MusikTexte 152 – Februar 2017, 106

Romanische Rundbögen und ein rostiger Nagel

Zu einer neuen CD mit Klaviermusik von Walter Zimmermann

von Manfred Karallus

I make music from music. (Igor Strawinsky)

Auf die Frage, woran er gedacht habe, während er „Apollon musagète“ komponierte, antwortete Strawinsky mit einem einzigen Wort: „Streicher“. Er konnte gereizt reagieren, wenn man ihn nach Außermuskalischem, Weltanschaulichem, nach Gefühlen und Empfindungen, Landschaftseindrücken oder, wie in diesem Fall, nach seinem Verhältnis zum antiken Griechentum ausfragen wollte. Zugleich aber machte er mit seiner Antwort deutlich, wie sehr am Ursprung der Erfindung für ihn doch immer nur die Musik stehe, dazu dann die Fragen der zu ihrer Herstellung als Kunst erforderlichen Werkzeuge: Rhythmisierung, Harmonisierung, Instrumentation und Notation.

Walter Zimmermann ist ein Komponist, für den die Musik stets nur eine von vielen Inspirationsquellen ist. Der sich von Nicht-Musikalischem, von Wort, Bild und Körper ebenso anregen lässt wie von Klingendem. Der Blumen und Steine in Noten übersetzt. Der genauso gut eine philosophische Sentenz vertont wie eine Landschaft seiner fränkischen Heimat und bei dem der Schlag auf den Felsen nicht Wasser, sondern Töne hervorsprudeln lässt.

Der Titel „AIMIDE“ ist das Akronym eines lateinischen Sprichworts, das der römische Geschichtsschreiber Titus Livius überliefert: „Amicitias Immortales, Mortales Inimicitias Debere Esse“. Es ruft die Menschen dazu auf, ihre Feindschaften in Freundschaft umzuwandeln. Zimmermann wandelt den Buchstabensatz in einen aimablen Tonsatz um.

Mit „Romanska Bågar“ für Klavier linke Hand vertont er die Bögen einer romanischen Kirche, genauer: Er musikalisiert die Atmosphäre, die ein Gedicht des eine romanische Kirche besuchenden schwedischen Dichters Tomas Tranströmer in ihm auslöst. Romanische Rundbögen werden zur Metapher für die endlos sich öffnenden Gewölbe im Innern des Menschen. Eine sich auseinanderfaltende und kreisende Gestik, die es tatsächlich möglich macht, ,Bögen‘ zu ,hören‘.

„Blaupause“ und „Blueprint“ folgen einem optischen Impuls: Das eine Stück stellt einen Negativabzug des anderen dar. Wo hier Noten stehen, stehen dort Pausen (und umgekehrt). Nichtserielle Miniaturen, die ohne seriellen Hintergrund, vor allem aber ohne den Einfluss John Cages nicht denkbar wären.

Auf einer seiner USA-Reisen besucht Zimmermann in den Neunzigerjahren das in Renovierung befindliche Geburtshaus von Charles Ives in Danbury (Connecticut). Auf der Veranda des Hauses hebt er einen rostigen Nagel auf und komponiert in der Folge zwei Stücke: „The Missing Nail“ und „At the River“, die er dann zu einem Opus zusammenführt: „The Missing Nail at the River“ für Klavier und Spielzeugklavier. Die vom letzteren Instrument gelieferten Töne einer von Ives geliebten baptistischen Erweckungshymne geben die Form.

Den Löwenanteil an der CD bildet der Klavierzyklus „Voces abandonadas“ (2005/ 2006) auf Textfragmente des italie­nisch-argentinischen Lyrikers Antonio Porchia, der in den Jahren der argentinischen Diktatur (1972 bis 1974) als „Stimme des Volks“ bekannt war. Porchias „Voces aban­­donadas“ – geschrieben auf Spanisch, bis dato Sprache der Revolution – übersetzt Zimmermann ... nicht in Liedzeilen, sondern 514 Klavier-Sentenzen, die meist nur einen Takt, oft nur einen Bruchteil eines Takts oder nur eine Fermate lang dauern und bruchlos ineinander übergehen. Worte wie Alles, Nichts, Liebe, Schmerz, Zeit, Ewigkeit, Augen, Sterne werden in Noten übersetzt und zueinander in Beziehung gesetzt. Politisch-soziale Impulse elektrisieren und treiben den schöpferischen Vorgang. Es kommt zu starken semantische Spannungen wie etwa zwischen „meiner Ankettung an die Erde“ und der alle irdische Mühsal aufhebenden, auflösenden „Güte“. Für das Angekettetsein wählt er die Tonart c-Moll, für das Gute, wie wenn es das Selbstverständlichste wäre, C-Dur.

„Voces abandonadas“ (zu übersetzen übrigens nicht nur als verlassene, sondern vor allem verratene Stimmen): Das sind Miniaturen, die keine architektonisch festgelegte Form aufweisen. Musikalisches Material schafft sich seine Formen in etwa so wie der Fluss sich sein Bett. Die Formbildung selbst wird zum Sekundärprozess. Sie wird zur Frage des richtigen Zeitpunkts.

Das vierzigminütige In- und Nacheinander in fließender Bruchlosigkeit wirkt sich freilich empfindlich auf das Hören aus und ermöglicht dem Hörer keineswegs eine adäquate Aufnahme. Vom Textbild ebenso abgeschnitten wie vom Notenbild und dem Anblick des Ausübenden, bleibt vieles zu erraten.

Und doch lassen sich diese brillanten kleinen Stücke gerne hören und genießen. Und wenn sie, um es in der Sprache der Praxis zu formulieren, einfach gut klingen, dann vor allem deshalb, weil sie von Nicolas Hodges gespielt werden: kompakt, umsichtig, technisch makellos, präsent.

Walter Zimmermann, „voces abandonadas“. Klavierwerke 2001 bis 2006, Nicolas Hodges, Klavier; Mainz: Wergo, 2016.