MusikTexte 149 – Mai 2016, 113–114
Auf keinen Nenner zu bringen
Personal- und Perspektivwechsel beim Stuttgarter Festival Eclat
von Rainer Nonnenmann
Dass die künstlerische Leitung eines Festivals jahrzehntelang derselben Person obliegt, ist ebenso problematisch wie allzu häufig wechselnde Programmplaner. Das seit 1997 unter dem Namen „Eclat“ firmierende „Festival Neue Musik Stuttgart“ wurde dreißig Jahre lang von Hans-Peter Jahn geleitet, dem Redakteur für Neue Musik am SWR Stuttgart. Mit dessen Pensionierung 2013 wurde Björn Gottstein Redakteur und zugleich – in neuer Konstruktion – Angestellter des Festival-Veranstalters „Musik der Jahrhunderte“. Als im November 2014 Armin Köhler starb, der Redakteur für Neue Musik in Baden-Baden, ging die Leitung der Donaueschinger Musiktage sofort an Gottstein über, statt wie geplant erst 2017. Der Posten der programmlichen Mitverantwortung des SWR bei Eclat wurde dadurch erneut vakant. Nachdem Gottstein 2015 vorübergehend beide Festivals verantwortete, lag nun im Februar 2016 – wieder in neuer Konstruktion – die künstlerische Leitung der zwei Konzerte der SWR-Reihe „Attacca“, mit denen sich das SWR Vokalensemble und Radio-Sinfonieorchester Stuttgart an Eclat beteiligen, bei Lydia Jeschke, der Redaktionsleiterin für Wort/Musik, Neue Musik und Jazz. Das Programm der übrigen drei Solo- und vier Ensemblekonzerte sowie zwei Musiktheaterprojekte verantwortete Christine Fischer, die seit 1985 zunächst als Geschäftsführerin und schließlich als Intendantin von „Musik der Jahrhunderte“ Kontinuität inmitten der jüngsten Rochaden garantiert.
Die in der Vergangenheit von Gottstein und auch noch von Jahn vergebenen Kompositionsaufträge fügten sich mit den aktuellen Planungen zu einer erstaunlich sinnvollen Gesamtdramaturgie. In den verschiedenen Sälen des Stuttgarter Theaterhauses wechselten jeden Tag Solo-, Ensemble- und Großbesetzungen. Und mit den Themen „Raum“ und „Perspektivwechsel“ gab es inhaltlich zwar keinen roten, aber immerhin rosa Faden. Das seit Jahns Wirken typische Musiktheater-Profil von Eclat schärften eine Neuproduktion und eine erweiterte Übernahme des im September 2015 in Berlin uraufgeführten Stationentheaters „Eiland (Isola)“ von Manos Tsangaris. Im Raum verteilte Soli, Duos und Quartette wurden dabei so oft wiederholt, dass sie sich gegeneinander verschoben und stets einen neuen Gesamtzusammenhang bildeten. Das frei umherwandelnde oder auf raren Sitzgelegenheiten Platz nehmende Publikum konnte so die von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart in verschiedenen Formationen zusammen mit sechs Kontrabassklarinettisten sowie diversen Gegenständen, Lichtern und Zusatzinstrumenten aufgeführten Stücke sowohl einzeln nacheinander erleben als auch im selben Raum gleichzeitig alle anderen Stücke voraus und zurück hörend und sehend zu einem Gesamtereignis synthetisieren.
Auf unterschiedliche Lesarten desselben Geschehens zielte auch François Sarhans uraufgeführtes Musiktheater „La Philosophie dans le Boudoir“. Anhand von Textzitaten und Bildern, die auf eine zentral im Raum hängende Pappskulptur projiziert wurden, erlebte das in drei Gruppen um diese Skulptur herum plazierte Publikum dieselben Nonsenslaute und Gesten der Neuen Vokalsolisten Stuttgart aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln: entweder als Bewerbungsgespräch in der Chefetage eines Konzerns, als Strafprozess gegen die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof oder als die von Marquis de Sade in seiner titelgebenden „Philosophie“ geschilderte libertinäre Initiation eines Mädchens. Mehrdeutige Aktionen wie exzessives Händeschütteln, Schulterklopfen und Lachen, die zu gegenseitigem Abwatschen und Über-den-Tisch-Ziehen eskalieren, machten die projizierten Informationen wahlweise als ökonomische, politische, juristische oder sexuelle Gewalt verstehbar. Dem Publikum blieb diese Mehrdeutigkeit jedoch weitgehend verborgen, da es – kaum anders als im traditionellen Guckkastentheater – jeweils nur eine Projektionsfläche zu sehen bekam und ohne entsprechenden Umkippeffekt jeweils nur eine der drei Simultanrollen der Sänger zu deuten vermochte. Das Ergebnis blieb daher konventionell narrativ, eindimensional und spannungslos, auch wegen der mehr collagiert als komponiert wirkenden Musik, die teils geräusch- und sprachhaft klang, teils kantabel, tonal und obertonreich wie Stockhausens „Stimmung“.
Unter den Ensembles ragte das Stuttgarter Ensemble ascolta als internationale Spitzenformationen ebenbürtig heraus. Unter Leitung von Michael Wendeberg tobten die sieben Musiker in Dror Feilers „Den 10 gewidmet“ kontrolliert vor Wut und Schmerz über die zehn Todesopfer, die ein israelischer Armee-Angriff auf die von Feiler mit unterstützte Hilfsaktion „Ship to Gaza“ 2010 gefordert hatte. Der in Schweden lebende israelische Komponist zielt auf ohrenbetäubende Penetranz in Permanenz. Seine hochenergetische Musik will wehtun, mit geschlagenen Blechen, stampfenden Marschgesten, dröhnendem E-Bass und fast durchweg in Fortissimo-Höchstlagen wie messerscharfe Metallkeile herausgestochenen Trompetenfanfaren, die Markus Schwind sensationell kraftvoll bewältigte. Zu Entdeckungen des Festivals wurden jedoch zwei junge Komponisten.
Benjamin Scheuers Klavierstück „Kiste“ bestand aus einer Folge kurzer Material- und Strukturmodelle, bei denen der Pianist Florian Hölscher parallel zum Klavierspiel über ein Keyboard verschiedene Samples abrief. Diese ließen zunächst manipulierte Klavierklänge hören, so dass eine Art „Extended Piano“ entstand. Später entfernte der 1987 geborene Hamburger Komponist die Zuspielungen jedoch immer weiter zu Hammondorgel, krachender Noise-Elektronik und wild glissandierendem Pfeifen. Die 1986 im ukrainischen Donezk geborene Anna Korsun zeichnete mit dunklen Bassinstrumenten ein nachtschwarzes Tableau, leblos, wüst und leer, mit am Ende sieben wie apokalyptische Würgeengel kreischenden Lotusflöten.
Während Korsun mit solch aus tiefsten Tiefen überraschend stringent zu höchsten Höhen gewendetem Schluss bloß atmosphärische Klangtapete vermied, kam „endlos die nacht / senza ritorno“ von Marko Nikodijevic´ über stimmungsvolles Ambiente kaum hinaus. Vom Aleph Gitarrenquartett perpetuierte Fragmente aus Chopins posthumem cis-Moll-Nocturne wurden umstrahlt von einem mondlichten Klanghof aus silberglöckchenheller Elektronik. Tonale Neigungen ließen im Konzert des SWR Vokalensemble auch Beat Furrers „Herbst“ und Ansgar Bestes „In the steppes of Sápmi“ auf Volkslieder der Samen, sogenannte „Joiks“, erkennen. Zu einer Gratwanderung zwischen Restauration und origineller Wiederaneignung spätromantischer Harmonik geriet Lars Petter Hagens „Harmonium Repertoire“, gespielt vom Cikada Ensemble aus Oslo unter der Leitung von Christian Eggen. Die durchweg leisen Akkordverbindungen erinnerten vor allem an Wagners „Lohengrin“ und „Parsifal“, stammten laut dem norwegischen Komponisten aber aus Werken von Bruckner, Mahler, Strauss, Schönberg und Berg. Doch bei aller nostalgischen Sehnsucht nach dem guten alten Dur-Moll-System wurden die brillant instrumentierten Entlehnungen allesamt durch haarrissfeine Brechungen aus den originalen Zusammenhängen gelöst und zu etwas Neuem umgeschaffen.
Dass es kein verbotenes Material gibt, sondern nur darauf ankommt, was man damit macht, bewies einmal mehr auch Carola Bauckholt. In ihrem „Sog“ von 2013 komponierte sie sirrende elektrische Zahnbürsten sowie Zuspielungen von plätscherndem Wasser, piepsender ICE-Tür und gesprochenen Phrasen, „das ist doch kein Problem“, „ich versteh das nicht“, „du kannst es schaffen“ und endlich in lautstark triumphierendem Tutti „Du hast es geschafft!“
Den sechzigsten Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart erhielt Michael Pelzel für sein aus 151 eingesandten Partituren ausgewähltes Ensemblewerk „Sempiternal Lock-In“. Das vom Klangforum Wien unter Leitung von Enno Poppe ohrenscheinlich unterprobt aufgeführte Stück gehört nicht zu den energetisch und strukturell aufregendsten des 1978 geborenen Schweizers. Die halbstündige Komposition schwächelte vor allem im letzten Drittel, womöglich auch wegen unstimmiger Material- und Formdisposition. Dagegen verdeutlichte im selben Preisträgerkonzert Poppes phantastischer „Koffer“ von 2012, wie sich selbst mit diversen formalen Brüchen über dreißig Minuten ein durchweg packender Spannungsbogen bauen lässt. Zu Anfang des Konzerts bot Georg Friedrich Haas mit „Anachronism“ von 2013 aalglatte Minimal Music, bestehend nur aus rauf und runter sequenzierten repetitiven Patterns, erbärmlicher, dünner und dümmer als vieles von Philip Glass. Mit seinen weltweiten Erfolgen scheint der vielgefragte österreichische Komponist alle Qualitätsmaßstäbe und Selbstkontrollmechanismen zu verlieren. Wie ernst ist jemand noch zu nehmen, der an sich selbst keinerlei Ansprüche mehr stellt?
Im Konzert des Uusinta Ensembles aus Helsinki ließ Sami Klemola über ein mikrophoniertes Klaviertrio krachlederne Noise-Elektronik abrufen. Doch ohne originellen Umgang mit solch live-elektronischen Hybridbildungen ist diese avantgardoide Modeerscheinung nichts weiter als ein längst dutzendfach breitgetretenes Klischee. Rein akustische Erkundungen unternahm indes Giorgio Netti im vierzigminütigen Kontrabass-Solo „ur I – rito“. Trotz hochkonzentrierter Interpretation durch Dario Calderone wirkte das Stück eher wie eine improvisierte Obertonstudie, die offenbar nicht auf all den perkussiven und repetitiven Spielweisen aufbauen wollte, mit denen der 2012 verstorbene Ausnahmebassist Stefano Scodanibbio faszinierende graduelle Prozesse gezaubert hatte. Neue Wege auf der Bratsche suchte Alberto Posadas in „Tombeau & Double“, indem er den exzellenten Christophe Desjardins unterschiedliche Spielweisen und Präparationen auf verschiedenen Saiten polyphon kombinieren ließ. Ein Solo eigener Art bot schließlich auch die interaktive Raum-Video-Performance „Drift“ von Brahim Kerkour, der extrem langsame Körperbewegungen mittels Videokamera und Soundprogramm in minimal changierende Drones übersetzte.
Den Schlusspunkt des gut besuchten viertägigen Festivals setzte das von Emilio Pomárico dirigierte „Attacca“-Konzert des Stuttgarter SWR-Orchesters. Als Ersatz für ein nicht fertig gewordenes Stück von Iris ter Schiphorst wurde Rebecca Saunders’ „Void“ für Schlagzeugduo und Orchester gespielt, uraufgeführt 2014 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik. Die damaligen Solisten Christian Dierstein und Dirk Rothbrust gestalteten auch jetzt wieder die eigenwilligen Einschreibungen von einem Instrument ins anderen: Holzkugeln klappern auf Trommeln, Alufolien zittern auf Metallplatten, Crotales sirren auf Pedalpauken, und mittels schwingender Röhrenglocken beginnen plötzlich Snare Drums wie von Geisterhand zu rasseln. Wie die Geigerin Elena Revich in Sergei Newskis Violinkonzert „Ground cloud“ agierten auch in Klaus Langs Doppelkonzert „viola.harmonium.orchester“ die Solisten als gleichberechtigte Partner des vor und hinter dem Publikum verteilten Orchesters. Nur in wenigen kadenzartigen Ausdünnungen ließen Viola d’amore (Barbara Konrad) und Harmonium (Klaus Lang) strahlende Harmonien und Spektren hören, als brächten sie wie durch kultische Symbolhandlungen die Kristallschalen der antiken Sphären zum Tönen. Ähnlich dem Anfang von Strauss’ „Alpensinfonie“, wo eine absteigende d-Moll-Skala als Cluster liegen bleibt, spielen die Solo- und Orchesterinstrumente stets leicht variierte Skalen – vor allem diatonische –, die sich zu langsam wandelnden Klangwolken überlagern, durchweg im Piano fein äquilibriert, ohne Prozess und Form, rein atmosphärisch, weich, zart, leuchtend und den Hörer wie auf luftiger Watte in siebte Himmel tragend, würden während fast einer Stunde die Sitze im Auditorium nicht immer härter. Diese Musik ist einfach nur schön, brillant gemacht, kitschig, wohltuendes Ohrenbalsam und meditativer Spalt in der Pforte zum Nirwana.