MusikTexte 151 – November 2016, 63–65
Jenseits des Gewohnten
Ein Kommentar zu Schülerbriefen an den Komponisten
von Rainer Nonnenmann
Eine solche Musik hatten die jungen Menschen zuvor allesamt noch nie gehört: „verrückt“, „anders“, „wild“, „besonders“, „merkwürdig“, „einzigartig“, „erstaunlich“, „faszinierend“, „bewundernswert“, „einfallsreich“, „originell“, „toll“, „kreativ“, wunderbar“, „unverwechselbar“ … Welcher Komponist wünscht seine Musik nicht mit solchen Worten beschrieben? Und welcher Hörer wünscht sich nicht solch eindrückliche Hörerlebnisse, die erschüttern, neue Horizonte öffnen und zu deren Beschreibung noch so viele Adjektive nicht ausreichen?
Schülerinnen und Schüler des Amadeus-Abendroth-Gymnasiums (AAG) in Cuxhaven hatten im Musikunterricht bei Burkhard Schlagowski via CD und YouTube Stücke von Helmut Lachenmann gehört. Ihr Lehrer hatte selbst im Schulmusikstudium von 1975 bis 1979 in Hannover Unterricht bei Helmut Lachenmann in Tonsatz, Gehörbildung, Improvisation, Generalbass- und Partiturspiel erhalten. Ab 1984 hat Schlagowski zwanzig Jahre lang die Jugendmusikschule in Cuxhaven geleitet. Seit deren Schließung unterrichtet er als Musiklehrer am AAG. Bereits 2004 hatte er Lachenmann zum Festival „unerhört“ in die Hafenstadt eingeladen, bei dem der Komponist die Schirmherrschaft übernahm und auch als Pianist auftrat. Als im Spätherbst 2015 Lachenmanns achtzigster Geburtstag vielerorts gefeiert wurde, nahm Burkhard Schlagowski dies zum Anlass, ausgewählte Werke Lachenmanns im Schulunterricht vorzustellen.
Nach Auskunft des Lehrers wurden die Schülerinnen und Schüler dafür durch praktische Erfahrungen vorbereitet. Es wurden Experimente mit Notenständern, Stühlen, Kartons, Büchern und Musikinstrumenten angestellt und die Klangmöglichkeiten eines Flügels ausgelotet. In einem Oberstufenkurs wurden Auszüge aus Lachenmanns Musiktheaterstück „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ einer Disney-Verfilmung von Andersens Kunstmärchen gegenübergestellt. Gemeinsam sahen die Klassen auch Bettina Ehrhardts Filmporträt „Wo ich noch nie war – Der Komponist Helmut Lachenmann“ (2006). In der Unterstufe wurden Bildergeschichten eingesetzt, in der Oberstufe Texte erarbeitet und eigene musikalische Miniaturen entwickelt. Schließlich trauten sich Schüler einer siebten Klasse, mit dem Notationsprogramm musescore eigene Kompositionen zu entwickeln, während Schüler einer achten Klasse im Rahmen eines Songwriting-Projekts auch den Einsatz „experimenteller“ Klänge wagten. Die Kinder und Jugendlichen reagierten lebhaft auf Lachenmanns Musik. Diese starke Resonanz nahm der Lehrer schließlich zum Anlass, die Schüler aufzufordern, dem Komponisten Briefe zu schreiben.
Schlagowski hatte den Komponisten am 12. Dezember 2015 erstmals von den Unterrichtserfahrungen mit dessen Musik berichtet und Lachenmann hatte sich daraufhin am 19. Dezember 2015 für die an den Schülern geleitete „Sensibilisierungs-Arbeit“ und „Horizont-Erweiterung“ bedankt (siehe Seite 70, Fußnote 1). Im Januar 2016 erhielt Lachenmann schließlich als nachträgliches Geburtstagsgeschenk insgesamt 162 Schülerbriefe aus dem hohen Norden. Auf den folgenden Seiten wird nun eine Auswahl veröffentlicht, zusammen mit einem kleinen Bericht des Lehrers über das „Elmo-Projekt“ sowie Lachenmanns Dankesbrief vom 19. Dezember 2015 und vom 22. Januar an den Lehrer und die „Lieben Kids in Cuxhaven“. Neben Transkriptionen erscheinen einige Schülerbriefe als Faksimile, da vor allem die Fünft- und Sechstklässler ihre kleinen Schreiben mit Bildchen, Noten, Notenschlüsseln, Notenlinien verzierten. Die Kinder zeigten damit ihre Freude an Musik, die sie mit dem Komponisten teilen und dem sie zugleich stolz zeigen wollten, wie schön auch sie Noten malen können.
Aus vielen Briefen spricht ehrliche Dankbarkeit für das sagenhafte Musik- und Hörerlebnis. Die Begeisterung und Offenherzigkeit ist rührend, so dass man als Leser der Zeilen den jungen Briefeschreibern selber beglückt zurufen möchte: Gell, die Musik von Helmut Lachenmann ist aufregend, seltsam, zauberhaft, die rüttelt und schüttelt einen mit ihrer Anders- und Eigenheit, und die vergisst man sein Lebtag nicht mehr! Jakob und Janes aus der 6c, die selbst Klavier und Trompete spielen, wünschten sich gar, der Komponist möge für sie „ein kleines Stück“ komponieren. Stärker kann man sich Musik kaum zu eigen machen! Manche Kinder nahmen sich vor, im Februar 2016 nach Hamburg zu fahren, um dort auf Kampnagel live im Konzert des NDR-Sinfonieorchesters Lachenmanns „Ausklang“ oder die Aufführungen seiner drei Streichquartette und von „Got Lost“ zu hören, oder wenigstens die Übertragung im Radio zu verfolgen. Über die Behandlung der Sprech- und Singstimme in „Got Lost“ befand einer mit großer Gewissheit, „so etwas ist ausbaufähig, und hat meiner Meinung nach eine Zukunft“. Viele Schülerinnen und Schüler wünschten dem Komponisten noch „viel Spaß“ mit seiner Musik oder „viel Glück im musikalischen Bereich“ und „viele gute Ideen für neue Kompositionen“, damit er noch viele weitere „tolle“ Stücke beziehungsweise „Lieder“ schreiben möge. Nach allen Erlebnissen mit Lachenmanns Musik im Unterricht bei Burkhard Schlagowski klingt solch kindlicher Ansporn nicht einfältig oder anmaßend, sondern ganz ehrlich: „Weiter so!“
Die Briefe sind selbstverständlich kein repräsentativer Spiegel der Präsenz, Umgangsweise und Resonanz von, mit und auf neue Musik im gymnasialen Musikunterricht. Dazu verdankt sich ihre Entstehung einer zu speziellen Konstellation im Unterricht eines bestimmten Musiklehrers zu einem bestimmten Komponisten. Bei aller Punktualität bleibt indes entscheidend, wie intensiv neue Musik auf die jungen Köpfe und Herzen gewirkt hat, und wie die Schülerinnen und Schüler ihre Erfahrung mit dieser für sie bis dato komplett unbekannten Musik zu verbalisieren versuchten. Dass ihnen selbst die mäßige Wiedergabequalität von YouTube-Aufnahmen besondere Hör- und Seherfahrungen bereitete, deren Eigenart sie sich bewusst zu machen bemühten, zeigt sich nicht zuletzt in ihrem häufigen Gebrauch des Adverbs „sehr“, aber auch „äußerst“, „extrem“, „total“ und „Hammer cool“. Es sind unverbrauchte und unvorbelastete Reaktionen auf neue Musik. Die Cuxhavener Echos auf Lachenmanns Musik können und sollten daher Musiklehrer andernorts ermutigen, ihre Klassen mit Ungewohntem zu überraschen. Statt die Schüler nur immer da „abzuholen“, wo sie sich ohnehin zu Hause fühlen, gilt es, ihnen auch Fremdes vorzuspielen, Musik von Lachenmann, Cage, Nono, Stockhausen, Feldman, Scelsi und und und …
Die zehn- bis sechzehnjährigen Kinder und Jugendlichen – die Zwölftklässler schrieben keine Briefe – reagierten auf Lachenmanns Stücke verblüfft, erstaunt, beeindruckt, viele regelrecht begeistert. Gelegentlich klingt in Lob und Dank auch diplomatische Höflichkeit oder Verlegenheit gegenüber dem berühmten Komponisten durch. Nahezu alle jungen Autoren zollen dem Komponisten Bewunderung für seine „einzigartige Kreativität“ und Respekt für seinen „Mut“, eine von allen bisher bekannten Stilen abweichende, andere, eigene Musik erfunden zu haben. Viele Gymnasiasten erlebten Lachenmanns Stücke als „außergewöhnlich“ und „abwechslungsreich“. Die inflationär gebrauchten Attribute wirken zuweilen wie Leerformeln, die dem Lehrer nachgeplappert oder pflichtschuldig nachgereicht werden, weil man sie eben noch im Brief der Sitznachbarin erspickelt hat: „PS: Ihre Musik ist sehr außergewöhnlich“. In anderen Briefen sind diese Adjektive dagegen Bestandteile eines wie auch immer unbeholfenen, jedoch ernstgemeinten und daher auch ernstzunehmenden Versuchs, dem Musik- und Hörerlebnis jenseits des Gewohnten Ausdruck zu verleihen. Die Adjektive erhalten hier einen emphatischen Sinn, da die Schülerinnen und Schüler Lachenmanns Stücke bewusst als Gegensatz zu dem wahrnahmen, „was man sonst heutzutage hört“. Des Öfteren heißt es, diese Musik sei „bestimmt nicht jedermanns Sache“ oder „nicht ganz mein Fall, aber mal was anderes“. Die dabei angewandten Kriterien sind freilich verschieden oder gar konträr. Für die einen ist ein Stück von Lachenmann gerade deswegen „phantastisch“, weil es „nicht dem Mainstream entspricht“; für andere ist diese Musik zwar „außergewöhnlich“, aber „trotzdem toll“. Derlei Äußerungen deuten an, dass zumindest manche Jugendlichen ihre normative Prägung durch das „Gewöhnliche“ – durch Pop, Rock, Hiphop, Techno, Schlager und Klassik – reflektieren, während andere die davon abgeleiteten Maßstäbe selbst da noch in Anschlag zu bringen versuchen, wo es zwischen den Hits der Charts und Lachenmanns „Liedern“ kaum eine Vergleichsbasis gibt.
Ein starker Bezugspunkt der Briefe ist „mouvement 3“, gemeint ist der dritte, schnelle, repetitive und dann erstarrende Teil von Lachenmanns Ensemblestück „Mouvement ( – vor der Erstarrung)“. Einige Schüler fühlten sich dadurch an Zeichentrickfilme oder überhaupt an Filme erinnert, da die Musik bei ihnen entsprechende Assoziationen und Emotionen auslöste. Vincent aus der 7d findet die rasenden Repetitionen zwar „viel zu hektisch“, ruft dem Komponisten aber gleichwohl anerkennend zu: „dass sie das in ihrem Alter noch können … Respekt!“ Robin aus der 10b – der womöglich ein paar Stücke durcheinander bringt oder trotzig reagiert – hält indes gerade „Mouvement“ für „sehr beruhigend und entspannend“. Zudem hörten/sahen einige Klassen das Video einer Aufführung des Klavierstücks „Wiegenmusik“ mit Lachenmann als Pianist, ferner das Cellosolo „Pression“ und das Gitarrenduo „Salut für Caudwell“. In den wenigen Worten der Kinder und Jugendlichen schwingt etwas nach vom großen Wunder und Erstaunen, dass diese Stücke ganz anders klingen als jede von ihnen bisher gehörte Musik.
Die quirlige Korrespondenz der Schüler zeigt bei allen Eigenheiten und Absonderlichkeiten sowohl individuelle als auch kollektive Erfahrungshintergründe, Wertungen, Argumentationen, Offenheiten oder Borniertheiten. Wer selber ein Instrument spielt oder im Chor singt, fragt den Komponisten, wie viel er täglich übt, in welchem Alter er sich für Musik interessiert habe, ob er Tipps für das eigene Musizieren geben könne, und – am häufigsten – wie er nur auf die Idee gekommen sei, die Instrumente so gänzlich anders zu benutzen. Im Gegensatz zur Rückhaltlosigkeit, mit der sich manche Kinder dem Komponisten unumwunden als „Ihr größter Fan“ outen, ist anderen Schülern anzumerken, dass sie sich hinter dem Lehrer verstecken, der ihnen so viel und so begeistert von Helmut Lachenmann und dessen Musik erzählt hat, so dass sie in ihren Briefen mehr über den Musiklehrer schreiben als über die Musik und die eigenen Erfahrungen damit. Statt aus eigenem Antrieb die persönlichen Hörerfahrungen zu schildern, wird die Feder diktiert von Vorsicht, Unbeteiligtsein oder schulischer Pflichterfüllung. Ohne etwas über die Musik und das Hörerlebnis zu schreiben, flüchten sich einige in höflich ausweichende Gruß- und Wunschformeln für Weihnachten, das neue Jahr, gute Gesundheit, die Familie und nachträglich alles Gute zum runden Geburtstag.
Aus überraschend wenigen Briefen spricht Skepsis und offene Ablehnung. Manche Teenager gestehen, dass diese Musik „leider nicht so mein Geschmack“ sei, weil man sonst lieber Pop und Hiphop hört, „Mouvement“ aber – vielleicht zum Trost für den alten Herrn – „trotzdem ganz nett“ findet. Wenige machen keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen diese Musik, die sie „nicht unbedingt lieben“, von der sie „höchstwahrscheinlich auch kein Fan“ werden, weil man diese Musik „einfach nicht mag“, denn die hört sich „schief“ und „nicht gut“ an, ist manchmal „laut“ und „tut weh“, und passt nicht in „unser Jahrhundert“, da „Mouvement“ ja schon 1982 entstanden sei. Dass Lachenmanns Stücke die Klassen auch polarisiert und zu Diskussionen angeregt haben, belegt schließlich der Brief von Alexander aus der 10b, der den offenbar in der Klasse diskutierten altbekannten Vorwurf aufgreift, Lachenmanns neue Spieltechniken würden die alten Instrumente „vergewaltigen“. Der Schüler reagiert darauf mit einem eindrücklichen Vergleich, der Lachenmanns Musik verteidigt und zugleich überhaupt für Andersheit und Vielheit plädiert: „Ich würde die Musik als ,Kartoffelschale‘ bezeichnen, die nicht weggeworfen wird, sondern frittiert und die mit Grüner Soße als leckerer, aber außergewöhnlicher Snack serviert wird.“