MusikTexte 153 – Mai 2017, 25–32

Wie auf dem Fußballplatz

Festivalmacher antworten auf Fragen zu Kriterien, Zielen, Gestaltungsräumen

von Rainer Nonnenmann

In das wilde Fest der Freuden,

mischten sie den Wehgesang.

Friedrich von Schiller, „Das Siegesfest“ (1803)

Festivals, Festivals, Festivals … Es gibt sie zu Dutzenden, ja Hunderten landauf, landab, in allen Künsten und Sparten, so auch in der neuen Musik. In Europa und insbesondere im deutschsprachigen Raum reichen sie sich im Jahreskalender die Klinke in die Hand. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter gibt es große und kleine Festivals, kurze von zwei, drei Tagen und lange von mehreren Wochen. Manche haben lokale, andere internationale Ausstrahlung, die einen sind etabliert, die anderen alternativ, diese eher retrospektiv, jene innovativ oder gar avantgardistisch. Je nach Möglichkeiten und Zielsetzungen verfolgen die Festivals neuer Musik verschiedene Anliegen. Sie haben unterschiedliche Produktions- und Präsentationsweisen, teils andere Zielgruppen, bespielen entweder Off-Orte oder eingeführte Konzertsäle. Sie unterscheiden sich hinsichtlich Organisationsform, Trägerschaft, Programmatik, Finanzierung, Personalsituation, Publikums- und Presseresonanz. Gemeinsam ist jedoch allen, dass sie Kräfte, Aufmerksamkeitsressourcen, Produktions- und Werbeetats bündeln, um möglichst große Aufmerksamkeit und Ausstrahlung zu erreichen. Festivals neuer Musik sind Dreh- und Angelpunkte des zeitgenössischen Musiklebens, die regen Publikumszuspruch erfahren. Schließlich ist ein Festival auch ein Fest.

Musikfestivals wie Donaueschinger Musiktage, Wittener Tage für neue Kammermusik, Eclat Festival Neue Musik Stuttgart oder Wien Modern wirken – neben vielen weiteren Festivals im In- und Ausland – maßgeblich daran mit, was für neue Musik aufgeführt und wahrgenommen wird. Sie richten sich an jeden Interessierten, aber auch an ein Fachpublikum aus Redakteuren, Intendanten, Verlegern, Funktionären, Journalisten und Musikwissenschaftlern. Diese Multiplikatoren erhalten hier Gelegenheit, neue Musik in geballter Form zu erleben und durch Berichterstattung in Rundfunk, Zeitungen und Zeitschriften oder durch Übernahmen in eigene Veranstaltungen einer größeren Öffentlichkeit bekanntzumachen. Idealerweise wird dabei das permanent im Wandel begriffene Feld zeitgenössischer Komposition, Interpreta­tion, Performance und Klanginstallation stets neu kartographiert. Doch wie steht es um die Offenheit und Durchlässigkeit der Festivals für junge oder bis dato wenig bekannte Talente, neue Ansätze, Strömungen? Inwieweit sind die veranstaltenden Institutionen in der Lage, neue Impulse und Trends aufzugreifen oder selbst zu setzen? Oder wird eher Bestehendes perpetuiert und Altbekanntes präsentiert? Warum veranstaltet man überhaupt Fes­ti­­­vals?1

Gemeinsam ist vielen Festivals das Intendantenprinzip. Während andere Modelle denkbar sind und mancherorts auch praktiziert werden – etwa Jurys, Beiräte oder turnusmäßig wechselnde Kuratoren –, entscheiden meist einzelne Macher, welche Richtung ein Festival nimmt, welches Profil es entwickelt, welche Musiker und Werke präsentiert werden. Im Rahmen von Finanz- und Sachzwängen, denen auch Intendanten unterliegen, bestimmen letzt­lich sie, an wen ein Kompositionsauftrag vergeben wird und welche Dirigenten, Interpreten, Ensembles und Orchester eingeladen werden. Doch wer sind diese Festivalmacher? Was treibt sie an? Welchen Ideen und Auswahlkriterien folgen sie? Wie frei können sie ihre Vorstellungen und Themen realisieren? Wie abhängig sind sie von Geldgebern und Kooperationspartnern? Wie groß sind Erfolgsdruck und Risikobereitschaft bei der Programmierung wenig bekannter Komponisten und Interpreten oder ungewohnter Projekte und Formate?

Hinzu kommt schließlich noch die methodische Frage: Können all diese Fragen ausgerechnet von den Festivalleitern selbst beantwortet werden, oder gibt es auch andere, berufenere Quellen? Ensembles und Komponisten werden Festivals loben, sofern sie dort auftreten, beziehungsweise darüber schimpfen, wenn sie nicht eingeladen und mit Aufträgen bedacht werden. Musikjournalisten sind von solchen Interessenkonflikten zwar weitgehend frei und können bei entsprechender Erfahrung und Vergleichsmöglichkeit zu kritischen Urteilen gelangen, doch haben sie zumeist nicht das Hintergrundwissen über Finanzierungsmodelle, Kooperationsverträge, Raum-, Sach- und Personalzwänge sowie organisatorische, juristische und kulturpolitische Interna, die das Programm und Profil eines Festivals ebenso prägen wie dessen öffentlichkeitswirksam verlautbarte offizielle Programmatiken, Anliegen, Inhalte und Wirkungsabsichten. Bleiben noch die Festivalleiter. Sie sind bei der Vorbereitung und Durchführung von Festivals am intensivsten mit allen beteiligten Akteuren und Faktoren befasst, doch werden sie im Gespräch kaum kritische Interna preisgeben, sondern tendenziell immer pro domo für den eigenen Zuständigkeitsbereich sprechen und sich vor die von ihnen verantwortete Veranstaltung stellen. Jeder mit Festivals der neuen Musik befasste Berufszweig wird also infolge seiner jeweils anderen Sicht auf die Dinge die oben aufgeworfenen Fragen anders beantworten. Eine unabhängige, vergleichende Befragung von Interpreten, Komponisten, Beobachtern und Leitern wäre vermutlich aufschlussreich. Diesmal wurden die Fragen sechs ausgewählten Festivalmacherinnen und -machern gestellt. Kenntlich werden in ihren Antworten verschiedene Persönlichkeiten, Vorgehens- und Sichtweisen, Informationskanäle, Kriterien und Wünsche. Die Stellungnahmen auf mögliche Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu befragen, bleibt indes dem skeptischen Leser überlassen.

Offenheit im Gefüge

Das Publikum verlangt von Festivals der neuen Musik zu Recht Neues, Originelles, Besonderes, Einzigartiges. Diese Erwartungshaltung bezieht sich auf Komponisten und Interpreten ebenso wie auf aktuelle Strömungen, ästhetische Tendenzen, technische und mediale Entwicklungen oder ungewöhnliche Präsentationsweisen. Auch die Festivals selbst erheben zumeist den Anspruch, Schaufenster oder Spiegel des aktuellen Musikschaffens zu sein, das sie in Breite und Vielstimmigkeit ebenso präsentieren wie besonders herausragende, profilierte oder avancierte Erscheinungen. Lydia Jeschke ist Redaktionsleiterin Wort/ Musik bei SWR2 und seit 2001 Dramaturgin des Festivals Rümlingen in der Schweiz. Seit 2015 ist die promovierte Musikwissenschaftlerin verantwortlich für die Konzerte der SWR-Klangkörper im Rahmen des Stuttgarter Festivals Eclat: „Nachwuchstalente aufs Podium zu stellen, gehört zu den Aufgaben von Festivals, ist aber nicht deren einzige Aufgabe. Es gibt Festivals, die sich darum wenig kümmern und lieber mit großen Namen operieren, was Vorteile hat. Man hat die Öffentlichkeit schneller bei sich, wenn Rihm oder Lachenmann auftreten, als wenn jemand kommt, den man noch nie gehört hat und von dem man auch selber nicht genau weiß, ob er so gut ist und so viel Qualität mitbringt wie ein Erfahrener. Unbekanntes vorzustellen ist eine Pflicht des Festivalmachers, sonst wird es langweilig. Doch es müssen nicht immer U-30-Leute sein. Es kann auch sein, dass man aus irgendeiner Ecke der Welt oder der Genres oder der Provinz jemanden findet, der auch noch nicht bekannt ist, und der ist vielleicht ein ganz anderer Jahrgang.“

Der studierte Musikwissenschaftler Bernhard Günther war zehn Jahre lang Chefdramaturg der Philharmonie Luxembourg, wo er bis 2016 das Festival Rainy Days leitete. Ferner gehört er zum Leitungsteam der 2015 neu initiierten Biennale ZeitRäume Basel, und seit 2016 ist er Leiter des jeweils den ganzen Monat November umfassenden Festivals Wien Modern: „Ein Festival ist ein bestimmter Zeitraum an einem bestimmten Ort, an dem Menschen zusammenkommen, um gemeinsam Kunst zu verhandeln. Und das ist per Definition offen, denn das ist ein soziales Gefüge, eine Konstellation, die sich ständig ändert und in Bewegung ist. Ein Festival dient dem Publikum dazu, zuzuhören, und es dient dem Veranstalter dazu, dem Publikum zuzuhören, und es dient den Musikern dazu, den Komponisten zuzuhören. Zentral ist der gemeinsame Moment, bei dem man sich mit Neugierde und Respekt begegnet und auf Entdeckungen einlässt. Das ist ohne Offenheit nicht denkbar. Ein Festival ist ja keine One-Way-Veranstaltung.“

Die Wittener Tage für neue Kammermusik werden seit 1990 von Harry Vogt geleitet, dem Redakteur für Neue Musik am Westdeutschen Rundfunk Köln. Wie bei den Donaueschinger Musiktagen handelt es sich fast ausschließlich um ein Uraufführungsfestival. Im Zentrum steht neue Kammermusik vom Solo bis zum Kammerorchester. Hinzu kommen aber auch Klangkunst, Performances, mediale Arbeiten sowie kompositorische Ausein­andersetzung mit Literatur, Kunst und Film: „Risiko ist für meine Arbeit ganz wichtig, und das wünsche ich mir auch von den Komponisten, auf die ich setze. Sie sollten bereit sein, Risiken einzugehen und nicht nur riskante Partien für Musiker schreiben, sondern sich selber in ihrer Musik ein Stück weit hinterfragen, um dabei vielleicht eine neue Tür für sich selber zu öffnen. Auch für mich als Veranstalter gehört das Risiko dazu. Ohne wären Neue-Musik-Festivals kaum vorstellbar. Ich versuche immer wieder, Unbekanntes einzubeziehen, auch wenn es leichter wäre, nur auf Vertrautes zu setzen. Ich brüte lange über Programmen, hege dabei immer auch viele Zweifel, tue mich nie leicht mit Entscheidungen. Über die der eine vielleicht die Nase rümpft oder der andere applaudiert. Wäre froh, wenn am Ende darüber unterschiedlich disku­tiert wird.“

Lydia Jeschke: „Das Festival ist eigentlich schon das Event, deswegen macht man Festivals und nicht Konzertreihen. Die Erfahrung zeigt, dass ein einzelnes Konzert, das noch so super sein kann, nie so wahrgenommen wird wie die Ballung von Konzerten in einem Festival. Die Festivalisierung ist also selbst schon eine Art Eventisierung. Innerhalb eines Festivals kann man dann natürlich nochmal etwas Spektakuläres oder Verrücktes machen, das mehr Interesse weckt und auch Ohren öffnet. In Rümlingen gibt es weder eine Konzerthalle noch das normale Setting. Also gehen wir in die Landschaft, auch mitten in der Nacht, auch im Regen. Wir lassen die Leute über Hügel wandern oder wie 2016 auf achtzig Feldbetten unter freiem Himmel bei unsicherer Wetterlage lagern, um bei Sonnenaufgang ein Glockenstück von Tom Johnson zu hören. Je größer die logistischen Schwierigkeiten und die Anforderungen an die Zuhörer, desto mehr Zuspruch erfahren diese Programme oft. Ich werde immer wieder davon überrascht, dass die Leute viel weniger bequem sind, als man denkt. Eventisierung klingt negativ. Ich finde die Idee, die dahinter steckt, eigentlich gut, denn mir gefällt das Singuläre, das Gefühl, dass ich etwas verpasse und nie wieder kriege, wenn ich da jetzt nicht hingehe. Was in einem sehr schrägen Rahmen stattfindet, wird nicht so schnell wiederholt wie das, was im normalen Setting bleibt.“

Kein Festival ist autark. Angesichts knapper Finanzmittel und Sparmaßnahmen der Rundfunkanstalten sind alle auf Mischfinanzierungen, Drittmittel, Stiftungen und je nach Größe eines Projekts auf Koproduzenten angewiesen. Dadurch sinkt die Zahl an Eigenproduktionen und steigen die Übernahmen bereits bestehender Produktionen. Gleichzeitig nimmt die Rechenschaftspflicht gegenüber Finanziers und Mitveranstaltern zu. Stiftungen, Unternehmen und Kulturpolitik fordern möglichst gute Publikums- und Presseresonanz. Der Erfolgsdruck steigt. Manche Festivals setzen daher auf bekannte Namen von Interpreten und Komponisten. Andere erregen Aufmerksamkeit durch ungewöhnliche Spielorte oder neue Präsentationsformen, Stationen- oder Wandelkonzerte, Simultanaufführungen oder tage- und nächtelange Dauerkonzerte mit Schlafliegen, Decken, Essen und Trinken für die Besucher. Für reine Uraufführungsfestivals wie in Donaueschingen und Witten, die sich weniger an das lokale Publikum richten als an ein internationales Fachpublikum, gelten andere Maßstäbe als für Festivals, die ein breites urbanes Publikum ansprechen wie etwa Ultraschall und MaerzMusik in Berlin, das Festival Eclat in Stuttgart oder Wien Modern. Je nach Ort und Profil ist es dort unerlässlich, auf andere Veranstalter und Szenen in Stadt und Region zu reagieren. Das unterstreicht auch Hans-Peter Jahn, der bis 2013 das Festival Eclat in Stuttgart leitete: „Jede Stadt hat ihren eigenen Puls. Darin gibt es – speziell in Stuttgart – viele Veranstalter, unterschiedliche Orchester, unterschiedliche Programmateure. Auf deren Programme und Ideen muss man reagieren und mit ihnen kommunizieren. Einen Komponisten, der gerade beim Staatsopernorchester sowohl in der Oper als auch innerhalb der Abonnementskonzerte aufgeführt wird, kann man nicht auch im Eclat-Festival auftreten lassen, es sei denn, er ist kontextuell die entscheidende Figur. Wie einstens Nono, Zimmermann, Xenakis oder Lachenmann, viele Jahre später auch Rihm, also die Giganten, von denen auch ein unkundiges Publikum vermutet, sie seien bedeutend. Die Gesamtprogrammierung eines Festivals erwächst also immer aus der kulturellen Gesamtgeschichte einer Stadt, und die ist jedes Jahr neu.“

Christine Fischer ist Intendantin des Verbunds Musik der Jahrhunderte Stuttgart, der über das Jahr verteilt zahlreiche Konzerte veranstaltet. Zudem ist sie Managerin der Neuen Vocalsolisten Stuttgart und war lange Zeit Kollegin von Hans-Peter Jahn bei der Durchführung des Festivals Eclat, das sie seit 2014 selbständig leitet: „Früher waren die meisten Festivals mit einer Rundfunkanstalt verbunden und hatten weniger finanzielle Probleme als heute, weil sich die Sender viel klarer zur zeitgenössischen Musik bekannt haben. Es war selbstverständlich, dass Rundfunkanstalten eigene Konzertreihen oder Festivals hatten und neue Musik im Radio abgebildet wurde. Im Laufe der Jahrzehnte sind aber die Etats vieler Sender für diese Arbeit enger geworden, dazu kommt, dass die Veranstaltungskosten (Logistik, Miete, Technik) inzwischen oft ebenfalls aus dem verfügbaren Festivaletat bezahlt werden müssen. Eclat beziehungsweise Musik der Jahrhunderte als Trägerin des Festivals wird von der Stadt Stuttgart und dem Land Baden-Württemberg gefördert. Auch wir hatten in den letzten zehn Jahren wenig Etatsteigerung und müssen und wollen zugleich sehr viel mehr im Festival unterbringen. Zugleich wächst die Notwendigkeit zur klaren Profilierung, Vernetzung und zur professionellen Öffentlichkeitsarbeit. Das kostet nicht nur sehr viel Zeit, sondern auch viel Geld. Es ist also insgesamt schwieriger geworden, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln ein vernünftiges Festival zu machen. Auf der anderen Seite sind durch Vernetzung auch neue Möglichkeiten gegeben für Koproduktionen von zwei oder mehr Festivals. Auf Anfragen, gemeinsame Kooperations-Kompositionsaufträge zu erteilen, gehe ich allerdings selten ein. Die Mittel, die jedem Veranstalter für Aufträge zur Verfügung stehen, bleiben ja gleich. Ich schätze es mehr, einem Komponisten, an den ich glaube, einen vollen Auftrag zu erteilen. Auch dann kann ein Werk mehrere Aufführungen erfahren, nicht zuletzt, weil die Interpreten ein Interesse daran haben, ihr Repertoire immer wieder aufzuführen, damit sich die Arbeit der Einstudierung lohnt. Von außen wird gelegentlich kritisiert, dass dieselben Komponistennamen in verschiedenen Festivals auftauchen. Ich finde das eher selbstverständlich, denn ein Festival hat die Verantwortung, seinem lokalen Publikum zu präsentieren, was gerade aktuell und relevant ist.“

Harry Vogt: „Es sind ganz verschiedene Ansätze, ob man ein Festival für eine große Stadt wie Wien oder Berlin, das über einen längeren Zeitraum läuft, oder ein Festival in Witten, in einem so überschaubaren Rahmen von zwei Tagen (und Nächten) veranstaltet. In Witten müssen wir nicht durch spektakuläre Events Publikum gewinnen. Dazu sind die Möglichkeiten hier räumlich und zeitlich zu begrenzt. Dennoch ist es mir wichtig, über die Kammermusik hinaus in andere Bereiche zu gehen. Zum Beispiel mit Klangkunst das zu erkunden, was der Ort und sein Umfeld bieten, um auch die Region und deren Geschichte einzubringen. Das ist für den einen oder anderen Besucher dann vielleicht auch eine Art Event, hat aber in der Form nicht diesen Anspruch, ist eher ein Brückenschlag zum Ort, zu den Leuten, die in Witten leben, eine Einladung, mitzumachen und sich dafür zu interessieren.“

Informationskanäle

Damit Festivals am Puls der Zeit bleiben, ist es unerlässlich, dass ihre Leiter offen und neugierig sind für weithin noch Unbekanntes und Neues. Was sind die Wege und Kanäle, über welche die Festivalmacher aktuelle musikalische Entwicklungen verfolgen, sich informieren und möglicherweise interessante Nachwuchstalente, Komponisten und gute Ensembles entdecken? Björn Gottstein war lange Zeit als freiberuflicher Musikjournalist für verschiedene Rundfunkanstalten und in Berlin auch als Veranstalter tätig. Seit 2013 ist er Redakteur für Neue Musik des SWR Stuttgart. Und nach dem Tod von Armin Köhler übernahm er 2015 die künstlerische Leitung der Donau­eschinger Musiktage: „Die Kanäle des Sich-Informierens sind mannigfaltig. Es ist mein täglich Brot, dass ich viel Musik höre, und meine Pflicht als Festivalleiter, so gut informiert zu sein, wie ein Mensch informiert sein kann. Aber es gibt Grenzen: Ich habe nur zwei Ohren und der Tag hat auch nur vierundzwanzig Stunden. Irgendwann hat man sich auch sattgehört. Wenn ich eine Zeitschrift lese, mache ich mir Notizen, höre etwas nach, sehe mir Webseiten an, höre schnell mal wo rein, SoundCloud ist eine phantastische Erfindung. Alle diese Dinge helfen, sich ein Bild zu machen. Dann sind es Gespräche mit Menschen, zu denen ich ein freundschaftlich-beruflich vertrautes Verhältnis habe. Wenn die mir alle zwei Jahre einen Namen nennen, weil sie glauben, da ist jemand etwas ganz Besonderes, dann nehme ich das ernst und gehe dem nach. Der Besuch anderer Festivals ist wichtig, um neue Komponisten kennenzulernen. Aber um ehrlich zu sein, man hört da leider nicht so viel Namen, die man nicht kennt, wie man gerne hören würde. Wichtiger ist es, andere Ensembles zu sehen, in einem sehr konzen­trierten, fokussierten Moment. Ich schaue auch gerne darauf, wie gestalten andere ein Konzert? Wie ist der Einlass? Wie sehen die Konzertkarten aus? Wie sieht die Bühne aus? Wie ist die Beleuchtung? Wie benimmt sich das Publikum? Wie lange dauern die Umbaupausen? Wie viele Leute sind auf der Bühne, wie sind sie angezogen? Das sind Dinge, die für mich unglaublich wichtig geworden sind bei der Gestaltung eines Konzerts.“

Lydia Jeschke: „Dank meiner praktischen Arbeit spreche ich sehr viel mit ganz unterschiedlichen Musikern, die gute Ohren haben und auch ein gutes Verständnis. Die entdecken oder erleben manchmal Dinge in anderen Zusammenhängen, von denen ich gar nichts weiß. Ich höre oft mit großen Ohren, was Solisten, Ensemblemusiker oder auch Orchestermusiker erzählen. Die haben nicht immer dasselbe Urteil über die Dinge wie ich, aber oft fallen da Namen, die ich mir merken und denen ich nachgehen kann. Mir ist bei Kollegen, die künstlerische Leiter von irgendetwas sind, öfter das Vorurteil begegnet, dass Musiker ihr Hauptauswahlkriterium aus der Selbstdarstellung, der eigenen Virtuosität und der Spielbarkeit einer Komposition ziehen, dass also Musiker einen sehr praktischen Zugang zu den Dingen haben, der natürlich nicht hauptsächlich der des Festivalveranstalters sein kann. Meine Erfahrung sagt: Das ist ein Vorurteil. Während der Jahre, die ich als zuständige Redakteurin beim Orchesterpreis in Donaueschingen dabei sein konnte, habe ich gelernt, dass Orchestermusiker ihre Kriterien keinesfalls nur daraus nehmen, was sie gerne spielen, sondern dass sie große Ohren dafür haben, was eigentlich in einem Stück steckt, selbst wenn ihre eigene Rolle dabei gar nicht so besonders dankbar ist oder vielleicht sogar richtig undankbar: weil zum Beispiel Elektronik dazukommt oder Solisten, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, oder weil ein Stück sehr schwer ist.“

Harry Vogt: „Der ständige Austausch mit Musikern, mit Interpreten und Komponisten ist wichtig, um mich über neue Tendenzen und neue Namen in der Szene zu informieren. Es gibt natürlich auch die ,klassische‘ Recherche, die Suche nach Neuem. Ich höre und lese viele Stücke, etwa bei Jurysitzungen, bekomme immer wieder Werke und Aufnahmen vor allem von jüngeren Komponisten zugesandt, informiere mich bei Hochschullehrern. Und die Neugier treibt mich immer wieder an, Neues kennenzulernen und in die Programme einfließen zu lassen.“

Bernhard Günther: „Man kann sich fragen, wie finde ich die Sachen, die andere auch erleben möchten. Man kann es aber auch anders herum denken. Für mich ist es ein Spüren von möglichen Konstellationen zwischen den Beteiligten, also genauso das Spüren des Publikums wie das trüffelschweinartige Erspüren der heißen Ware, wo ist jetzt der nächste tolle Komponist, die nächste spannende Komponistin, die es zu entdecken gilt. Das ist fraglos wichtig, aber bei weitem nicht alles. Es geht um das Gespür für eine an einem bestimmten Ort mögliche, sinnvolle und in der Luft liegende Konstellation. Es gibt für mich weniger die tolle Entdeckung und gute Musik, die absolut gut ist, sondern sie ist nur toll und gut in einem bestimmten Kontext. Ein und dasselbe Stück von denselben Musikern gespielt, kann in zwei Städten in zwei unterschiedlichen Veranstaltungsräumen für zwei unterschiedliche Publika phantastisch sein oder eine Katastrophe. Diese Orts- und Raumspezifik macht das Programmieren eines Festivals für mich so faszinierend. Zum Basler Festival ZeitRäume laden wir Komponistinnen und Komponisten ein, sich für ganz bestimmte Räume etwas auszudenken, vielleicht zusammen mit Architekten oder Bühnenbildnern. Natürlich ist es möglich, das eine oder andere Stück dann auch in Berlin, Zürich oder sonstwo aufzuführen. Aber das Prinzip des Basler Festivals ist es, dass man schaut, was für Räume es vor Ort gibt und wie man die zum Klingen bringt.“

Christine Fischer: „Das Wichtigste für mich sind Gespräche mit Komponisten – mit den Lehrern über ihre Schüler, aber vor allem in vielen persönlichen Gesprächen mit Komponisten, die ja meist sehr viel herumkommen und mich auf interessante Kollegen aufmerksam machen. Die junge Generation ist zum Großteil in der SoundCloud vertreten und daher sehr einfach kennenzulernen. Eine weitere Quelle ist meine Tätigkeit als Managerin der Neuen Vocalsolisten, mit denen ich viel und weltweit unterwegs bin. Ich versuche immer, möglichst viel von den Festivalprogrammen mitzubekommen und Gespräche zu führen. Ich beobachte, dass viele Festivalleiter Sensationen schaffen wollen und sich immer mehr selber auch als Künstler empfinden wollen oder als gestaltendes Ego. Ich sehe mich eher in einer dienenden Rolle beziehungsweise als Ermöglicherin im Blick auf unser Publikum und die Künstler, denen gegenüber ich Verantwortung trage und denen ich einen Handlungsspielraum schaffen möchte. Das empathische Moment spielt bei allem, was ich programmiere und woran ich beteiligt sein darf, eine sehr große Rolle. Ich empfinde es eigentlich als ein Geschenk, in diesem Bereich operieren zu dürfen, und nicht als eine Leistung.“

Bevor Christine Fischer die Leitung des Stuttgarter Festivals Eclat übernahm, wurde dieses dreißig Jahre lang von Hans-Peter Jahn verantwortet. Der studierte Cellist war lange als Musiker aktiv und lehrte Musiktheater und Hörspiel an der Musikhochschule Stuttgart. Als er 1983 die Leitung der drei Jahre zuvor begründeten Tage für Neue Musik Stuttgart übernahm, die er 1997 zu Eclat um­benannte, orientierte er sich über Werke und Komponisten zunächst aus seiner Perspektive als Instrumentalist. 1989 wurde Jahn Redakteur für Neue Musik des Südfunks Stuttgart. Bis zu seiner Pensionierung 2013 leitete er das Festival Eclat. Wie anderen Festivalmachern halfen ihm Kontakte zu Komponisten bei der Programmierung und Vergabe von Kompositionsaufträgen: „Es gibt unterschiedliche ,Zuträger‘ der Ware Musik. Die ersten Zuträger, die mir gegenüber aktiv wurden, waren die Verleger beziehungsweise deren Promotoren, die ihre Verlagspferde an den jeweiligen Ställen der Aufführungsmöglichkeiten zum Wiehern bringen wollten. Der andere Zuträger war der Komponist selbst. Die dritten Zulieferer waren die Interpreten, die großes Interesse hatten, von programmierten und zum Thema erhobenen Komponisten ein neues Werk spielen zu können, das bei diesem dann erst in Auftrag gegeben werden musste. Die vierte, schwächste Zulieferer-Funktion hatten Komponisten aus meinem näheren Umfeld, Freunde also oder Bekannte, von mir geschätzte Persönlichkeiten. Ihren Rat und ihre Vorschläge habe ich oft beherzigt. Zu den Promotoren habe ich gesagt: Ich freue mich über jeden mir unbekannten Namen, aber bitte nehmen Sie Ihre mitgebrachten Partituren wieder mit und richten Sie jenen Komponisten aus, sie möchten, wenn sie Interesse haben, sich selber an mich wenden, da ich das persönliche und direkte Gespräch bevorzuge. Denn mit Verlagsleuten kann ich nicht über die Noten diskutieren. Zugleich ist es eine Mutfrage für beide, für mich, aber auch für den Komponisten, direkt miteinander ins Gespräch über das Gedruckte oder Geschriebene zu kommen. Ich habe immer nur um zwei Partituren gebeten, eine mit kleinerer oder solistischer Besetzung, vielleicht ein Klavierwerk, und ­eine groß besetzte. Angezogen haben mich Kompetenz der geladenen Komponisten, gepaart mit Schüchternheit, mit Zweifel, ja auch mit Einschränkungsmanövern, weil mir in dieser defensiven Eigenart mehr künstlerisches Potential zu stecken schien als bei den Angebern. Ich habe für mich (aber auch direkt offen ausgesprochen) die Komponisten in drei Kategorien eingeteilt. Wenn ein Komponist diese seine Kategorie von mir wissen wollte, war ich undiplomatisch, vielleicht manchmal auch verletzend. Kategorie eins: Es gibt Komponisten, die von sich aus zehnmal schreiben, anrufen, drängen mit dem Pauschalsatz: Jetzt bin ich endlich auch einmal an der Reihe, dann in die Redaktion zu Besuch kommen und fast an der Grenze zur Unverschämtheit einen Kompositionsauftrag einfordern. Kategorie zwei: Es gibt Komponisten, die irgendwann einmal anrufen und vorbeikommen wollen, das aber nicht tun, weil sie es vergessen oder keine Zeit haben. Bei denen habe dann meistens ich die Initiative ergriffen und per schriftlicher Kommunikation zu einem Werk einer bestimmten Gattung aufgefordert. Das waren in aller Regel Komponisten, die ich schon kannte und von denen ich wusste, dass sie bei mir durch ihre bereits geschriebenen Kompositionen Eindruck und im besten Fall Begeisterung ausgelöst haben. Die dritte Kategorie sind Komponisten, die sich nie vorstellen, die erwarten, dass man sich bei ihnen als devoter Dienstleistungsfuzzi vorstellt. Sie für ein neues Werk zu gewinnen, ist eine Frage des Datums und vor allem eine Frage des Budgets. Ich denke, die Jahre zwischen 1980 und 2000 sind nicht mehr vergleichbar mit heute. Dennoch: Auch berühmt gemachte Persönlichkeiten von heute, die angehimmelten und zugleich gehassten, werden sich selbst gegenüber korrupt werden müssen, um ihre Interessen an richtiger Stelle des sogenannten öffentlichen Ereignislebens zu plazieren. Kleinveranstalter haben da meist das Nachsehen.“

Kriterien

Im Zusammenhang mit Festivals der neuen Musik muss immer wieder über Maßstäbe und Auswahlmechanismen diskutiert werden. Nach welchen Gesichtspunkten orientieren sich Festivalmacher inmitten einer ebenso pluralistischen wie international ausdifferenzierten Musikszene mit zahllosen Strömungen und individuellen Personalstilen? Welchen Kriterien folgen sie bei der Auswahl von Interpreten und Ensembles? Wer erhält einen Kompositionsauftrag und wer nicht? Wie stark werden ästhetische Entscheidungen beeinflusst oder gar dominiert von pragmatischen Umständen wie Geld, Termin, Ort, Koopera­tionspartner?

Christine Fischer: „Eclat wird sehr gut besucht, von Menschen, die an Kunst, Literatur, Theater, Kino und eben auch Musik interessiert sind. Sie erwarten, essentielle Dinge zu erleben und in den vier Festivaltagen eine große Bandbreite dessen wahrzunehmen, was sich in der Welt der neuen Musik entwickelt hat. Das Festival muss also ganz unterschiedliche Tendenzen abbilden und zugleich auch ein Gesicht haben. Ich denke an die, die das hören sollen. Und ich möchte Künstler fördern. Wenn ich ahne, dass das eine oder andere Werk auf Unverständnis stoßen wird, muss ich Wege der Vermittlung finden, vielleicht ein Interview, eine Einführung oder was auch immer. Man muss eingefahrene Hörgewohnheiten aufbrechen. Für das Festival-Publikum erklingt ein Stück nur einmal und dann ist es vorbei. Wenn ich diesen Moment nicht entsprechend vorbereite und dafür eine bestimmte Aufmerksamkeit herstelle und Hintergrundinformation liefere, dann ist er verschenkt. Ein Kriterium ist für mich, Künstlern, von denen ich überzeugt bin, dass sie etwas Wichtiges zu sagen haben, eine Plattform zu geben. Und ich habe die Verantwortung, dem Publikum eine große ästhetische Vielfalt zu bieten. Es geht nicht um meine persönliche ästhetische Positionierung. Sondern es geht darum, was ich für das Festival interessant finde und ob etwas eine Essenz, eine Wichtigkeit hat, die mich berührt, etwas anrührt, etwas auslöst, oder auch in aller Rätselhaftigkeit eine Bedeutung hat, die ich erst erschließen muss, und die das Recht hat, das Licht der Welt zu erblicken. Als Kulturvermittlerin und Veranstalterin sehe ich es als meine Verpflichtung an, diesen Dingen eine Plattform zu bieten. Und ich kann dann entscheiden, ob etwas im Festival Eclat vor fünfhundert Leuten stattfindet, oder im kleineren Rahmen auf unserer Experimentierbühne, der Konzertreihe ,Südseite Nachts‘, oder in unserem zweiten Festival ,Der Sommer in Stuttgart‘.“

Lydia Jeschke: „Kriterien gibt es, klar! Ich selber finde es total faszinierend, wenn ich das Gefühl habe, jemand hat eine Klangsprache, eine Art mit Klängen umzugehen, die wiedererkennbar ist. Personalstil ist ein blödes Wort, aber wo sich etwas in einer bestimmten intensiven Weise entwickelt, wird es interessant; wo jemand nicht mal so, mal so arbeitet oder einmal einen Wurf tut. Das ist mir zum Beispiel mit Marina Khorkova so gegangen, deren Porträt-CD mich neugierig gemacht hat: Da will jemand etwas in einer bestimmten Weise, und wie geht das wohl weiter? Wo führt das hin, oder kommt der oder die irgendwann auch einmal raus aus der Nummer? Bei Rebecca Saunders ist das auch so, um ein älteres, arrivierteres Beispiel zu nehmen. Diese Musik hat eine Intensität und Dichte, mit einem suchenden Aspekt. Das fasziniert mich. Und ich bin auch jemand, der sich erstmal von Klang faszinieren lässt.“

Bernhard Günther: „Es ist Musik mit Charakter, die mich interessiert. Das darf man nicht zu digital definieren, indem man sagt, etwas muss auf einer Skala von eins bis zehn in dieser oder jener Kategorie mindestens eine Acht haben. Wenn in einem Stück etwas Neues passiert, muss man bereit sein, sich die Offenheit zu bewahren, dieses neue Kriterium auch zu erspüren. Man kann nicht von vornherein sagen: Ah, das war jetzt banal, hatte überhaupt nicht mehr diese Subtilität, die wir alle gewohnt sind. Sondern man sagt, das hat eine neue Qualität. Ich gehe nicht mit einem fertigen Qualitätskriterienkatalog in ein Konzert, sondern lasse mich ein bisschen überraschen. Man weiß ja bei Festivals mit neuer Musik nicht unbedingt, was da passiert. Es kann ein Konzertformat sein, bei dem drei Stücke à zwanzig Minuten gespielt werden und die Musiker sitzen immer auf der Bühne. Da sollte man nicht sagen, das war jetzt enttäuschend, weil ansonsten keinerlei veranstalterische Besonderheit dabei war, sondern man sollte sich eben auf die innere Qualität der Stücke einlassen und versuchen zu erspüren, wo liegt bei diesen Zwanzig-Minuten-Stücken das Spannende. Und umgekehrt sollte man, wenn man plötzlich im Dunkeln herumtappt, ganz ungewöhnliche Dinge passieren und es vielleicht noch eine Nebelmaschine gibt, nicht vermissen, dass man jetzt nicht im Konzertsaal sitzt und dreimal zwanzig Minuten im Sitzen serviert bekommt. Man muss sich auf beides einlassen können. Das ist für mich das Ideal. Ob das Publikum dazu bereit ist, ist dann eine Sache der veranstalterischen Einschätzung.“

Hans-Peter Jahn: „Ich war ziemlich dispers veranlagt, zerstreut weil verstreut, und habe mich nicht an einer ästhetischen Positionierung festgeklammert. Ich war wie ein Kind. Ich habe die mich überwältigende Musik selber begierig aufgenommen und wiederholt gehört, mich an ihrer Perfektion und Meisterlichkeit erfreut, sie begeistert analysiert, um mir ihre Substanz begründen und um mir selbst eine Antwort geben zu können, was an ihr überragende Qualität ist und was nicht. Erst im Anschluss an diese spontanen oft und leidenschaftlichen Reaktionen gab es dann den nachfolgenden Diskurs als ein Korrektiv meiner eigenen Naivität. Dann schlichen sich die Begriffe heran, die Ismen und damit auch eine andere, eine mir fremde eigene Reflexion auf die kompositorischen Realitäten. Das für mich wichtigste Kriterium war und ist: Sind die Komponisten in der Lage, instrumental zu denken und vokal, sobald es um Vokalmusik geht (manchmal staunt man nicht schlecht über grenzenlose Ahnungslosigkeit). Das zweite Kriterium war – das sagt sich so leicht – ihre Individualität, also was ist das Besondere der Komponistenfähigkeit, was unterscheidet sie von der von anderen Komponisten. Nicht interessiert hat mich die Zugehörigkeit eines Jungkomponisten zum Altstar (die Spahlingerianer, die Lachenmänner, die Nono-Partiturenimitatoren, die Weichschmiede, die Romantiker), obschon ich davon etlichen zur Uraufführung verhalf. Das dritte Kriterium sind die Sachzwänge, ein Riesenfeld an Problembewältigungen: die technischen Notwendigkeiten, die Komponisten mit ihrer Komposition einfordern, die Ensembles mit Sonderwünschen, die Dirigenten mit unklugen Probendispositionen, die lokalen Probleme wie Bühnengröße et cetera, schließlich die Festival-Gesamtidee im Widerstreit zu den tatsächlich gelieferten Kompositionen ... Da fängt dann das freudvolle Komponieren eines Veranstalters an, also mit den nun abgelieferten und die eigenen Vorstellungen so gar nicht bekräftigenden Kompositionen ein schlüssiges Festival zu komponieren. Meine Art von Eitelkeit bestand darin, originell zu sein; strukturelle Stimmigkeit walten zu lassen (der interne rote Faden); zu versuchen, Überraschendes zu gestalten; schließlich das Geheimnisvolle (das wie auch immer geartete Rätsel, das Spiel mit anderen Disziplinen, die Anspielung auf Politisches, Weltungeheuer­liches). In die Programmhefte habe ich zum Beispiel immer wieder Chiffren eingepflanzt, Mitteilungen für diejenigen, die die Chiffren zu entziffern verstanden. Als idealistischer Vertreter der Veranstaltergestalter war ich überzeugt, dass nur Bildung, Belesenheit und Offenheit Differenzierung und vor allem Humor (!) im eigenen Denken provoziert. Dabei habe ich meine Zweifel an den Veranstalterzeitgenossen aus den Provenienzen der Juristik, des Kulturmanagements immer lauthals postuliert. Was sie zu machen befähigt sind, würde ich gerne als ,entlehnte Oberflächengestaltung‘ bezeichnen. Wenn ein Musik-Veranstalter aus der Musik heraus geboren und darüber hinaus umfassend gebildet ist in Literatur, Musik, Filmkunst, Philosophie, dann wird er zu einer Ideen schaffenden und zugleich bündelnden Instanz. Der Redakteur, der ein Instrument beherrscht (nicht nur spielt), steht auf anderen Beinen. Wenn er dann auch noch Partituren lesen kann, wird er niemals hinken.“

Harry Vogt: „Es gibt keinen festen Katalog an Kriterien, keine Liste, die man abhaken kann, um zu sagen, das sind die kompositorischen Qualitäten, die wir brauchen. Die Kriterien sind im Fluss, verändern sich, müssen immer wieder aufs Neue hinterfragt werden. Die Fähigkeiten von Musikern kann man dagegen meist einfacher einschätzen: das Spielvermögen, ihre Virtuosität, auch die Abenteuerlust, die es braucht, um sich Neues anzueignen und vielleicht auch mal über das Machbare hinauszugehen. Dagegen ist es schwieriger, sich vorzustellen, wohin ein Komponist in einem neuen Stück gehen wird oder ob er nur das fortschreibt, was wir von ihm schon kennen.“

Björn Gottstein: „Im Bereich der Musiker und der Ensembles kann man hörenderweise erkennen, ob jemand sein Instrument beherrscht oder nicht, ob ein Ensemble viel zusammenspielt, einen guten Zusammenklang und eine gute Klangkultur hat, differenziert und genau ist. Das kann man auch im Vergleich mit einer Partitur machen. Wenn ich Ensembles in Donaueschingen habe, die diesen Ansprüchen nicht gerecht werden, dann schade ich dem Festival, denn es gibt hier – ein blödes Wort aus der Förderkultur – ein Exzellenzversprechen. Was in Donaueschingen präsentiert wird, muss eigentlich makellos sein. Bei Komponisten ist das etwas anders. Auch da kann man natürlich von Handwerklichem sprechen und sagen, das ist sehr gut komponiert, makellos, fehlerfrei, gut notiert, die Musiker verstehen sofort, worum es geht, alles klingt, und alles was da ist, erschließt sich hörenderweise. Nur das alleine macht noch kein interessantes Festival. Bei den Hörern in Donaueschingen gibt es eine gewisse Erwartungshaltung. Wenn ich es mal etwas salopp formuliere: Man braucht das Meisterwerk und den Skandal, und man braucht alles dazwischen. Solche Kategorien tauchen beim Planen auf, und dann muss man versuchen, sie sich wieder zu verbieten, weil es nicht der Sinn sein kann, dass man dem Publikum etwas häppchenweise serviert, das auf der einen Seite als Meisterwerk goutiert wird und worüber sich auf der anderen Seite alle ein biss­chen aufregen. Eigentlich geht es ja darum, dass die neue Musik vorangebracht wird, dass etwas entsteht, neu ist, einzigartig. Und das steht in gewissem Widerspruch zu diesem spagatähnlichen Kategoriendenken.“

Desiderate?

Wer Festivals besucht, erlebt oft ein Gefühl des Ungenügens. Das liegt nicht nur an der serienmäßigen Abfolge von Konzerten und Werken sowie an der geringen Ausbeute an herausragenden Werken, Konzepten, Installationen oder Performances unter dutzendfachem Mittelmaß. Das Ungenügen hat auch mit allgemeinen Rahmenbedingungen zu tun: Mit zu geringen Finanzmitteln, unzulänglichen Räumlichkeiten, lokalen Zwängen, institutionellen Hemmnissen, allgemein gesellschaftlichen Veränderungen, und auch mit dem Umstand, dass den dutzendfach hintereinander (ur)aufgeführten neuen Werken der historisch-stilistische Kontext und spannungsvolle Kontrast abhanden kommt, den sie in „normalen“ Konzertprogrammen neben Werken anderer Epochen und Stilistiken womöglich entfalten würden. Manches von diesem Ungenügen gibt den Festivalmachern den Ansporn, es beim nächsten Mal anders zu machen und Neues zu versuchen. So bleiben am Ende noch zwei Fragen an die Festivalmacher: Was fehlt den Festivals neuer Musik? Und was wünschen die Macher diesen?

Hans-Peter Jahn: „Was mir bei den Festivals fehlt und was ich selber innerhalb von dreißig Jahren auch nur sehr selten habe realisieren können: Es fehlt der Kontext zur Musikgeschichte, das Wechselspiel der Werke miteinander, wodurch die Geschichte der Musik völlig neu plas­tiziert werden würde. Ensembles der historischen Spielpraxis spielen heute Telemann in einer Weise, dass man auf die Knie sinken könnte. Ein solches Ensemble meinetwegen mit Biber in Partnerschaft mit einem Sinfonieorchester, das Mathias Spahlingers ,passage/paysage‘ auf­führen würde, zusammen mit Mozarts spätem B-Dur-Streichquartett neben Georg Friedrich Haas’ zweitem ..., und das vierzehn Mal pro Festival jeweils anders ... ich wäre wohl nicht unglücklich. Die Festivals der neuen Musik sind Spielwiesen, auf welchen viel Schlechtes bejubelt wird, wohl deshalb, weil das Uraufgeführte nichts ist als nur Uraufgeführtes. Es gibt keine Messlatte, keine Orientierung an Vollkommenheit. An der Vollkommenheit gemessen zu werden, setzte neue Spielregeln auf den Spielwiesen voraus. Ich wünsche mir und ich glaube, dass der instrumentale Nachwuchs in Zukunft quasi angeboren unfähig ist, Instrumental-Spezialisten zu sein, die nur neue oder nur alte Musik machen. Sagen wir und hoffen wir: Multitalente, Instrumentalgenies, Künstler, die einem das Herz aus der Seele reißen und zugleich die blockierten Schubladen des Gehirns wieder geschmeidig verschiebbar werden lassen.“

Harry Vogt: „Im Rahmen eines Festivals würde ich mir manchmal mehr Austausch über die Musik wünschen, während es dort oft mehr um das Drumherum geht. Doch das lässt sich bei Festivals wie in Witten leider nicht so leicht initiieren, wenn die Zeit so begrenzt ist, wenn man nur zwei Tage und nicht mehrere Wochen zur Verfügung hat. Egal ob man hier unter sich bleibt oder fachfremdes Publikum hinzu kommt, gibt es den Wunsch, sich intensiver auszutauschen, sich eingehender mit der Materie zu beschäftigen. Das heißt gar nicht mal, immer schnell Urteile zu fällen, was gut oder schlecht ist, sondern Anregungen zu bekommen, mit der ästhetischen Erfahrung beim Hören umzugehen und dafür eine Sprache zu finden.“

Christine Fischer: „Man müsste jedem Festival etwas Eigenes wünschen. Donaueschingen würde ich einen variablen Aufführungsort wünschen, der gut klingt. Auch Witten würde ich tollere Räume wünschen. Für Eclat würde ich mir wünschen, dass alle, die die Existenz des Festivals wahrnehmen, auch kommen. Ich kann mich über Publikumszuspruch überhaupt nicht beklagen, wir haben ein phantastisches Publikum und das Festival ist immer gut besucht. Aber trotzdem merke ich, dass es eine gewisse Hermetik in der Publikumsstruktur gibt. Das kann ich in Berlin genauso beobachten und natürlich in Donaueschingen, Witten oder anderswo. Das gilt vielleicht für alle Festivals. Ich würde mir wünschen, bei mehr Menschen eine Neugierde zu erreichen, wie sie sie selbstverständlich gegenüber bildender Kunst, Film oder Literatur zeigen. Natürlich geht man nicht von einem Festival nachhause und sagt, das war alles phantastisch. Aber darum geht es ja auch gar nicht. Phantastisch ist doch, dass ich mit unglaublich viel Neuem konfrontiert war und das vielleicht noch wochenlang hinterher verarbeiten muss. Journalisten gehen oft unzufriedener aus Konzerten als das Publikum, vielleicht weil ihnen eine Sensation fehlt oder ein klar beschreibbares Konzept. Aber die Künstler erfüllen ja keine Erwartung. Genau das ist ja das Schönste: dass Erwartungen eben gerade nicht erfüllt werden. Wenn ich etwas mit einer bestimmten Vorstellung in Auftrag gebe und es kommt etwas ganz anderes dabei heraus, dann öffnet das doch auch mir wieder neue Horizonte. Ich denke, wenn man mit Offenheit in ein Festival geht, dann lässt es nichts zu wünschen übrig.“

Bernhard Günther: „Ich bin der Meinung, dass die neue Musik ihr Publikum überhaupt noch nicht gefunden hat. Es gibt hier ein riesiges, uneingelöstes Potential. Und die ganz große Aufgabe der Festivals ist es, dazu beizutragen, dass diese viele phantastische Musik überhaupt erst einmal die Hörer findet, die noch gar nicht wissen, dass sie diese Musik super finden würden. Es ist meine Überzeugung, dass der Qualität des ästhetischen Diskurses, der Arbeit der Komponisten und Komponistinnen und der Arbeit der immer besser werdenden Ensembles und immer offener werdenden Orchester das riesige Publikum noch fehlt, das sagt: Genau das wollen wir! Ich denke aber, dieses Projekt hat durchaus eine Chance. Es ist nur ein Haufen Arbeit.“

Björn Gottstein: „Letztlich machen die Musik die Komponisten und Musiker. Ich bin nur der künstlerische Leiter. Ich schaffe Bedingungen und Voraussetzungen dafür, dass gut gearbeitet werden kann, dass die Komponisten tolle Ideen haben, tolle Stücke schreiben und tolle Interpreten finden. Dass dafür manchmal ungewöhnliche Sachen oder andere Saalformen notwendig sind, kommt für mich immer aus den Werkideen heraus. Ich versuche nicht, das zu setzen. Deswegen formuliere ich für mich auch nicht so stark ein Desiderat, weil ich möchte, dass es aus der Kunst heraus entsteht. Ich möchte die neue Musik diese zehn Jahre, die ich die Donaueschinger Musiktage leite, begleiten. Und dazu muss ich einmal eine Metapher loswerden: Ich habe mein Leben lang Fußball gespielt. Seitdem ich fünf bin, war ich jeden Tag auf dem Bolzplatz und habe immer Verteidiger gespielt. Wenn du Verteidiger spielst, machst du zwei Dinge: das eine ist, du bist immer hinter dem Ball und schaust nach vorne, wo der Ball ist, wie er sich bewegt, was geschieht. Das andere ist, du schaffst als Verteidiger hinten eine Basis dafür, dass die kreativen Spieler im Mittelfeld und Sturm mit dem Ball ein Risiko eingehen können. Ich glaube, als Festivalleiter bin ich genau dieser Verteidiger: Ich stehe hinten und betrachte so gut ich kann aus einer Position, wo ich viel Überblick habe, und ich möchte gerne die Basis schaffen für die kreativen Spieler, damit die sich austoben können und auch mal den Ball verlieren dürfen, weil ich hinten stehe und ihn dem Gegner wieder abnehme.“

Lydia Jeschke: „Ich fühle mich auf Festivals auch nicht immer wohl. Was ärgert mich also? Es gibt vielleicht gerade in diesem Bereich, der nach dem Neuen guckt, schnell eine Routine, fast Selbstverständlichkeiten, Selbstläufermechanismen. Das hängt damit zusammen, dass nur ein überschaubarer Personenkreis Festivals macht und zu Festivals kommt. Wir kennen uns alle untereinander, und das ist einerseits ganz wunderbar, weil man sich austauschen kann und es die berühmte ,große Familie der neuen Musik‘ wirklich gibt. Aber das ist natürlich auch eine Riesengefahr. Was würde ich mir für die Festivals also wünschen: Familienzuwachs, woher auch immer der kommt, im Altersspektrum natürlich von unten, aber auch durch Einflüsse und Öffnungen. Sonst schläft die Familie am achtzigsten Geburtstag der Oma irgendwann ein. Und das darf nicht passieren.“

1Vergleiche vom Autor „Fugatomat – zum Festivalkarussell der neuen Musik“, in: MusikTexte 146, August 2015, 3–5.