MusikTexte 149 – Mai 2016, 111–112

Le petit Paris sur la Ruhr

Die Wittener Tage für neue Kammermusik

von Rainer Nonnenmann

Seit Jahren präsentieren die Wittener Tage für neue Kammermusik hierzulande wenig bekannte Komponisten und Interpreten aus Frankreich. Wie kaum eine andere Veranstaltung transferiert das seit 1990 von WDR-Redakteur Harry Vogt geleitete Festival Musik von jenseits des Rheins nach Deutschland. Dieses Mal gab es allein zwei Porträtkonzerte mit Werken von Gérard Pesson sowie Aufführungen von Hugues Dufourt und Franck Bedrossian, die alle auch schon früher in Witten vorgestellt wurden. Erneut zu Gast waren ferner das Ircam-Studio samt „Music designer“ und „Sound engineer“, das 1996 gegründete Quatuor Diotima sowie das seit 2002 bestehende Kammerensemble L’Instant Donné.

Die Gesamtaufführung von Pessons drei „Cantates égale pays“ bis halb zwölf Uhr Nachts ließ manchen Kopf im Publikum zur Seite kippen. Das lag auch an den bei allem instrumentalen Einfallsreichtum gleichförmig rezitativischen Vokalpartien für das Ensemble Exaudi. Viele Abschnitte folgten barocken Vorbildern wie „Toccata“, „Air“ und „Choral“ oder entwerteten sich durch allzu bunte Folge gegenseitig, statt übergeordnete formale Spann- und Bindekräfte zu entfalten. Dieselbe Kurzatmigkeit kennzeichnete Pessons Suite für Kammerorchester, die der 1958 geborene Komponist jüngst aus seiner 2004 entstandenen Oper „Pastorale“ über ein frühbarockes Hirten- und Schäferstückchen extrahierte. In lichten Pastelltönen wird hier ein bukolisches Sommeridyll gezaubert, mit säuselndem Zephyr, lockender Lotusflöte, munterem Vogelgezwitscher, sanftem Liebesgeflüster, klingenden Weingläsern, blökenden Blechbläsern, sowie Bauerntanz, Marsch und Reitrhythmen. Das ziselierte Spitzengewand der dekorativen Stimmungsmalerei trübten allerdings einige Patzer des unter Leitung von Emilio Pomàrico ohne Esprit aufspielenden WDR-Sinfonieorchesters. Pessons Stärke liegt offenbar nicht in großen Formen, sondern in der Subtilität, Prägnanz und Vielgestaltigkeit kleiner Medaillons, wie den 1995 vom ensemble recherche in Witten bereits ur- und nun auf höchstem interpretatorischen Niveau wieder aufgeführten Bagatellen „Récréations françaises“.

Lebhaft und traumartig verschleiert klang Pessons „Catch Sonata“, bei der sich Klarinette und Violoncello behutsam in den jeweils anderen Klang einschleichen, um ihn von innen heraus umzufärben, während das mit Dämpfern präparierte Klavier melodisch-rhythmisch kontrastiert. Der Kompositionslehrer am Pariser Conservatoire gab damit dem ausgezeichneten Trio Catch – 2010 von Stipendiatinnen der Internationalen Ensemble Modern Akademie gegründet – ein Paradewerk mit auf dessen noch jungen Karriereweg. Ebenso hochkonzentriert musizierten aktuelle Teilnehmer der Interna­tionalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) sechs Werke junger Nachwuchskomponisten im „Newcomer Konzert“. Heraus ragten ein virtuoses Streichtrio des Koreaners Eunsung Kim und ein Quartett mit resonierendem Klavier des Chilenen Francisco Concha Goldschmidt. Eine außergewöhnliche Sololeistung bot Trompeter Paul Hübner, der an zwei Tagen gleich sieben Mal Adriana Hölszkys fünfzig minütiges „grenzWELTENzeitENDEN“ aufführte, und zwar mit sagenhaft vielen Spieltechniken auf Euphonium, Alphorn, Flügelhorn, C- und Piccolo-Trompete sowie in Kombination mit zuvor von ihm aufgenommenen und nun quadrophon zugespielten Klängen.

Kompositorischer wie interpretatorischer Höhepunkt war die Uraufführung von Enno Poppes Zweitem Streichquartett „Buch“ durch das Quatuor Diotima. Fünf charaktervolle Einzelsätze sind hier wie im spätklassischen Sonatenzyklus zur Großform verklammert. Einem kantigen „Allegro agitato“, bei dem versetzte Einzelstimmen stellenweise zu wuchtigen Akzenten zusammenfallen, folgt ein – freilich ebenfalls nicht so genanntes – „Adagio cantabile“, bei dem die Streicher über ihre Griffbretter wie über Schmierseife gleiten, um in allen Regenbogenfarben schillernde Vibrati und wimmernde Glissandi zu erzeugen. Einem schnatternden „Capriccio“ folgt als das zentrale Materialreservoir des gesamten halbstündigen Stücks ein „Scherzo“, das zugleich wie eine Synthese der Glissandi des zweiten Satzes mit dem erhöhten Tempo und dynamischen Zugriff des dritten wirkte. Der Finalsatz besteht aus mikrotonal sich verschiebenden Akkorden, die unterschiedliche Spannungsgrade und Schwebungen bis hin zu strahlenden Spektralakkorden durchlaufen: Erlebbar als eine Art „Tombeau“ auf Pierre Boulez, zu dessen „Livre pour quatuor“ sich Poppe mit dem eigenen „Buch“ einen Zugang komponieren wollte.

Als gattungstypische Praxis der Theorie kommunikativen Handels wirkten die dialogisch verzahnten Stimmen des Ersten Streichquartetts von Johannes Boris Borowski in delikater Wiedergabe durch Diotima. Wie leicht jedoch musikalische Interaktion zu ulkigem Mickey Mousing verkommt, zeigte das mit kleinen Floskeln, Seufzern, Gesten sowie mit Hecheln und Stöhnen der Musiker von L’Instant Donné munter parlierende Sextett „Serpientes y escaleras“ des 1988 geborenen Spaniers Mikel Urquizas. Hier zu einer vorsätzlich heiteren „Serenata“ inszeniert, erschienen Vokalimitate dagegen in Franck Bedrossians „I Lost A World The Other Day“ als aggressives Schimpfen und Zanken mit forcierter Dynamik, harten Staccato-Attacken, kraftvoll gequetschten Bögen und fauchendem Akkordeon. Den vertrauten Rahmen komponierter Kammermusik um der Musik willen verließ als einziger Malte Giesen im Ensemblewerk „Die Paradoxie der Sichtbarkeit“, um die Frage nach einer ernsthaften „Integration nicht-westlich-hochkultureller Tradition“ zu demonstrieren. Ein orientalisierendes Obo­en­solo wird hier statt vom Oboisten auf dem Keyboard gespielt, und zwar bewusst mit körper- und ausdruckslosem Synthetiksound und mechanischem Vibrato: Die Moral von der Geschicht’, vertraue dem Bekannten nicht, und höre besser hin, wenn ich fremd dir bin!

Andere Formate und Themen jenseits der üblichen Gattungen und Besetzungen suchten auch Brigitta Muntendorfs Adaptionen ihrer Werkserie „Public Privacy“ für Soloauftritte von Flötistin, Keyboarderin, Posaunist und E-Gitarrist im Glaspavillon der VHS-Witten. Ihre Installation mit Überwachungskameras im Rathaus­turm zeigte allerdings auch, dass es nicht genügt, eine Technologie einfach zu benutzen, um sie kritischer Reflexion zugänglich zu machen.

Ungeniert mit Exotismen spielte indes der abendfüllende Kammerensemblezy­klus „Apollon et les continents“, den Hugues Dufourt zwischen 2004 und 2016 nach den vier Kontinenten von Tiepolos Deckengemälde in der Würzburger Residenz komponierte. Ähnlich der fürstbischöflichen Phantasmagorie aus dem kolonialistischen Rokoko beginnt „Asien“ mit chinesischem Becken und gamelanartigen Gongs. „Afrika“ wird von einem großen Solo des Konzertflügels eröffnet, also ausgerechnet vom Symbolinstrument der europäischen Kunstmusik, das allenfalls in Form und Farbe dem schwarzen Kontinent ähnelt. Die schreienden Multiphonics und pfeifenden Dissonanzen des alten „Europa“ mochten dann einstehen für Moderne sowie für Vielstimmigkeit, Zerwürfnis und Krieg. Letztlich mündeten unablässige Repetitionen, trommelnde Bassanschläge und Klangschichtungen aber vor allem in Monotonie. Ungleich stärkeren Eindruck machte Johannes Kalitzkes vielschichtige Musik zu Arthur Robinsons Stummfilm „Schatten“ von 1923 mit ständig oszillierenden Beziehungen zwischen Klang und Bild. Gegenüber den Szenen des Eifersuchtsdramas verhielt sich das Ensemble ascolta mal illustrierend, mal kommentierend, ironisierend, psychologisierend, dissonierend. Das artifizielle cineastische Spiel mit Schattenwürfen, Puppen, Spiegelbildern und Theater im Theater fand dank Vocoder, elektronischer Klangschatten und Stilallusionen auch Entsprechungen im selbstreferentiellen Spiel der Musik in und mit Musik. Dank Kalitzkes Komposition verdient der an sich schon sehenswerte Film noch viele Folgeaufführungen in Konzertsälen, Kinos und Fernsehen.