MusikTexte 149 – Mai 2016, 115–116
Kunde aus anderen Welten
Kölner Uraufführung von Liza Lims Oper „Tree of Codes“
von Rainer Nonnenmann
Wer anders tickt, hat laut Volksmund entweder einen „gezwitschert“, „einen Vogel“ oder bei dem „piept’s“. Als urzeitliche Nachfahren der Dinosaurier künden Vögel vom Anderen der Vernunft. Die alten Griechen nahmen den Vogelflug als Orakel, dem germanischen Helden Siegfried weist ein Waldvögelein den Weg zur schlafenden Braut, und auch sonst durchflattert allerlei verheißungsvolles Federvieh die Mythen und Sagen der Völker als wären es Großvolieren: Phönix, Horus, Rabe, Adler, Schwan, Kranich, Taube, Geier, Elster, Kuckuck, Nachtigall, Lerche, Amsel, Drossel, Fink und Star, und die ganze Vogelschar.
Auch in Liza Lims Musiktheater „Tree of Codes“ künden gleich zu Beginn Aufnahmen australischer Glockenvögel und Elstern sowie der Einsatz zwitschernder Nasenflöten von einer Welt jenseits von Rationalität und Alltagslogik. Zudem zeigen Videos flatternde Vögel und Vogelschwärme und thront auf die Bühne ein übergroßer Vogelkopf. Überhaupt geht es recht turbulent zu, wie die Inhaltsangabe des dritten Akts illustriert: „Adela und die Blätterkreatur kommen zurück, aber sie haben ihre Identität gewechselt. Die Kreatur ist zur Forscherin geworden, die Forscherin ist jetzt der Baum. Sie trösten den Sohn und wiegen ihn. Die Frau in Schwarz führt eine Operation durch, die den Vater in einen Käfer verwandelt.“ Selbst die Kenntnis der übrigen Akte vorausgesetzt, versteht man von diesem eigenartigen Bäumchen-Wechsel-Dich kaum mehr als Bahnhof. Immerhin war der Vater zuvor schon gestorben, wiederauferstanden und zum Vogel geworden.
Wie in einer Allegorie von Natur, Leben, Geschichte zeigen Lims Musik und Massimo Furlans Inszenierung alles in Verwandlung, Transformation, Metamorphose, Mutation. Sämtliche Personen, Texte, Requisiten, Stimmen und Klänge wechseln ihre Identität, tragen Masken, sind vielgesichtig, janusköpfig, schizophren, schizophon, multipel. Der italienisch-schweizerische Schauspiel-Regisseur zaubert in seiner ersten Opernregie einen bunten Bilderreigen, durch den das Publikum wie durch einen psychedelischen Dschungel taumelt, bevölkert mit Chimären, Gespenstern, Fabelwesen, Doppelgängern, Alter Egos, Phantomen: Musiktheater wie ein LSD-Trip.
Liza Lims „Tree of Codes“ entstand 2013 bis 2015 als Auftragswerk von Oper Köln, Ensemble Musikfabrik und Europäischem Zentrum der Künste Hellerau in Kooperation mit der Akademie der Künste der Welt Köln, deren Mitglied die 1966 geborene australische Komponistin ist. Im Vorfeld hatten Lim und Furlan in Workshops den Aktionsradius der Musiker ausgelotet, die sich seinerzeit bei der europäischen Erstaufführung von Harry Partchs „Delusion of the Fury“ bei der RuhrTriennale 2013 auch als Schauspieler und Sänger zu bewähren hatten. Außerdem ließ sich Lim von den Blechbläsern deren Doppeltrichter-Instrumente vorführen, also Trompete, Horn, Posaune und Euphonium mit jeweils zwei Schalltrichtern, so dass sich mit zusätzlichem Ventil schnell zwischen offenem und mit Dämpfer bestücktem Schallstück wechseln lässt und rasche Klangfarben-Wechsel oder regelrechte Farbtriller resultieren. Auch dank intensiver Vorstudien gelang der Zusammenarbeit von Lim und Furlan ein ebenso absurdes wie absolutes Theater. Epische Handlungsreste bleiben zwar erkennbar – der Leiter eines Forschungslabors begleitet seinen dementen Vater und Vorgänger in den Tod –, doch werden sie von einer Unmenge an Deutungsmöglichkeiten förmlich überwuchert, die keine eindimensionale Lesart erlaubt. Durch die sichtbar als Teil der Szene agierenden Musiker verweist die Aufführung zudem selbstreferentiell auf sich selbst, so dass die Ereignisse auf der Bühne zwischen theatralem Spiel und konzertanter Aktion changieren. Beispielsweise kriecht Dirigent Clement Power gleich zu Anfang durch eine enge Röhre auf die Bühne, um als zerlumpter Obdachloser mit zotteligem Kopf- und Barthaar seine Version der kryptischen Geschichte nicht mit Worten und Bildern zu erzählen, sondern ausschließlich mit Gesten, wahlweise sinn- und hilflosem Gefuchtel oder punktgenauem Dirigat.
Die Guckkastenbühne von Antoine Friderici zeigt ein nüchternes Laboratorium, in dem die Musiker in aseptisch weißen Kitteln unter kaltem Neonlicht betriebsam mit ihren Instrumenten wie Genforscher oder Klinikpersonal an Pflanzen und Tieren hantieren. Doch hinter der Fassade von Wissenschaftlichkeit lauert das gerade Gegenteil, ein Irrenhaus, zum Bersten gefüllt mit Halluzinationen, Fiktionen, Projektionen, Obsessionen. Die phantasievollen Kostüme von Séverine Besson und teils alptraumhaften Masken von Julie Monot zeigen die Nacht- und Schattenseite des Bewusstseins. Immer wieder ereignen sich seltsame Übergänge und unerklärliche Kreuzungen zwischen Tieren, Pflanzen, Menschen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Geschehen changiert ständig zwischen Irrationalität und Rationalität, Traum und Wirklichkeit, Rausch und Nüchternheit, Kinder- und Erwachsenenwelt. Während achtzig Minuten erlebt man einen Somnambulismus, der jeden noch so entschiedenen Versuch, etwas festhalten und verstehen zu wollen, untergräbt. Diese Polysemie der Ereignisse bringt das Textbuch exemplarisch mit Versen aus Goethes „Der Erlkönig“ auf den Punkt: Der fiebernde Sohn sieht den „Erlenkönig mit Kron’ und Schweif“, doch der Vater entzaubert das Trugbild sogleich: „Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“
Liza Lim schrieb das Libretto ihrer vierten Oper frei nach Jonathan Safran Foers gleichnamigem Buch „Tree of Codes“ (2010), das seinerseits auf der Sammlung osteuropäischer Schtetl-Geschichten „Die Zimtläden“ (1934) des polnisch-jüdischen Autors Bruno Schulz basiert. Aus dieser Vorlage tilgte Foer einzelne Wörter, Sätze und ganze Passagen, um zugleich durch Ausstanzungen auf den Buchseiten jedem Umblättern neue Blickachsen auf einzelne Wörter, Sätze und ganze Passagen der vorherigen und nachfolgenden Seiten zu öffnen. Das ebenso „vielseitige“ wie reduzierte Textmaterial bildet immer wieder andere Zusammenhänge und neue Erzählvarianten, die sich um die aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung wenig kümmern, dafür aber umso mehr die Phantasie des Lesers provozieren. Der Titel von Foers Buch und Lims Oper entstand nach demselben Filterprinzip aus dem Titel der englischen Übersetzung von Schulz’ Buch „the sTREEt OF CrOcoDilES“ (hier mit Großbuchstaben hervorgehoben). Wechselseitige Überlappungen finden sich auch in Furlans Inszenierung, wo sich beispielsweise Schwarz-Weiß-Videos und tanzende Schatten durchdringen, welche Bühnenaktionen infolge beweglicher Lichtquellen auf dieselben Wände werfen. Ebenso übertrug Lim den Mechanismus von Auslassung und Rekombination als kompositorische „Cut-outs in time“ auf Klänge und Strukturen. Formal entfalten sich die vier direkt ineinander übergehenden Akte ihres als „eine Oper“ bezeichneten Werks als alternierende Abfolge oder simultane Überlagerung überwiegend lyrischer Vokal- und Instrumentalsoli mit in Time Brackets notierten Ensemble-Klangflächen und elektronischen Zuspielungen.
Bariton Christian Miedl und Sopranistin Emily Hindrichs singen mit wunderbar klaren und beweglichen Stimmen elegische Kantilenen. Beim Klagegesang auf den toten Vater zeigt der Sohn ein anderes Gesicht sowohl sichtbar durch Masken als auch hörbar durch Wechsel vom Baritonregister ins Falsett. Das Sterben des Vaters sekundiert Doppeltrichter-Trompeter Marco Blaauw mit einem Blues und anschließend erklingt sogar ein echter Trauermarsch. Und zur Verwandlung eines ominösen Pflanzenklumpens in eine vegetativ-verführerische Frauengestalt spielt Solobratschist Axel Porath auf einer Strohbratsche, die anstelle des üblichen Holzkorpus über einen metallischen Schalltrichter verfügt. Der schnarrende Klang dieses „Bastards“ aus Streich- und Blechblasinstrument wird von Trillern der Doppeltrichter-Blechbläser aufgegriffen, die ihrerseits mit Flatterzungenspiel auf die Lautsprecherzuspielung eines knatternden Mofas antworten. Ebenso verwandelt sich ein verstimmtes Klavier zum Daumenklavier (Kalimba) und Toy Piano, zersplittern Fagotttöne zu hochenergetischen Multiphonics, verkehren sich tirilierende Pikkoloflöten zur monströs-riesigen Subkontrabassflöte, wechselt Klarinettist Carl Rosman zur trällernden Nasenflöte, werden Atemgeräusche durch Instrumente verfärbt, wird Gesang zu Sprache, und changiert der englische Text plötzlich zu Französisch, Polnisch und wieder zurück. Am Ende mutieren sämtliche Instrumentalisten zu Vokalisten. Das hochprofessionelle Ensemble Musikfabrik wird unversehens zum dilettierenden Laienchor mit hörbar einbrechender Präsenz und Intensität.
„Tree of Codes“ entfaltet intern und extern einen Beziehungsreichtum, der sich einmaligem Erleben nicht erschließt und sehr für die Qualität der Komposition spricht. Lim intendiert kein erschöpfendes Verständnis von Texten, Bildern, Klängen, sondern eher das Gegenteil. Die Überfülle möglicher Bedeutungen und Verbindungen entzieht sich dem verstehenden Nachvollzug des Hörbetrachters, denn alles zerfließt, wechselt seine Gestalt und treibt unerwartete Phantasmagorien, Handlungsstränge, Sinn-Blasen und Nonsens-Blüten hervor. Das letzte „Wort“ haben daher mit erstaunlicher Folgerichtigkeit – wie zu Anfang – die Vögel.