MusikTexte 151 – November 2016, 95–96

Skandälchen auf Nebenschauplätzen

Die Donaueschinger Musiktage 2016

von Rainer Nonnenmann

Alles neu macht der – nein, nicht der Mai –, sondern der Herbst, zumindest in Sachen Musik in Donaueschingen. Doch wie im Volkslied ist die Erwartung, auf einem Festival wie den Donaueschinger Musiktagen möge sich die Musik immer neu erfinden, ebenso überzogen wie die Vorstellung, die im letzten Jahr gelben Forsythien sollten endlich auch einmal rot blühen. Bunt war das Programm der diesjährigen Musiktage indes allemal. Und zwischen reichlich Laub und Fallobst fand sich auch manch süße oder herbe Frucht und Nuss zum Knacken. 

Das Programm stammte noch zu sechzig Prozent vom langjährigen Leiter der Musiktage Armin Köhler, was sich auch in mehreren Werken niederschlug, die dem Andenken des 2014 verstorbenen Neue-Musik-Redakteurs des SWR Baden-Baden gewidmet waren. Die übrigen vierzig Prozent ließen die eigene „Handschrift“ des neuen Leiters Björn Gottstein und Redakteurs für Neue Musik am SWR Stuttgart noch wenig erkennen.

Ins Auge fielen zunächst vor allem Äußerlichkeiten: Programmbuch und Plakate erscheinen in neuem Gewand und konsequent zweisprachig, ausgenommen zwei englische Essays, die zu übersetzen für überflüssig gehalten wurde. Neu war auch die Verlegung des Schlussempfangs in den Mozartsaal der Donauhallen. Nach unendlichen Querelen mit dem gastgebenden Fürstenhaus verlegte der Festivalleiter den Empfang kurzerhand an eben den Ort, wo das kollegiale Beisammensein der Akteure, Partner, Fachleute und Musiktagebesucher auch hingehört: in die zentrale Spielstätte.

Eine weitere Neuerung hat Björn Gottstein mit der „Donaueschingen Lecture“ eingeführt. Im dichten Konzertprogramm soll fortan zumindest ein Vortrag den Diskurs der neuen Musik beleben. Die erste Einladung erging an den britischen Philosophen und Musikdenker Roger Scruton. Der selbsterklärte „Paläokonservative“ glaubt an die Invarianz archetypisch vererbter Schönheitsideale und machte zuletzt auch mit Ratgeberliteratur vom Schlage „How to be a Conser­vative“ (2014) von sich reden. Eloquent schlug er einmal mehr die altbekannte Leier vom Sündenfall der seriellen und aleatorischen Musik, klagte über die Kluft zwischen neuer Musik und Publikum und verurteilte den Verlust der grammatikalischen Kategorien Melodie, Harmonie und Rhythmus. Sein normatives Denken betoniert historische Demarkationslinien zwischen dem, was Musik ist beziehungsweise nicht ist, ohne ansatzweise den Versuch zu unternehmen, auch in nicht tonal zentrierter Musik entsprechend andere Erscheinungsweisen von Melodie, Harmonik, Rhythmus und Form zu erkennen. Dass Scrutons diffamierendes Boulez-Bashing in seinem Abstract ebenso unkommentiert stehenblieb wie seine von Ressentiment, Unkenntnis und Eurozentrismus genährten pauschalen Invektiven gegen die „Avantgarde“ – John Adams und Schostakowitsch freilich ausgenommen – hätten das Potential zu einem Skandälchen gehabt, hätte sich die belzebübische Schwefelverpuffung des Reaktionärs nicht von selbst verzogen. Obwohl sich nach dem Vortrag sofort einige Komponisten und Musikwissenschaftler um den steinernen Gast scharten, entzog sich dieser durch fluchtartigen Aufbruch jeder Diskussion. So hinterließ der Ewiggestrige bloß den flüchtigen Eindruck eines Gespensts oder Untoten wie aus Henry James’ berühmter Novelle „The Turn of the Scruton“.

Wie deplaziert diese erste „Donaueschingen Lecture“ geraten war, hätte der „Philosoph“ auch leicht selber an den vielen durchaus in konventioneller Weise schönen und populären Werken dieses Festivaljahrgangs erfahren können, hätte er sich nur seiner Ohren bedient. Joanna Bailie transkribierte das Geläut der Gethsemane-Kirche in Berlin-Wilmersdorf zu ein- und ausschwingender Diatonik für das Améi Quartett und das SWR-Vokalensemble Stuttgart unter Leitung von Marcus Creed. Klaus Schedls „Blutrausch“ ließ das SWR-Orchester unter Leitung von Pierre-André Valade wie eine Doom-Metal-Band toben und Moritz Eggert als Frontmann ins Mikrophon fauchen. Nach anfänglich spannender Eröffnung verebbte das auf Besessenheit und Ekstase zielende Stück jedoch zu einer harmlosen Geisterbahnfahrt. Von durchgehendem Beat bestimmt zeigten sich erwartungsgemäß auch zwei neue Werke für Klangforum Wien und Steamboat Switzerland unter gemeinsamer Leitung des exzellenten Titus Engel. Bernhard Ganders „Cold Cadaver with Thirteen Scary Scars“ feierte einen Hexensabbat aus verbeulten Hammondorgel-Choralzeilen und schnellen Pulsationen, deren rhythmische Abwandlungen plötzlich in den Kopfsatz von Beethovens ebenso rhythmisch obsessiver Fünfter Symphonie kippten. Michael Wertmüllers „discorde“ beschleunigte nicht zuletzt dank des hochenergetischen Drummers Lucas Niggli auf MM = 322 und gab den ausgezeichneten Musikern Freiraum für wilde Freejazz-Soli. Selbst wenn die verschiedenen Musizierpraktiken beider Formationen auch Reibungsverluste zur Folge hatten, sind solche Crossover-Begegnungen zum Zweck der Horizonterweiterung immer wieder einen Versuch wert.

Zuvor hatte das Klangforum Rebecca Saunders’ „Skin“ uraufgeführt. Wie nahezu alle Stücke der Komponistin entfaltete sich auch dieses in wellenartig ein- und ausschwingenden wunderschönen Klangschichtungen, die auf Dauer jedoch formal langweilig wirkten, weil erwartbar und statisch. Als Instrumentationskünstlerin überraschte Saunders indes einmal mehr mit subtilsten Anamorphosen von Instrumentalklängen, etwa gedämpften Spitzentönen der Trompete, an halb gesungene, halb gesummte Töne der Sopranistin Juliet Fraser. Während das ausgezeichnete Wiener Ensemble rückhaltlos begeisterte, ließ das aus den SWR-Orches­tern Baden-Baden/Freiburg und Stuttgart neu fusionierte SWR-Sinfonieorchester bei seinem Donaueschingen-Debüt zu Beginn des Eröffnungskonzerts zusammenzucken. In Jan W. Morthensons „Omega“ hatten sich die Violinen unisono zu expressiven Kantilenen aufzuschwingen. Doch weder erfolgten die Tonwechsel gemeinsam, noch traf man denselben Spitzenton. Die Musiker bildeten keine aufeinander eingespielte homogene Gruppe, die mit einem Bogen oder Atem zu spielen in der Lage ist. Der weitere Verlauf des Konzerts und insbesondere das Abschlusskonzert weckte immerhin die Hoffnung, dass mit der Zeit zusammenwächst, was Landes- und Rundfunkpolitiker per Dekret zusammengezwungen haben.

Die insgesamt siebzehn Uraufführungen stammten überwiegend von in Donaueschingen bereits aufgeführten Komponisten. In James Dillons „The Gates“ zog ein Hintergrund aus wahlweise ruhigen Unisono-Liegetönen oder steten Pulsationen des Orchesters oft mehr Aufmerksamkeit auf sich als das im Vordergrund virtuos flirrende Arditti String Quartet. Wiederholt mit Orchesterwerken in Donaueschingen zu erleben waren auch Franck Bedrossian und Georg Friedrich Haas. Der Franzose bündelte in „Twist“ den Apparat zu maximaler Wucht und Energie, die er zugleich durch allzu dominant hinzugeregelte Ircam-Elektronik unnötig verzwergte. Dagegen beschränkte sich der Österreicher in seinem „Konzert für Posaune und Orchester“ zunächst achtzig Takte lang auf c-Moll, das durch äquidistante Vierteltonschritte aller drei Dreiklangstöne mit vierteltönig vertieftem C-Dur changierte. Haas’ Instrumentation zeigte dabei allerdings ebenso wenig Einfallsreichtum wie der von Mike Svoboda nicht in Bestform gespielte Solopart, dessen belebter Mittelteil nichtssagende Tonskalen immer höher schraubt. Als Ersatz für ein nicht fertig gewordenes Stück von Marco Stroppa kam Elliott Carters 1976 entstandene „A Symphony for Three Orchestras“ ins Abschlusskonzert. Unter Leitung von Alejo Pérez spielte das SWR-Orchester die ex­trem polyphone Partitur diesmal mit großer Präzision und Klarheit.

Keine Überraschung bereitete Altmeister Peter Eötvös mit seinem dreiviertelstündigen „Sirens Cycle“ für die fabelhaft intonationssichere und bewegliche Koloratursopranistin Audrey Luna und das Calder Quartett. Neben Textstellen aus Homers „Odyssee“ und Kafkas „Das Schweigen der Sirenen“ werden vor allem Schlüsselwörter und Onomatopoesien aus dem Sirenenkapitel von Joyces „Ulysses“ madrigalesk in Musik übersetzt: Zu „Peep“ wird gepiept, zu „call, pure“ erklingt reines Dur, zu „crashing chords“ gibt es Dissonanzen, et cetera. Uninspiriert und schematisch wirkte Martin Smolkas lediglich aus drei Elementen bestehendes und daran gemessen viel zu langes „a yell with misprints“. Aufhorchen ließ indes Peter Ablingers „Die schönsten Schlager der 60er und 70er Jahre“. Die sechs Sätze basieren jeweils auf einem anderen, allerdings völlig dekonstruierten Schlager. Zu hören waren nur zerpflückte tonale Akkorde, Melodiefetzen, Gesten, Kadenz-, Rhythmus- und Begleitformeln. Mit Bravour meisterte das Ensemble Recherche die anspruchsvolle Gratwanderung zwischen musikantischem Plappern konventioneller Formeln und irregulärem Stottern zerschlagener Schlager. Die Hits von damals ließen sich zwar nicht mehr identifizieren, wozu Ablinger das Publikum durch ein Preisausschreiben eigens animierte, aber die Invarianten des Genres traten dafür – keine ganz neue Erkenntnis – umso deutlicher hervor: austauschbare Allerweltsfloskeln über einfacher Stufenharmonik.

Unter den Donaueschingen-Debütanten ragte Martin Jaggi heraus. Der 1978 in Basel geborene Cellist und ehemalige Kompositionsschüler von Kelterborn, Müller-Siemens und Stahnke begab sich in „Caral“ – Teil eines größeren Zyklus – auf die Suche nach den Anfängen der Zivilisation in der Andenregion. Das Orchesterwerk bezieht sich auf die gleichnamige älteste Stadtsiedlung auf dem amerikanischen Kontinent, im heutigen Peru, wo unter anderem Knochenflöten gefunden wurden. Folglich spielten vier mikrotonal gegeneinander gestimmte Querflöten vorne beim Dirigenten, gefolgt von vier Bassflöten und endlich vier Flötenmundstücken, die eigenartig murmelndes Stimmengewirr aus diatonischen und pentatonischen Melodien hören ließen und stellenweise von vier Posaunen im Halbkreis wie von feindlichen Aggressoren in die Zange genommen wurden. Auf elektronische Klangerweiterungen des Calder Streichquartetts setzten Nathan Davis und Daniel Wohl. Der eine verstärkte zunächst nur tonlose Bogenstriche sowie klirrend hohe Tremoli, um die elektronischen Zuspielungen schleichend immer mehr Eigenleben entwickeln zu lassen. Der andere beschränkte sich darauf, die Instrumente mit schwebenden Sphärenklängen zu umgeben. Und während Patricia Alessandrini in „Leçons de ténèbres“ barocke Lamento-Kompositionen vage per Zuspiel und Transkriptionen anklingen ließ, verwandelte Wieland Hoban in „Urðarbrunnr“ vier mit Bogenhaaren die Saiten streichende Harfenistinnen zu den am Schicksalsfaden webenden Nornen der älteren Edda.

Unter den fünf Klangkunstarbeiten war „Ma Un Ma“ von Johannes S. Sistermanns am eindrücklichsten. Ein leerstehendes Vereinsheim wurde zum auratisch aufgeladenen Erfahrungsraum aus blauem Licht, gespannten Folienachsen sowie diffusen Klängen, die mittels Pie­zo-Membranen beziehungsweise Klangwandlern über Holzwände, Heizkörper und Glasflächen abstrahlten und gelegentlich von knallenden Peitschenhieben aus zwei Nebenräumen durchzuckt wurden. Hannes Seidls Radioprojekt „Good Morning Deutschland“ in der ehemaligen französischen Kaserne gab schließlich Flüchtlingen Stimme und Gehör. Das Internetradio befördert den interkulturellen Dialog zwischen Menschen aus Syrien, Afghanistan, Afrika, Deutschland und reicht weit über Ort und Dauer der Musiktage hinaus, da es bereits seit dem 1. Mai neben Donaueschingen auch von kleinen Stationen mit jeweils dreiköpfigen Redaktionsteams in Frankfurt und Stuttgart gestreamt wird. Mit Kunst hat diese hilfreiche Initiative freilich nichts zu tun. Und der Komponist engagiert sich hier auch nicht als Musiker, sondern – nicht minder ehrenwert – als Sozialarbeiter. Von den übrigen Installationen in der Hofbibliothek und einer Sporthalle abgesehen, pflegten die Donaueschinger Musiktage 2016 ansonsten ausschließlich das traditionelle Konzertformat: Musiker auf Bühnen, Hörer in Sälen. Statt um Material, Medien und Präsentationsweisen sollte es zwar primär um die Art von deren Gestaltung und Wirkung gehen. Dennoch wäre eine größere Bandbreite an alternativen Produktions- und Präsentationsformen wünschenswert, allein schon, um die während dreier Tage in zehn Konzerten sich abschleifende Aufnahmefähigkeit immer mal wieder neu zu justieren. Wie Björn Gottstein schon 2015 bei seinem vorzeitigen Amtsantritt ankündigte, müsste es wenigstens einzelne Arbeiten mit Medien, Film, Video, Licht, Bewegung, Szene und räumlichen Dispositionen geben. Doch was nicht ist, kann noch werden, wie jeden Herbst in Donaueschingen.

Zukunftsmusik

Dann kam Darmstadt – und die geheimnisumwobenen Kompositionen Stockhausens und Boulez’: Experimente einer neuen Art. Sie folgten keinen tonalen Prinzipien und modifizierten nicht bloß die harmonischen und melodischen Formen. Sie waren intellektuell abgeleitete Klanganordnungen, die die Unterscheidung zwischen Klang und Ton, zwischen akustischer und musikalischer Ordnung aufgaben. Möglich wurde dadurch eine neue Art Avantgardismus, bei dem die musikalischen Linien eher die Konsequenz eines intellektuellen Diskurses waren als Ausdruck des Herzens. Meiner Ansicht nach scheiterten diese Experimente – nicht allein deshalb, weil sie nie ein wirkliches Publikum erreichten (im Gegensatz zu jenem falschen Publikum, das sich selber für sein höheres Verständnis auf die Schultern klopft), sondern weil es nie gelang, etwas Eindeutiges zu sagen. Ein Paradigma hier­zu liefert Boulez, der es verstand, eine aufgeblasene Reputation zu erreichen und zu behalten, denn er komponierte eine Musik, die niemand wirklich kritisieren konnte, weil seine Kompositionsmethode verborgen blieb und sich ausdrücklich an Experten richtete. Das Resultat davon war nicht ein neues musikalisches Idiom, sondern eine Art musikalischer Nihilismus – und ebenso eine enorme Verschwendung musikalischer, finanzieller und politischer Ressourcen.

Aus: Roger Scruton, „On Zukunftsmusik“ [Abstract], in: Donaueschiner Musiktage 2016, Programmbuch, 130–131.