hin und her schaukelnden „Kassettenhülle“ (Kunststoffgehäuse). Das Videobild dieser Kassettenhülle sieht man jedoch erst kurz darauf ohne Ton. Und während das Video einen Wasserhahn zeigt, an dem ein Tropfen hängt, hört man zehn Sekunden lang erst einmal gar nichts. Erst mit Fallen des ersten Tropfens spielt der Cellist ein Glissando arco col legno. Und zum zweiten fallenden Tropfen fährt der Pianist mit einer Glasflasche im Innenklavier die g-Saite entlang. Ohne Ton sieht man anschließend die Wassertropfen immer schneller und dichter fallen, ohne dass sich die Musik verändert. Erst als sich die Tropfenfolge schon fast zum kontinuierlichen Wasserstrahl verdichtet hat, schlägt der Cellist mit dem Finger schnell repetierte Töne auf eine Saite, während er im Moment des eigentlichen Umschlags zum Fließen gerade umgekehrt eine immer langsamer und loser werdende Folge legno battuti spielt. Wenig später spricht der Pianist exakt rhythmisiert die Lautfolgen „In ter ci ti plö plu“ und „schi schu ti ci ti pa ß“, als solle der fließende Wasserstrahl mit einem „Intercity“ verglichen werden. Sobald der Strahl dann wieder zur Tropfenfolge ausdünnt, greifen Cello und Klavier diese synchron mit ebenso ritardierenden Bartók-Pizzikati und Tasten-Anschlägen auf. Die Musik erscheint plötzlich als pseudo-realistischer Soundtrack, der das sichtbare Ereignis mimetisch aufgreift, in seiner instrumentalen Künstlichkeit aber zugleich eigenständig bleibt, während man den Originalklang des tropfenden und voll aufgedrehten Wasserhahns erst viel später zu ganz anderen Bildern des Videos zu hören bekommt.
Die wackelnde Kassettenhülle – die schon im Stück „Geräusche“ für zwei Spieler (1992) ein großes Solo erhielt – hört man zunächst als „Micky Mousing“-Effekt zu der durchs Bild eiernden Zitrone. Erst anschließend sieht man die Hülle im Video ohne Ton (ab Takt 158). Und erst mit Aussetzen des Bilds spielt dann das Klavier ähnlich klirrende Pizzikato-Repetitionen fis4-g4, um die Kassette zu „imitieren“, woraufhin die schaukelnde Kassette im Video erneut ohne Ton zu sehen ist. Schließlich ist von der Tonspur des Videos das originale Quietschen der Hülle zu hören – erneut ohne Bild –, was Klavier und Cello mit ähnlich quietschenden Pizzikati und leicht glissandierenden Arco-Pfiffen hinter dem Steg beantworten. Das wahlweise diachrone und synchrone Beziehungsgeflecht von Bild, Tonspur und Ensemble hat einen doppelten Effekt: Zum einen werden die Geräuschklänge der Kassettenhülle musikalisiert und die Musikinstrumente gewissermaßen zu eben diesem Alltagsgegenstand profaniert; zum anderen bilden Live-Musik, Video und Tonspur ein komplexes Spiel aus Vorwegnahmen und Erinnerungen. Die medialen Ebenen sind – gleich kommunizierenden Röhren – getrennt und dennoch optisch und klanglich so eng verbunden, dass sich die Sinne des Hörbetrachters – wie beim Pawlowschen Hund – reflexhaft verknüpfen.
Nachdem das Kassetten-Quietschen zunächst zur eiernden Zitrone erklang, hört man es zur im Video stumm schlenkernden Kassettenhülle sowohl in der Erinnerung des soeben Gehörten nach als auch in Anbetracht der im Video sichtbar schaukelnden Hülle in der Vorstellung voraus, obwohl es tatsächlich nicht mehr erklingt. Umgekehrt erinnert man während der Klavier-Pizzikati – die das Quietschen imitieren – das jetzt ausgeblendete Bild der Kassettenhülle und imaginiert während des anschließend zugespielten Quietschens das nun nicht mehr sichtbare Bild der Kassettenhülle. Bauckholt spielt mit zeitlichen Trennungen und Verbindungen von Gesichts- und Höreindrücken, um die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen: Bilder evozieren Klänge, Klänge evozieren Bilder. Oder anders gesagt: Bauckholt lässt Bilder hören und Klänge sehen: „Mich interessiert besonders die Verflechtung der Medien. Das Hören durch das Auge wird durch sichtbare Veränderungen in einer gestalteten Zeit vermittelt (zum Beispiel optische Dichte, Rhythmus der Bilder, optische Mehrstimmigkeit, Bewegung, et cetera). Der Prozess des Sehens erinnert an musikalische Erfahrungen. Andererseits können imaginäre Bilder durch Geräusche oder Klänge hervorgerufen werden. Die Struktur der Musik und der visuellen Elemente entspringen dem gleichen kompositorischen Wunsch und Vorgang und bilden so ursächlich eine Einheit.“7
Mit Voraus- und Nachhören, Voraus- und Nachsehen spielt auch eine weitere Szene. Das Video zeigt ein auf einer Wärmflasche hin und her wippendes Brötchen. Auch hier sieht man zunächst nur das Bild ohne Ton und hört erst mit Aussetzen des Videos eine Repetitionsfolge dumpfer Schläge auf eine Basssaite des Klaviers und ähnlich schaukelnde Glissandi des Cellos, die in ebenso hin und her „wippende“ Lagenwechsel übergeben, welche nach und nach accelerieren und endlich ein Tempo erreichen, in dem bei erneuter Einblendung dann auch das Brötchen wackelt. Die Interaktion der Medien ist also eine doppelte: Die Instrumentalisten greifen zunächst das Pulsieren des Brötchens aus dem Video auf, bis dann das Backwerk seinerseits das erhöhte Spieltempo der Musiker übernimmt. Sehen und Hören überlagern sich: Wenn die Musiker schließlich – ohne Video – noch schnellere Repetitionen und Tremoli spielen, scheint in der Imagination des Hörbetrachters die wippende Teigware vollends außer Rand und Band zu geraten. Doch mit Abbrechen der Musik zeigt das wieder einsetzende Videobild stattdessen ein bewegungslos daliegendes Brötchen. Scheinbar bloß harmlos-ulkiges Spiel, entfalten die Differenzen zwischen Sicht- und Hörbarem eine dramatische Qualität, mit dem Brötchen als Akteur und tragischer Identifikationsfigur.
Bauckholt inszeniert absurde Parallelen von Bild und Ton, die unmittelbare Kausalitäten suggerieren und doch nur Illusionen sind. Besonders eindrücklich ist das Video einer Kaffeetasse, in welcher der Kaffee in dem Moment kleine zitternde Wellen zeigt, in dem die Pianistin einen Superball-Schlägel auf den Klavierdeckel schlägt und reibt. Das hörbare Rattern scheint sich direkt auf die gekräuselte Kaffeeoberfläche zu übertragen, so als ereigne sich ein Erdbeben. Die Übereinstimmung von Bild- und Tonspur schafft einen perfekten Kinoeffekt: großes Kino im Kleinen. Doch die Verhältnisse sind vertrackter als sie scheinen. Denn dieser naturalistische Effekt ist nur eine Illusion, weil in Wirklichkeit keine echte Kausalität zwischen fixiertem Video und Live-Musik existiert. Gleichwohl wirkt die Illusion so „echt“, dass sie allein durch genaues Beobachten kaum zu entlarven ist. Nur mit Hilfe des Wissens um die grundsätzliche mediale Differenz zwischen Reproduktionsmedium und Live-Musik, das sich das Publikum im Laufe der bisherigen disparaten Wechsel von Bild und Ton erworben hat, lassen sich die Erschütterungen im Mikrokosmos der Kaffeetasse als „Fake“ enttarnen. Bauckholt dekonstruiert spielerisch die Mechanismen der großen Traumfabrik Hollywood, indem sie bewusst macht, dass auch dort Bild- und Tonspur unabhängigen Produktionsprozessen gehorchen und erst von Bild- und Tonregisseur verbunden werden.
Eine humorvolle Verkopplung von Illusion und Desillusionierung steht auch am Ende von „In gewohnter Umgebung III“. Hörbare Schabgeräusche werden im Video zeitversetzt mit plötzlich aufflammenden Streichhölzern beantwortet, auf welche die Instrumentalisten mit lautstarkem Pusten reagieren, als bliesen sie die Flammen aus, die daraufhin im Video tatsächlich verlöschen. In Wirklichkeit auch hier ohne realen Kausalzusammenhang scheinen Video und Instrumentalduo dennoch direkt miteinander zu interagieren. Ganz zum Schluss sieht man aus einer plötzlich aufgerissenen Tür einen Stoff-Frosch springen. Der Cellist spielt dazu synchron ein schnell abwärts glissandierendes Bartók-Pizzikato, und unmittelbar darauf haut der Pianist fff possibile mit einem Holzstock oder Teppichklopfer auf einen Schlafsack, als schlage der Frosch aus dem Video mit lautem Knall neben den Musikern auf der Bühne auf. Das audiovisuelle Geschehen verhält sich in einem ebenso handgreiflichen wie märchenhaften Sinn transmedial: Ein Medium springt ins andere. Oder wie Bauckholt im Vorwort der Partitur schreibt: „Die Musik weitet sich ins Visuelle aus.“ Umgekehrt springt das Visuelle auch wieder in die Musik zurück und – nach finalem Schlag und zügig aufgedrehtem Saallicht – noch weiter in den Konzertsaal und das weitergehende Leben nach der Aufführung.
Gezeichnete Musik
In „Kohle, Kreide“ für Mezzosopran, Violoncello und Video von 2011/2012 (siehe Partitur in diesem Heft, Seite 55–58) liegen die Verhältnisse ähnlich und doch ganz anders als „In gewohnter Umgebung III“. Statt nur stellenweise Videobilder einzublenden, reiht Bauckholt fünf je einminütige Videos aneinander. Diese zeigen, wie unter der Hand der Zeichnerin Susanne Walter fünf kleine Kreide- und Kohlezeichnungen von Ratten entstehen. Anfangs- und Schluss-Zeichnung erfolgen mit weißer Kreide auf schwarzem Grund. Davon gerahmt werden drei Zeichnungen mit schwarzer Kohle auf weißem Papier. Durch Zeigen des Entstehungsprozesses vom ersten bis zum letzten Strich werden die in fertigem Zustand sonst zeitlos präsenten Zeichnungen verzeitlicht. Bauckholts Videos zeigen nicht die Zeichnungen selbst, sondern das Zeichnen, und brechen jeweils mit der Fertigstellung der Zeichnungen ab. Die sonst statische Kunstform vollzieht so eine Anamorphose an die Zeitkunst Musik. Umgekehrt gewinnen bestimmte Spieltechniken und Klänge der Komposition etwas Zeichnendes.
Wie „In gewohnter Umgebung III“ bilden Sängerin, Cellist und Video ein Trio, das sich durch die unabhängig behandelte Bild- und Tonspur des Videos zum Quartett weitet. Damit sich die beiden Musiker auf das Video konzentrieren und bestimmte Aktionen exakt synchron dazu ausführen können, sind ihre Partien relativ einfach gehalten. Das erste Video trägt den Titel „witternde Ratte“ (ab Takt 2). Zu den sichtbaren Kreidestrichen für Ohr, Maul und Zahn der Ratte spielt der Cellist analoge Glissandi, sodass der Eindruck entsteht, als klänge das Ziehen der Zeichenstriche wie Cello-Glissandi oder würden umgekehrt die hörbaren Bogenstriche des Cellisten die sichtbaren Linien aufs Papier bringen. Zudem artikuliert die Sängerin parallel zum Zeichnen der Rattenschnauze ein geräuschvoll eingeatmetes „sniff“ und ähnliches „irreguläres Wittern“. Das hörbare Schnüffeln lässt den Hörbetrachter die in der Zeichnung noch unfertige „witternde Ratte“ gleichsam voraussehen und das sichtbare Wittern der fertigen Ratte dann das vorherige Schnüffeln der Vokalistin nachhören.
Die zweite Zeichnung „singende Ratte weiß“ (ab Takt 15) beginnt wie die erste mit einem Liegeton b1 der Mezzosopranistin, zu dem das Cello ein lang gezogenes Glissando von a1 über b1 nach h1 spielt, so dass unterschiedlich vibrierende Schwebungen entstehen. Anschließend „zeichnet“ der Cellist zu den Kohlestrichen für Ratten-ohr und -maul kleine Glissandi analog zu den Strichen für die Maulwinkel des Tiers auf und ab (Takt 21). Den mit drei Strichen gezeichneten Nagezahn übersetzt er in drei gekratzte Perforationen (Takt 22), deren Folge von Abstrich, längs der Saite, und Aufstrich exakt der Form des Rattenzahns entspricht. Bauckholt transkribiert die Zeichenstriche eins zu eins in Bogenstriche, so wie sie sonst in ihren Werken Geräuschklänge von Alltagsgegenständen in erweiterte Spiel- und Klangpraktiken des traditionellen Instrumentariums übersetzt. Die dünnen Barthaare der Ratte begleitet der Cellist eins ums andere mit zarten Flageoletts. Unterdessen singt die Vokalistin in groteskem Widerspruch zum kleinen Nagetier eine Glissando-Linie mit der Aufführungsanweisung „Wal imitieren“ (Takt 24). Als die Zeichnerin nach einer kurzen Pause das zweite Ohr der Ratte ergänzt, quittiert das die Sängerin exaltiert mit der Silbenfolge „na i na i ferda k hi ferda“, als würde die Ratte damit über ihre Vollendung jubilieren: „Nun bin ich fertig!“
Die Parallelen zwischen den sichtbaren Zeichenbewegungen und den sicht- und hörbaren Instrumentalgesten und -klängen schaffen einen illusionistischen und zugleich desillusionierenden Soundtrack. Denn indem die Musik das Bildgeschehen mimetisch nachzeichnet, markiert sie zugleich die mediale Differenz dieses Übersetzungsvorgangs. Transkription ist für Bauckholt kein Mittel zur möglichst getreuen Übersetzung einer Bild- oder Klangquelle in eine andere, sondern ein Medium zur Hervorbringung von Musik. In Verkehrung des Filmtitels „Lost in Translation“ (2003) der Regisseurin Sofia Coppola lässt sich ihr Ansatz daher mit der Formel beschreiben: „Found in Translation“.
Bei der dritten Zeichnung „tote Ratte“ (ab Takt 31) atmet die Vokalistin „hauchig“ aus, während der Cellist pfeifende Flageoletts „wie einatmen“ spielt. Die Ratte scheint zu verröcheln. Zudem werden hier erstmals die originalen Geräusche des über das Papier fahrenden Kohlestifts der Zeichnerin von der Tonspur des Videos zugespielt. Das Kratzen und Schleifen könnte von den Krallen und Zähnen des Nagetiers stammen, würde dieses nicht ausgerechnet in dieser Zeichnung alle Viere von sich strecken. Die Dramatik der nachfolgenden Zeichnung „kotzende Ratte weiß“ (ab Takt 49) baut sich – ähnlich der ersten und zweiten – durch langsam ansteigende Glissandi auf, die in dem Moment nach oben und unten ausschlagen, da die Zeichnerin aus dem Rattenmaul einen Schwall an Erbrochenem sich ergießen lässt. Das fertige Bild kommentieren die Musiker dann mit lautstark gepresstem Bogen und Kehlkopf, so dass „ein kläglicher Mehrklang ohne Ton mit Druck, jämmerlich“ (ab Takt 57) entsteht.
Zum erstickten Schluss wird – wie schon am Ende der ersten Zeichnung – über Lautsprecher ein unterschwellig dröhnender F-Ges-Orgelklang zugespielt, zu dem in Takt 61 die letzte Zeichnung „kotzende Ratte schwarz“ (ab Takt 61) beginnt. Während der dumpfe Liegeklang bedrohlich ins Forte anschwillt und sich zum Cluster weitet, schwingt sich die Sängerin zu großen Sprüngen auf und lässt der Cellist – die Schwebungen des Orgeltons verstärkend – einen Ton aus dem Unisono-Doppelgriff g-g langsam höher zum Tritonus g-cis gleiten. Die bereits in der vierten Zeichnung angelegte Steigerungsdramaturgie erfährt dadurch eine dem Sujet entsprechende Steigerung mit finaler Tendenz. Schlussbildend wirken auch reprisenartige Elemente: Wie zur dritten Zeichnung werden auch jetzt originale Kratzgeräusche der Zeichnerin zugespielt, zudem „vertont“ der Cellist charakteristische Zeichenstriche erneut mit kurzen Glissando-Strichen. Und auch formal schließt die letzte Weiß-auf-Schwarz-Kreidezeichnung mit der ersten den Rahmen um die drei mittleren Schwarz-auf-Weiß-Kohlezeichnungen.
Eine höhere Form Kontrapunktik
Bauckholt bringt in ihren Kompositionen mit Video Bild und Ton in einer Weise zusammen, die beide Ebenen aneinander ihre spezifische Materialität und Medialität aufschlüsseln lässt und den Hörbetrachter idealerweise dazu animiert, die Mechanismen des eigenen Sehens, Hörens und Kombinierens beider Sinneseindrücke zu beobachten. Gemäß der Forderung von Adorno/Eisler folgt auch Bauckholt der Maxime: Je flexibler das Verhältnis zwischen Ton und Bild, desto aktiver die Wahrnehmung und Verknüpfungsleistung des Rezipienten. Während in Konzertsaal, Kino und Alltag sichtbare Aktionen und hörbare Resultate sonst üblicherweise zu optisch-akustischen Gesamtereignissen verschmelzen, deren Kausalzusammenhang normalerweise automatisch unterstellt wird, verfolgt Bauckholt in ihren bisher wenigen Arbeiten für Musik mit Video/Film das Anliegen, diese nachgerade naturgesetzliche Relation von Hör- und Sichtbarem zugunsten variabler Beziehungen aufzuspalten. Statt unauflösbare Einheiten zu bilden, die wegen ihrer Selbstverständlichkeit gar nicht mehr richtig wahrgenommen werden, trennt sie Sicht- und Hörbares, um beide Dimensionen als eigenständige Stimmen zu „komponieren“. Indem sie Bild und Ton zu einer höheren Form von Kontrapunktik „pictus contra sonum“ verbindet, durchkreuzt sie eingespielte cineastische Wahrnehmungsmechanismen und animiert den Hörbetrachter zu einem die Beobachtung auch auf sich selbst zurücklenkenden Wahrnehmungsspiel. Denn der aktive Nachvollzug des gerade aktuell Sicht- und Hörbaren wird überlagert von verschiedenen Strängen wechselseitig sich durchdringenden Voraus- und Zurückhörens von Klängen sowie Voraussehens und Rückerinnerns von Bildern. Dabei entfaltet der kompositorische, mediale und kognitive Beziehungsreichtum einen Grad an Komplexität, der sich dem Hörbetrachter zwar direkt erschließt, bei analytisch genauer Beschreibung aber schnell an die Grenze des Verbalisierbaren führt.
1Carola Bauckholt, Bewegung erfassen. Das Musiktheaterwerk „hellhörig“, in: Neue Musik in Bewegung
( = Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 51), herausgegeben von Jörn Peter Hiekel, Mainz: Schott, 2011, 121.
2Theodor W. Adorno/Hanns Eisler, Komposition für den Film ( = Eisler, Gesammelte Werke Serie III, Band 4),
herausgegeben von Eberhard Klemm, Leipzig: VEB
Deutscher Verlag für Musik, 1977, 100.
3Ebenda, 121.
4Vergleiche Karolin Schmitt-Weidmann, Musik in gewohnter Umgebung. Die Ästhetik Carola Bauckholts im Spannungsfeld zwischen Kunst und Alltag, in: Geräuschtöne. Über die Musik von Carola Bauckholt, herausgegeben von Jürgen Oberschmidt, Regensburg: ConBrio, 2014, 55–77.
5Vergleiche auch Julia Cloot, Verflechtung von Bild und Ton. Videosequenzen als „dritte Stimme“ in Carola Bauckholts Trio „In gewohnter Umgebung III“ (1994), in: Geräuschtöne, ebenda, 91–100.
6Carola Bauckholt, „Balance zwischen abstrakt und konkret. Gedanken zu meiner Musik“, in diesem Heft, Seite 67–68.
7Zitiert nach Christa Brüstle, Klang sehen. Konzepte audiovisueller Kunst in der neuen Musik, in: Mediale Performanzen. Historische Konzepte und Perspektiven, herausgegeben von Jutta Eming, Annette Jael Lehmann und Irmgard Maassen, Freiburg: Rombach, 2002, 189, auch zitiert bei Julia Cloot, Verflechtung von Bild und Ton, siehe
Anmerkung 4, 91.