MusikTexte 149 – Mai 2016, 118
Love on Ice
Uraufführung von Daniel Kötters/Hannes Seidls „Liebe“ in Berlin
von Rainer Nonnenmann
Ein Wort nur – „Liebe“ – doch was birgt es für unerfindliche Wege und Irrwege! Liebe gibt es in jeder Dauer und Temperatur, zwischen weißglühender Leidenschaft und langsam erkaltender Schlacke, wilder Raserei und mildem Gleichlauf, Erfüllung und Versagen. Liebe ist Agape, Eros, Thanatos, flüchtiger Flirt und ewige Treue. Alle Spielarten von Sehn- und Eifersucht, Hass, verratener, erzwungener, prostituierter, gekaufter Liebe … liefern seit jeher Stoff für Poesie, Oper und Drama. Dem privaten Gefühls- und Erlebniswert von Liebe steht ihr künstlerischer und kommerzieller Ausstellungs- und Tauschwert gegenüber. Und ihre individuelle Privatheit ist gesellschaftlich überformt von Gesetzgebung, Rechtsprechung, Wirtschaft, Finanzen, Macht- und Besitzverhältnissen. Liebe ist nicht nur ein Gefühl, sondern steht im Fadenkreuz unterschiedlichster Interessen. Daher ist sie nach „Kredit“ (2013) und „Recht“ (2014) höchst berechtigter Gegenstand des dritten und letzten Teil der „Ökonomien des Handelns“ von Daniel Kötter und Hannes Seidl. Mit ihrer gemeinsamen Musiktheater-Trilogie verfolgen Videokünstler und Komponist den Anspruch, mit den Mitteln von Film und Musik die „immateriellen Bedingungen sozialen Handelns“ zu untersuchen. Uraufgeführt wurde „Liebe“ (2015/2016) nun im Rahmen des Berliner Festivals MaerzMusik.
Zu Anfang zeigt das Video eine Unterwasser-Kamerafahrt durch Eisplatten. Nach vielem Blubbern endlich aufgetaucht, sieht man in einer kahlen Eis- und Schneelandschaft ein rotes Poesiealbum oder Tagebuch sowie ein kleines Transistorradio liegen, dessen plärrendes „I love you, I love you …“ der brausende Sturmwind fast verweht. Schließlich hebt jemand Album und Radio auf und nimmt sie mit. Diesem Menschen folgt fortan das Video auf Schritt und Tritt während eines einstündigen Gangs über norwegische Fjälls, bis der Winterreisende am Ende einen Fjord erreicht. Parallel zu den sicht- und hörbaren Wanderschritten und Windgeräuschen beginnt auf der Bühne der einzige Akteur Wolfram Sander mit Meißel, Hammer, Säge und Elektrobohrer Stücke aus einem aufgebahrten Eisquader zu brechen. An Fleischerhaken werden die Bruchstücke auf Gestelle gehängt, von wo ihr durch Scheinwerfer in Szene gesetztes Schmelzwasser auf Becken, Bongos und Trommeln eines Rock-Drumsets tropft, so dass irregulär prasselnde Beats entstehen. In gleicher Weise werden E-Bassgitarre und E-Melodiegitarre bespielt. Hier fällt Schmelzwasser auf zwischen Gitarrensaiten gespannte Stäbe, dort füllen die Tropfen langsam eine Hebelvorrichtung, die endlich schwungvoll über die Saiten streicht. Komplettiert wird die „Rockband“ durch Keyboards und Synthesizer, auf deren Tasten Eisbrocken gelegt werden, sowie durch Turntables, deren Saphir tiefgekühlte Eisscheiben zerkratzt. Schließlich erfährt das Setting noch eine ebenso genre- wie performancetypische Verstärkung durch Elektro-Heizstrahler, die den Schmelzvorgang beschleunigen und damit die Dichte der Tonfolge erhöhen.
Die mit dem Titel „Liebe“ und dem Rockband-Setting beschworenen Love Songs und Rock-Balladen der Popgeschichte versetzen Kötter und Seidl ins polare Eis. Dem allgemeinen Ausverkauf von Love, Love, Love auf allen Kanälen trotzen sie, indem sie das einmalig kostbare Gefühl von Herz und Schmerz, Ich und Du wie verderbliches Handelsgut zu haltbarer Lagerung im Tiefkühlfach deponieren. Und die Sehnsucht Zehntausender nach Gemeinschaft, wie sie ein Rockkonzert befriedigt und welche Kötter und Seidl im Programmzettel als „Wärmekern des Pop“ bezeichnen, wird eisgekühlt als Pop on the Rocks serviert. Die Szenerie in den Berliner Sophiensälen entfaltet durchaus poetische Qualität. Die Instrumente werden wie lebende Popikonen angestrahlt als seien sie die wahren Stars. Doch statt von ausdrucksfähigen Musikern werden sie von lebensfeindlichem Eis traktiert, das sich ins Lebenselixier Wasser verwandelt. Der kulturkritische Hintersinn dieser Eiskammer der Ökonomien der Liebe ist offensichtlich. Doch kommt das Geschehen kaum über plakative Kontraste von heiß und kalt, lebendig und tot hinaus. Einmal durchschaut, verläuft die Performance-Installation, die mit Musiktheater wenig zu tun hat, ohne qualitative Wendung und neue Reflexionsstufe. Das Video zeigt fortwährend den einsam durch den Schnee stapfenden Wanderer und die Bühne den ebenso alleine agierenden Performer, der als geschickter Handwerker die „Rockband“ in Gang bringt: Eisbrecher statt Herzensbrecher.
Die Handlung besteht rein aus zweckorientierten Aktionen im Rahmen der Installation, in deren eigengesetzlichem Verlauf die schmelzenden Eisbocken einer nach dem anderen mit lautem Scheppern von den Hacken fallen, so dass das Tropfen abnimmt und die Instrumente schließlich verstummen. Der ganze Vorgang von Aufhängen, Schmelzen, Tropfen und Abfallen ist ebenso erwartbar wie auf Dauer langweilig und nichtssagend. Aufsehen erregt erst am Ende noch einmal das Video, wo sich dem einsamen Wanderer überraschenderweise weitere Gestalten zugesellen, die endlich alle zusammen das Ufer des Fjords erreichen und sich dort um ein Feuer scharen. In der Bildlogik des Projekts: Pop- und Kulturindustrie als wärmendes Lagerfeuer inmitten sozialer Eiswüste. Gleichzeitig verteilt der Performer die letzten Eisreste tütchenweise, zerschreddert und mit Sirup getränkt, zum Naschen ans Publikum. Und während sich das Eis weiter auflöst und über dem kleinen Menschenhäuflein im Video die dunkle Polarnacht herabsinkt, schmilzt auch das Eis schlotzende Publikum langsam dahin. Weil es zu lange dauert, bis alle Brocken auf den Tasteninstrumenten zu Wasser geworden sind, nehmen die Besucher irgendwann selber das Heft in die Hand und erklären mit etwas Applaus das Stück für beendet, damit sie sich ungeniert unterhalten und den Saal verlassen können.
In den früheren Produktionen „Kredit“ (gezeigt in Graz, Frankfurt und Berlin) und „Recht“ (gezeigt in Frankfurt, Gent, Berlin und Zagreb) verwendeten Daniel Kötter und Hannes Seidl vielstimmiges dokumentarisches Bild- und Tonmaterial, Mitschnitte von Interviews, Seminaren, Meetings, Partys. In den Videos sah man dort verschiedene Landschaften, Städte, Gebäude, Szenen sowie bekannte Persönlichkeiten der Börsen-, Finanz- und Alltagswelt. Es gab Texte, Sprecher, Sänger, ein Instrumentalensemble (Nadar), einen singenden und skandierenden Chor. Es ereigneten sich diskursive und theatrale Interaktionen zwischen Live-Tonspur, Szene und Video. Daran gemessen wirkte nun das letzte Stück „Liebe“ simpel und – infolge augenscheinlich allzu begrenzten Etats – geradezu billig. Die Ökonomie für die Produktion dieses letzten Teils der „Ökonomien des Handelns“ war offenbar unzulänglich. Angesichts der Komplexität des Phänomens „Liebe“ fehlten dem Künstlerduo aber vor allem die Worte, Klänge, Bilder.