MusikTexte 153 – Mai 2017, 93–94

Reibungen

Zur Frühjahrstagung des INMM in Darmstadt

von Hans-Klaus Jungheinrich

Nicht unbedingt der Weltgeist, jedoch auf alle Fälle der Zeitgeist ist – in seiner musikreflektierenden Variante – gerne anwesend in Darmstadt (mehr vielleicht noch als bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik) während der inzwischen fast ebenso berühmten „Frühjahrstagungen“ des Instituts für Neue Mu­sik und Musikerziehung (INMM), das ein offizieller Vertreter der Darmstädter Kulturpolitik, sozusagen zum Hausgebrauch, in seinem Eröffnungsgruß in „Institut für Neue Musik und Musikvermittlung“ umbenannte, trendgerecht auf der Spur eines alles er- und umfassenden Medialisierungseifers. Dabei geht es nach wie vor und zentral auch um „Musikerziehung“, um exemplarische Arbeit mit Kindern, um Modelle für Kinder- und Jugendkonzerte, die ausstrahlen können auf eine sich notwendigerweise verändernde Musikkultur von morgen, also auch Erziehung der Erzieher. Die diesmal einundsiebzigste Frühjahrstagung im schöne Asymmetrien und leise schwungvoll Dornach-Anmutungen vorzeigenden Neubau der Akademie für Tonkunst am südlichen Stadtrand war, wie seit längerem hier üblich, exakt auf die Schnittstelle zwischen akademischer Musikwissenschaft, Musikpädagogik, kompositorischer und interpretatorischer Praxis hin justiert. Das genau macht die besondere Qualität der in den vergangenen Jahren zunehmend zahlreicher frequentierten viertägigen Veranstaltung aus.

Seit mehr als einem Jahrzehnt fungiert als Vorsitzender des Instituts und programmatischer Kopf der Tagungen der Dresdner Musikprofessor Jörn Peter ­Hiekel, einer der brillantesten deutschen Musikologen der mittleren Generation. Er ist sowohl eine Ausnahmebegabung, so etwas wie der Carl Dahlhaus dieser Tage, als auch typischer Repräsentant einer Zunft, die in ganz anderen Relationen zu aktueller musikalischer Praxis jeglicher Art steht, als es bei solchen akademischen Fachvertretern vor etwa dreißig Jahren noch üblich war. Ja, man muss zu­spitzen: Dieser neue Typus verkörpert und vermittelt einen völlig anderen Realitätsbezug, eine über zünftige Tellerränder weit hinausreichende Wirklichkeits-Wach­heit. Das spiegelt sich auch in den Formulierungen der Tagungsthemen. Als Generalnenner figurierte diesmal der schlagkräftige Begriff CLASH, in der politisch-philosophischen Diskussion noch immer viel herbeizitiert. Er vertritt eine ganze Reihe ähnlicher und mehr oder weniger zeitgeist-affiner Leitwörter, etwa Differenz (in der französischen Herkunftsversion eleganter als „differénce“), Dissens, Reibung, Kampf, Streitkultur oder Crash – also den ganzen Bedeutungsfächer zwischen Nuance und Bruch. Im Darmstädter Untertitel wurden dazu noch drei Clash-Faktoren hervorgehoben: das Auseinandersetzungspotential der „Genera­tionen, Kulturen und Identitäten“. Vielleicht war es eine besondere Pointe, dass Hiekel in seinem Eingangsreferat („Über die stimulierende Wirkung von Konflikten“) auf dem imponierenden dramaturgischen Bogen einer quasi alles berührenden Tour d’horizon jegliche Konfliktknoten im Knüpfen und Zeigen schon auch wieder aufzulösen schien – kraft einer allgegenwärtig dialektischen oder gar ombudsmannartigen Moderations- und Mediationsmacht, die den vielfach angesprochenen Differenzen kaum Luft zu wuchernd-drohendem Eigenleben ließ. Anders gesagt: Die verständige und tendenziell einebnende Universalität und Unangreifbarkeit der Darlegung war von vornherein ein leichter Sieg über die Gravität einseitiger Clash-Brutalitäten.

Etwas unschwerer konnte man sich der Konturierungen des Philosophen Christian Grüny versichern („Der Feind im Inneren? Autonomie und Identitäten“), der zudem mit seiner Klärung der Begriffe „autonome“ und „absolute“ Musik eine willkommene kategoriale Hilfestellung leistete. Diskursstrategisch gleichermaßen geschickt war Rainer Nonnenmanns Vortrag über ästhetische und rhetorische Differenzen und Kontinuitäten angelegt, der sich bald konkreten Werkanalysen zuwandte und dabei neben den „Clash“ auch einen „Mash“ der Kulturen und Generationen stellte.

Dann kamen Clash und sogar Crash doch noch gewissermaßen in Reinkultur zur Wirkung, und zwar von Seiten dis­kurs­mächtiger Komponisten. Bernhard König erzählte von seinem interkulturellen Projekt „Trimum“, bei dem Juden, Christen und Muslime zusammenkommen und versuchen, gemeinsam zu singen und ihre religiösen Musiken miteinander zu teilen. Zwischen Juden und Christen gibt es dabei offenbar keine besonderen Schwierigkeiten. Anders die Muslime, die ihre Koranrezitation nicht als Beteiligung an einem „Konzert“ verstehen dürfen, sondern sie auch hier gewissermaßen als Gebet zu deklarieren haben. König apos­trophiert die sich derart Einbringenden als liberale „Euromuslime“; ob solche Aktivitäten weiter ausstrahlen in majoritäre islamische Communities, ist fraglich. Auch für „Trimum“-Muslime wird zum Beispiel die Konfrontation mit Aleviten zu einer Unzumutbarkeit. Wenn König also von der „Kunst des kontinuierlichen Scheiterns“ spricht, so ist das nicht nur Koketterie – schließlich fand das Projekt viel Wohlwollen und Aufmerksamkeit in der interreligiösen Öffentlichkeit und wurde preisgekrönt –, sondern es deutet nach wie vor auf die Fragilität einer „Gratwanderung“. König verschweigt dabei nicht, dass er zu diesem sozialen Experiment (dessen Kunstanspruch nicht im Vordergrund steht) auch deshalb kam, weil er sich als „normaler“ Komponist gescheitert sah.

Auf seine Art ein Höhepunkt war der Auftritt von Johannes Kreidler. Seine Auslassungen („Nebeneinander, Gegen­ein­ander, Miteinander. Ästhetische und diskursive Pluralität heute“) begannen brav akademisch mit Rekurs auf Kapazitäten wie Hegel, Deleuze und Habermas, mündeten dann aber sehr schnell (unterstützt von zündend plazierten Videoclip-Einblendungen) in eine veritable Musikkritikerbeschimpfung ein – mit der erhöhten Brisanz, dass einer der an den Pranger Gestellten im Saal saß. Durchaus beeindruckend die gedrungen behagliche, konfliktfrohe Unerschrockenheit Kreidlers, die leicht hätte mit dickhäuterischer Arroganz verwechselt werden können. Wer angreift, macht sich auch angreifbar. So musste Kreidler, dessen Kritikerschelte ausschließlich Urteile über seine eigenen Werke berücksichtigte, am Schluss selbst zugeben, sich dem Verdacht einer „beleidigten Leberwurst“ ausgesetzt zu haben.

Selbstverständlich waren es solche Momente, die nicht nur den Unterhaltungswert der Tagung hochschießen ließen, son­­dern auch Erkenntnisse über weiter virulente, kaum verringerbare Gegensätzlichkeiten in Musikdebatten beibrachten (Kreidlers Argumente wider Musikjournalismus zirkulieren seit rund zweihundertfünfzig Jahren). Friedlicher ging es dann in den Séancen mit und um Heiner Goebbels zu. Als berufener Cicerone durch das weitverzweigte, musiktheatralisch fokussierte Œuvre des Fünfundsechzigjährigen agierte (sehr eloquent auf Englisch) die aus Sarajewo stammende Musikwissenschaftlerin und Veranstalterin Amila Ramovic´. Goebbels stellte seine souveräne verbale Selbstdarstellung (flankiert von Bild- und Tonausschnitten einiger Hauptwerke) dann unter das Motto „Transparenz und Kontrapunkt. Zur Koexistenz der Künste im Musiktheater“ und bewegte sich damit zugleich im thematischen Kerngebiet der Tagung, indem er statt der opernhaften „Vermischung“ die Selbständigkeit der von ihm auch von ferne noch wie serielle „Parameter“ verstandenen Einzelelemente seiner Theaterstücke demonstrierte. In einem Konzert des ensemble modern wurde Goebbels mit zwei Werken nochmals akzentuiert („Surrogate“; „Herakles 2“). Ein besonders gelungenes Konzert, vom Interpreten Vin­cent Royer eigenwillig und suggestiv kommentiert, erinnerte mit Werken für Bratsche solo von Scelsi, Rădu­lescu und Bhagwati an eine andere Tradition der mu­sikalischen Avantgarde: die Entdeckungsreisen ins Innere der Klänge.