MusikTexte 153 – Mai 2017, 33–42

Der Mensch denkt, die Maschine lenkt

Ein Porträt des Komponisten Alexander Schubert

von Rainer Nonnenmann

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist

Das ist alles, was sie hört

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist

Wenn sie ihr in den Magen fährt

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist

Wenn der Boden unter den Füßen bebt

Dann vergisst sie, dass sie taub ist

Wouhouhuo …

Herbert Grönemeyer, „Musik nur, wenn sie laut ist“, aus dem Album „Gemischte Gefühle“ (1983)

Zwischen den Faustkeilen des Neandertalers und heutigen Technologieparks großer Industriekomplexe liegen Welten. Und doch verbindet beide die anthropologische Konstante des Gebrauchs von immer effizienteren Werkzeugen und Maschinen. Insofern bildete der Homo technicus mit den Geräten, die er sich zur Kompensation seiner begrenzten körperlich-geistigen Kräfte und Wahrnehmungsfähigkeiten entwickelte, immer schon eine Einheit. Und da kein Endpunkt des technologischen Fortschritts in Sicht ist, steht das Thema „Mensch und Maschine“ alle Jahre wieder auf der Tagesordnung und liegt es nahe, dass auch immer mehr Musiker – vor allem der mittleren und jüngeren Generation – auf aktuelle Auswirkungen der Digitaltechnologie in nahezu allen Arbeits-, Kommunikations- und Lebensbereichen reagieren. Statt wie zu Zeiten der industriellen Revolution Kohle, Dampf und Öl sind heute Bits und Bytes die neuen Brenn-, Treib- und Schmierstoffe von Prozessoren und Instrumenten, die durch verschiedenste Samplings, Interfaces und Apps immer neue Erweiterungen des Komplexes Mensch/Maschine/Musik erlauben.

Die seit den Neunzigerjahren allgemein zugängliche Digitaltechnologie verstärkt die Tendenz zur Kreation von Mischwesen aus Mensch und Maschine. Evolutive Weiterentwicklungen zum Homo digitalis durch Kombinationen des menschlichen Bewegungs-, Sinnes- und Kognitionsapparats mit Robotern und „neuen Medien“ sind längst nicht mehr bloß Science-fiction. Die Perfektio­nierung, Technisierung und Medialisierung des menschlichen Körpers betreiben aktuell mehrere Disziplinen: Transplantationsmedizin, Schönheitschirurgie, Gentechnik, Synthetische Biologie, Bioinformatik, Mikrochip-Implantation, Neurowissenschaft, Transhumanism, Neuro-Prothetik, Robotik, Kybernetik, Mechatronik, Machine Learning, Künstliche Intelligenz … Längst gibt es Cyborgs, Androide, Virtual Reality, Second-Life, 3D-Computerbrille, Smombies und ein Avatar Orchestra Metaverse. Schon in den Sechzigerjahren bezeichnete der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan den Umgang mit Medien anlog zum Gebrauch von Werkzeugen als „extensions of man“.1 Durch digitale Hard- und Software wird auch der Leib des Musikers zum „Extended Body“ beziehungsweise „Amplified Body“ mit entsprechend erweitertem Perzeptions-, Aktions- und Kommunikationsradius. Seit den Achtzigerjahren versuchten immer wieder Performance-Künstler wie Stelarc, Laetitia Sonami, Franziska Baumann, Suguro Goto und andere den Menschen durch Sonden, Sensoren, Kameras, Mikrophone, Roboter, Maschineninstrumente, Computer und Internet nach innen und außen zu erweitern. Zeitgleich tauchten in filmischen Utopien beziehungsweise Dystopien verschiedene Techno-Humanoide auf, etwa die Replikanten in „Blade Runner“ und „The Terminator“ oder die biologisch-kybernetische Spezies der Borg aus der Serie „Star Trek: The Next Generation“.2

Interaktion: „Weapon of Choice“

Mediale Hybridisierungen des menschlichen Körpers auf dem Feld der Musik betreibt auch Alexander Schubert. Er agiert damit sowohl als individueller Künstler als auch als Exponent des für seine Generation der „Digital Natives“ typischen intermedialen Komponierens. 1979 in Bremen geboren, studierte Schubert zunächst Informatik, Bioinformatik und Kognitionswissenschaften in Leipzig, zudem spielte er in verschiedenen Improvisations- und Electronica-Formationen. 2008 arbeitete er ein Jahr als Gastkünstler am Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe. Schließlich studierte er bis 2010 „Multimediale Komposition“ bei Georg Hajdu und Manfred Stahnke in Hamburg und verfolgt seitdem ein Dissertationsprojekt über „sensorgestützte elektroakustische Performance“. Seinem Werdegang entsprechend arbeitet Schubert bevorzugt an Schnittstellen von instrumentaler und elektronischer Musik, namentlich mit sensorbasierten Erweiterungen herkömmlicher Instrumente, interaktiven Installationen, improvisatorischen Performances, Live-Elektronik, Fixed-Media und selbstprogrammierten audiovisuellen Elementen. Fast alle seine Arbeiten sind als Audio- und Videodateien im Internet zugänglich, auf seiner Website ebenso wie auf YouTube oder Spotify, zum Teil sind sie auch auf CD erschienen. Außerdem betreibt Schubert das Label und Festival „Ahornfelder“ und wirkt im 2011 gegründeten Ensemble Decoder als Programmierer, Sounddesigner und Elektroniker mit.

Für das synchrone Generieren, Interagieren und Transformieren von Klängen mit Bildern, Graphiken, Videos, Farben, Licht, Laser oder Kunstnebel nutzt Schubert gängige Programme wie MAX/MSP, Ableton live, Kinect, Jitter und DISP (Digital Image Processing with Sound), wie sie auch Disc- und Visual-Jockeys in Clubs und Lounges einsetzen. Viele seiner Arbeiten sind audiovisuelle Multimediakunst. Einzelne oder mehrere Instrumentalisten treten in interaktive Umgebungen, in denen sie über motorische Aktionen klar definierte musikalische Parameter steuern. Schuberts Schaffen steht damit in der Tradition der „hyperinstruments“, wie sie seit Mitte der Achtzigerjahre am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) unter Leitung von Tod Machover entwickelt wurden. Und wie die damalige Technologie reagiert auch er auf den Umstand, dass der Körper des Musikers im Zuge der algorithmischen Generierung von Klang seine bis dato jahrhundertelang exklusive Bedeutung als Conditio sine qua non der Klangerzeugung verloren hat.3 Der entkörperlichten digitalen Musikpraxis, die ohne physikalische Materialität eines Instruments und ohne physische Energie handelnder Musiker auskommt, stellt Schubert mit Hilfe interaktiver Musik-Medien-Systeme eigene Inszenierungen des Körpers entgegen. Die im Zuge digitaler Klangsynthese verlorene Körperlichkeit von Musik wird dabei nicht nur restituiert, sondern dank „gesture mapping“ zum Dreh- und Angelpunkt einer neuen Körperlichkeit und Performativität gerade technikbasierter Musik.

Zu Schuberts ersten sensorgestützen Kompositionen gehört „Weapon of Choice“ für Violine, Sensor, Live-Elektronik und Live-Video (2009), das er mit und für die Geigerin Barbara Lüneburg entwickelte. Der Violinbogen dient hier wie ein Degen oder Florett als – so der englische Werktitel – „Waffe der Wahl“ beim Duell zwischen Instrumentalistin und Technik. Der Bogen wird nicht nur zur Hervorbringung von Klang auf dem Instrument benutzt, sondern dient dank Bewegungssensor, Sound- und Graphikprogramm auch als audiovisuelles Steuerelement. Der motorische Sekundärbereich des Musizierens, der üblicherweise nicht direkt an der Klangerzeugung beteiligt ist, erfährt dadurch theatralische Erweiterungen im Zentrum der Performance. Das Spielen und Klingen der Geige wird zu einem Sonderfall zwischen permanent sich wandelnden Videobildern sowie elektronisch generierten oder transformierten Geräuschklängen: Schleifen, Schlagen, Klirren, Sirren, Quietschen, Wummern. Der durch die Luft geschwungene Bogen hinterlässt zum Beispiel im Video eine Folge versetzter Striche, die sich in Zeitlupe fächerartig auf- und einfalten. Schläge mit dem Bogenholz bewirken dagegen mittels Delay schnell pulsierende Repetitionen, deren Tonhöhen und Klangfarben sich durch stumme Gesten mit dem Bogen weiter modifizieren lassen. Da die gestischen Aktionen nicht detailliert festgelegt sind, kann und soll die Interpretin durch übertriebene und verfremdete Spielweisen auf die hör- und sichtbaren Ereignisse reagieren. Schubert bietet ihr lediglich einen Rahmen, um sich mit ihrer individuellen Körperlichkeit, Motorik und Gestik zu präsentieren. Der Leib tritt in den Fokus, einschließlich all seiner gesellschaftlichen, kulturellen und institutionellen Überformungen durch Herkunft, Alter, Geschlecht, Erziehung, Ausbildung, Szene … Ebenso multisensorisch und immersiv wirkt Schuberts Musik auf das Publikum.

Die Kombination akustischer Instrumente mit Bewegungssensoren und artifiziell transformierten oder synthetisierten Nachbildungen der Instrumente, die sich in Klang und Bild zu regelrechten Avataren verselbständigen, bestimmten auch Schuberts Werkreihe „Superimpose I–V“ für Jazzquartett und Elektronik sowie etliche weitere Stücke für aus Rockmusik bekannte Soloinstrumente. „Laplace Tiger“ für Drumset, Sensoren, Live-Elektronik und Live-Video zielt auf zeitversetzte Überlagerungen von Live-Spiel mit technischen Replikanten und Mutanten. Selbst stumme Schlaggesten, die gar nicht erst auf die sichtbar vorhandenen In­strumente treffen, lassen elektronisch zugespielte Perkussionsklänge hören und Videobilder sehen. Die Aktionen des verdrahteten Schlagzeugers überformen sich mit seinen medialen Echos, Wieder- und Doppelgängern zu einem Simulacrum aus miteinander verschmelzenden Realitäten und Virtualitäten. „Your Fox’s a Dirty Gold“ für Soloperformer mit Stimme, Bewegungssensoren, E-Gitarre und Live-Elek­tronik ist eine Art Popsong, bei dem die Sängerin über eine E-Gitarre auch Live-Elek­tronik und Licht steuert. In „Bifurcation Fury“ für E-Bass, Live-Elektronik (und Live-Beleuchtung) triggert der Solist mit seinem Spiel zudem elektronische Klänge und eine wahrhafte Lightshow. In „Bureau del Sol“ für Drumkit, Saxophon und Timecode-Vinyl verwendet Schubert die Hard- und Software „Kinect“, die in Spielkonsolen der Erfassung und Umwandlung dreidimensionaler Bewegungen dient. Die Musiker agieren auf vernebelter Bühne im Halbdunkeln wie lemurenhafte Schattenwesen. Die Kausalkette zwischen motorischen Ursachen sowie hör- und sichtbaren Wirkungen wird verschleiert.

Das Miteinander von Musikern und Technik gestaltet Schubert häufig spielerisch. In seiner interaktiven Installation „A Set of Dots“ können die Besucher mit Händen und Armen verschiedene Konstellationen aus Punkten, Linien und Flächen eines Videos so verändern, dass damit rückgekoppelt auch entsprechend andere elektronische Klänge hörbar werden. Ähnlichkeit zeigen Schuberts Arbeiten mit der Hybridisierung von herkömm­lichen Musikinstrumenten und „neuen Medien“ bei Stefan Prins. Der belgische Komponist – ebenfalls Jahrgang 1979 – thematisiert die Kreuzung von Mensch + Ma­schine + Medien etwa in den Werkreihen „Fremdkörper“ I–III, „Flesh + Prosthesis“ 0–2 und „Infiltra­tionen (Memory Space #4)“ für vier E-Gitarren und Live-Elektronik.

Popaffinität: Porträt mit Bombe

Gemäß dem Trend vieler um und nach 1980 geborener Komponisten zeigt Schuberts Umgang mit Klang und Bild eine starke Affinität zur Popkultur. Unschwer erkennbar sind Einflüsse aus Noise, Techno, Minimal Dub­step, Ambiente, Lounge, Trash- und Splatter-Ästhetik. Schubert erweitert seinen Einsatz der Pop- und Rockin­stru­mente genretypisch durch Scheinwerfer, Videos, Tanzbewegungen, Stroboskop-Blitze, Lasershow und Kunst­­ne­bel zu veritablen Bühnenevents. Bewusst kreuzt er Stilisti­ken und Aufführungstraditionen von Pop und neuer Musik. Sein schrilles Épater le bourgeois ist damit ebenso pro­vokantes Épater l’avantgarde. Gerne inszeniert er diese Haltung in photographischen (Selbst-)Porträts, die ihn wahlweise in Hasenkostüm oder Streetlook zeigen, als Teddybär-Zombie, mit Kettensäge im Anschlag, leuchtendem „fuck you“-Schriftzug, cooler Spiegel- oder rosaroter Herzchen-Sonnenbrille. Auf einem Photo posiert Schubert in der linken Hand mit lichterloh brennender Violine, während er lässig an einer Zigarette zieht. Die Montage hat Symbolcharakter, der zwar nicht überbewertet werden sollte, gleichwohl aber – mehrdeutig wie jede Metapher – interessante, weil konträre Lesarten nahelegt. Der mit roter Sonnenbrille und rotem Nagellack poppig gestylte Künstler demonstriert so seine Wurstigkeit gegenüber der Tradition, die er in Gestalt der Violine ohne viel Aufhebens den Flammen überantwortet, um das bisschen Brennholz allenfalls noch zum Entzünden aktuellen Nikotingenusses zu nutzen. Die Explosion rechts daneben auf einem Photo im Photo karikiert zugleich die ostentativ zur Schau gestellte „alt-avantgardistische“ Anarcho-Geste des Bombenwurfs auf die als veraltet und verkrustet empfundene Tradition. Schließlich erscheint gerade die in Hitze versetzte Geige als das eigentliche Energiezentrum des Photos. Das alte Instrument ist gleichermaßen Trümmer- wie Kraftfeld, denn jede Zerstörung – und sei sie noch so mutwillig – birgt in sich auch einen Neuanfang. Oder mit Gustav Mahler gesprochen: „Tradition ist Bewahrung des Feuers und nicht Anbetung der Asche.“

Nähe zu Metal, Industrial, Electronica, Noise, Hardcore sowie Free Jazz und Clubkultur zeigen Schuberts Arbeiten hinsichtlich ihres hochenergetischen Klangs und körperlich-gestischen Zugriffs auf die Instrumente. Der haptischen Klangerzeugung entspricht eine ebenso physische Hörerfahrung beziehungsweise eine Erweiterung „bloßen“ Hörens zu einem umfassenden und deswegen besonders körperlich, auch vegetativ wirkenden Erlebnis für alle Sinne, von dessen Überwältigungskraft sich der Hörer kaum zu distanzieren vermag. Schuberts Musik partizipiert damit an dem – ebenfalls im zeitgenössischen Theater und Tanz zu beobachtenden – Paradigmenwechsel: Weg von der Werkästhetik, hin zu körperlicher Performativität und Ereignishaftigkeit.4 Seine Stücke sind gekennzeichnet durch hohes Tempo, lautstarke Drones, harte Beats, wummernde Bässe, klirrende Höhen und extreme Dynamik. Die Musik ist immersiv bis an die Grenze von Schmerz und akustischer Gewalt, wie es Herbert Grönemeyer in seinem Song beschwor: „Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist.“ Der massive Einsatz elektroakustischer Mittel spielt dabei insofern eine entscheidende Rolle, als extreme Verstärkungsgrade den herkömmlichen Instrumentalklängen eine verfremdende Laut­stärke verleihen. An die Stelle des Hörens von komplex verfasster Musik tritt dann die umfassende leiblich-atmosphärische Erfahrung von elementarem Sound.5

Schuberts Stücke überfallen den Hörer. Wie unter Hochspannung wirken sie explosiv, hyperaktiv, sinnlich, lärmend, schrill, schräg, aggressiv, wütend, wild und chaotisch bis zur Kakophonie sowie polarisierend: Mancher wird diese Musik gerade deswegen lieben, andere dagegen werden an ihr vermissen, was ihnen sonst an Musik lieb und teuer ist. Doch hinter der kantig-schroffen Erscheinung verfügen Schuberts Multimedia-Stücke auch über Dimensionen, die „romantisch“ genannt werden können, wie der Komponist Matthew Shlomowitz es tat, als er Schuberts Schaffen als „post-pomo, digital, hip, trash-romantisch“6 charakterisierte. Tatsächlich finden sich in Schuberts Arbeiten typisch romantische Topoi und Faszinosa wie Nacht, Rausch, Ekstase, Taumel, Tanz, Traum und Tod. Zwischen apokalyptischer Schwärze und expressivem Pathos blitzen auch Ironie und mediale Selbstreflexion durch. Schließlich folgt der formale Verlauf vieler Stücke romantischen Katego­rien wie Steigerung, Überwältigung, Plötzlichkeit, Bruch, Fragment, Offenheit, Heterogenität, Gegensatz und Neuanfang.

Das Klingen des Stummen: „Point Ones“

Da sich viele Werke Schuberts im Hinblick auf Setting, Technik, Montage, Interaktivität, Bild- und Klanglichkeit ähneln, ließe sich von einem durch bestimmte Technologien gestützten Personalstil sprechen, der infolge weitgehend identischer Hard- und Software zugleich Parallelen zu anderen Musikern dieser Generation aufweist. Die Individualität des Komponisten zeigt sich weder im verwendeten Material – das spätestens seit John Cage ohnehin universal geworden ist – noch in den verwendeten Medien und Computerprogrammen, die globalen Standardisierungen folgen, sondern im Detail von Verarbeitung, Strukturierung und Formung dieser Materialien und Medien. Doch Schubert verzichtet durch seine Notation von Icons in einigen Werken (zum Beispiel „HELLO“ und „Star Me Kitten“) darauf, Spielweisen und Klänge im Detail zu fixieren. Stattdessen stellt er den Musikern die Gestaltung ihres betont körperlich-gestischen Zugriffs anheim. An die Stelle struktureller Spekulation und Konstruktion, wie sie vielfach das kompositorische Metier der neuen Musik dominiert, setzt er die Praktik und Direktheit musikalischer Performativität und Präsenzästhetik.

Eine besondere Spielart der sensorgestützen Instrumental-Performance ist „Point Ones“ für erweiterten Dirigenten, kleines Ensemble und Live-Elektronik. Normalerweise stumm, bringt der Dirigent hier mittels Bewegungssensoren an den Handgelenken selber Klang hervor. Seine Aufgabe besteht weniger darin, das Ensemble zu koordinieren, also Takt zu schlagen, Einsätze zu geben, abzuwinken, Tempo und Dynamik zu formen. Stattdessen markieren seine auf zwei Systemen für linke und rechte Hand notierten Bewegungen (hoch-runter, rechts-links, hart-weich) durchnummerierte „cues“ von 1 bis 171, die in der Partitur mit schwarzen Pfeilen vermerkt sind und über das Sensorerkennungsprogramm Osculator vorproduzierte MAX-5-Patches oder Live-Recordings des mikrophonierten Ensembles abrufen, zu denen die Partitur in den Systemen „E“ wie Elektronik und „I“ wie Instrumental lediglich lapidare Verbal­an­ga­ben macht.

Während die Instrumentalpartien keine besondere Herausforderung darstellen, ist dagegen exaktes Zusammenspiel von Dirigent, Ensemble und Elektronik umso entscheidender. Da die Instrumentalisten häufig ähnliche Gesten wie der Dirigent ausführen – etwa schnell auf- und abfahrende Glissandi, Repetitionen, Läufe, Schläge versetzt oder parallel –, erlebt der Hörbetrachter ein kaum in seine Bestandteile aufzulösendes Konglomerat aus sichtbaren Gesten, instrumentalen und digitalen Klängen. Im Werkkommentar umreißt Schubert die zentrale Idee von „Point Ones“ und seiner meisten Stücke: „Ziel ist es, die Elektronik durch die körperlichen Bewegungen erfahrbar zu machen und sie wie ein weiteres Instrument auf der Bühne steuern zu können.“7

Die Synchronität von Ensemble, Dirigent und Klängen wird gezielt von Differenzen zwischen sichtbaren Gesten und hörbaren Resultaten durchkreuzt. Ab Takt 133 soll der Dirigent das Ensemble ausdrücklich nicht dirigieren und auch nicht mehr dessen Dynamik nachzeichnen, sondern mit kräftigen, wilden Bewegungen beider Arme wie ein Solist agieren, indem er die Pausen zwischen den Einsätzen der Musiker eigenständig ausfüllt. Während einer Solokadenz (Takte 180 bis 184) legt er schließlich seine angestammte Rolle gänzlich ab, um seinen Bewegungsradius theatralisch zu erweitern, wahlweise auch bizarr und komisch. Obwohl kein Musiker spielt, prasselt auf den Hörer dennoch ein Feuerwerk hochenergetischer Elektronik, da jede Bewegung des Dirigenten vorgefertigte Soundfiles abruft. Was Schubert in seiner Partitur – wie hier auch sonst zumeist auf Englisch – für die Partie des Dirigenten anmerkt, gilt im Besonderen für diese Kadenz: „Think of the conducting for the piece as a choreography.“ Gegen Ende des Stücks ab Takt 258 geht es dem komponisten um die Diskrepanz zwischen hörbarer Elektronik („Microtonal Piano Sounds“, „Cresc Noisy Sound“, „Click High“) sowie traditionellen Dirigiergesten (Stopp, Pause, Einsatz) und den dementsprechend vom Publikum erwarteten Reaktionen und Klängen der Musiker, die mit ihren Pausentakten, Repetitionen und Liegetönen jedoch just hier immer weniger auf den Dirigenten reagieren.

Die Übersetzung sichtbarer Bewegungen in hörbare Klänge folgt dem Modell vieler Stücke Schuberts. Eine bestimmte Motorik von Händen und Armen ruft bestimmte Klänge hervor: je wilder die Bewegungen desto energetischer und kantiger die elektronischen Sounds. Da jedoch nicht exakt vorhersehbar ist, welche Bewegung welches Resultat bewirkt, ist von den Akteuren stets Experimentierfreunde und Improvisationslust gefordert. Die Aufführenden verschmelzen mit der Technik zu menschlich-elektronischen Rückkopplungen. Im Fall von „Point Ones“ wird der Körper des Dirigenten selbst zum Klangkörper, indem sein sonst lautloses Gestikulieren Klänge auslöst und zum grotesken Schattenboxen mutiert. Da jedes Zucken mit Klang einhergeht, vermag sich die Kausalkette für den Hörbetrachter auch umzukehren. So entsteht der Eindruck, nicht der Dirigent steuere die Elektronik, sondern er selbst zapple unter Hochspannung wie eine Marionette. Der um sich schlagende Dirigent wird zur pantomimischen Dirigenten-Karikatur beziehungsweise zur Symbolgestalt des Digital- und Internetzeitalters, wo globale Software- und Internetkonzerne die User zu gläsernen Konsumenten machen. Scheinbar selbstverantwortlich handelnd, erweist sich das Such-, Informations- Kommunikations- und Kaufverhalten der Nutzer in Wirklichkeit als gesteuert. Der Dirigent – sonst totalitärer Allesbestimmer – wird bei Schubert zum Getriebenen der ihn bestimmenden technischen Totalität: Der Mensch denkt, die Maschine lenkt.

Selbstreferentialität: „HELLO“

Video, Elektronik, Computer, Smartphone, Webcam, Internet und soziale Medien werden von Schubert nicht einfach benutzt, um ausschweifende Medienexzesse zu feiern. Stattdessen reflektiert er deren Gebrauch und Funktionsweise. Das zeigt besonders sein häufig auch international aufgeführtes Stück „HELLO“ für eine variable Instrumentalgruppe, Live-Elektronik und Video. Wie in anderen Stücken lässt Schubert die Besetzung unbestimmt. Sie sollte jedoch mindestens vier Spieler umfassen sowie Schlagzeug und bestenfalls Klavier, Gitarre, Akkordeon oder ein anderes Akkordinstrument. Zudem sind die Mitwirkenden eingeladen, ihr angestammtes Instrumentarium durch zusätzliche Instrumente, Spiel­zeuge, Alltagsgegenstände, Objekte und zufällige Fundstücke passend zu den im Video gezeigten Dingen und Gesten zu ergänzen. Die vorproduzierten Bilder zeigen den Komponisten zuhause in seiner Wohnung. Vor dem Sofa auf einem Stuhl sitzend sieht man ihn verschiedene Gesten ausführen: Schlagen, Klatschen, Dirigieren mit Hand, Faust und Fingern, hantierend mit Gitarre, Melodika, Tennisschläger, Besen, Elektrokabel, Kekspackung, Streichhölzern, Konfetti, einer Frucht und einer Zeitschrift. Im Werkkommentar heißt es dazu: „The video consists of gestures performed by the composer in his living room. The piece comes in eight movements and is an invitation into the personal world of Alexander Schubert. Please enjoy.“8

Die „Homestory“ wird hinter die abgedunkelt spielenden Musiker auf eine Leinwand projiziert und mit elektronischem Zuspiel kombiniert. Die über Clicktrack synchronisierten Musiker setzen die im Video gezeigten Gesten als musikalische Gesten um, nicht theatralisch sichtbar, sondern klanglich illustrierend oder kontrastierend. In je­dem Fall sollen sie ihre Aktionen zeitlich präzise, klar und bedeutsam dem Video zuordnen. Knuspert der Komponist im Video Kekse aus der Verpackung, so knistern auch die Musiker mit Papier. Da sich das Ensemble primär am Video orientiert, relativiert Schubert die Bedeutung der Partitur: „eventually the video is the real score“. Das Notierte dient den Instrumentalisten lediglich als Hilfsmittel für das Zusammenspiel mit dem Video, zu dem sie eine Art Live- Soundtrack spielen. Statt bestimmter Klänge sind daher Icons fixiert, die auf Aktionen im Video und die Live-Elektronik (Recording, Playback, Reverb, Delay, Holder, Buffer) verweisen.

Die Handlungen des im Wohnzimmer hockenden Komponisten erscheinen im Selfie-Video alltäglich, doch kaum je realistisch. Fast immer ist ihre Laufgeschwindigkeit und Laufrichtung manipuliert. Die Bilder werden beschleunigt oder zum Standbild eingefroren oder schnell repetiert, als würde das Video- und Klangzuspiel fehlerhaft stottern beziehungsweise infolge zu geringer Ladekapazität buffern. Bild und Klang erscheinen technisch überformt und machen dadurch auf ihre spezifische Medialität aufmerksam. Dies unterstreicht (ab 3´28´´) auch eine Fahrt im Zeitraffer mit wackliger Handkamera hinter dem Komponisten her, der plötzlich vom Stuhl aufspringt, sich eine Jacke überwirft, aus der Wohnung durchs Treppenhaus ins Freie über die Straße zum Eingang eines gegenüberliegenden Hauses rennt, dort mit einem Filzstift „FUCK YOU“ an die Wand schreibt, alle Klingeln drückt und diebisch kichernd wieder zurück nach Hause eilt. Für mediale Selbstreferenz sorgen ferner Texteinblendungen wie „Jazz“ oder „Rock“, die sich auf bestimmte Musikstile beziehen, sowie die eingeblendeten Nummern der acht Abschnitte des Stücks. Mediale Selbstbespiegelung betreibt „HELLO“ schließlich auch dadurch, dass im Video dasselbe Video als Bild im Bild sowohl auf einem Laptop als auch per Beamer großformatig projiziert auf der Wohnzimmerwand erscheint. Das technisch reproduzierte Abbild inkorporiert so seine eigene technische Wiedergabe und Vervielfältigung. Zugleich hört man passend zu dem im Video sichtbaren Computerbildschirm (5 : 15 und 9 : 45) den rotierenden Klang, mit dem am Anfang von Karlheinz Stockhausens „Sirius“ (1975–1977) die vier Musiker landen: Die Begegnung des Videos mit sich selbst wird zugleich zu einer Begegnung der dritten Art mit musikalischen Außerirdischen.

Gegen Ende sieht man Schubert an seinem Schreibtisch (ab 8 : 22), mit Computertastatur und links davon einem Laptop mit Graphiken eben der Soundfiles, die gerade ablaufen. In der Mitte zeigt ein Bildschirm das Video von „HELLO“, das der Komponist soeben auf YouTube hochlädt. Rechts unten liegt noch das mit dem Computer verkabelte Smartphone, mit dem Schubert offensichtlich sein Homevideo gerade gedreht hat. Der Komponist gibt seinen Arbeitsplatz und die von ihm benutzte Hard- und Software preis. Auch das Klappern der Tastatur ist zu hören. Diese Ostentation der Mittel erstreckt sich bis zum Blättern in einem Notizbuch, das sich jedoch plötzlich verselbständigt. Denn das lautstarke Umschlagen einer Seite erscheint als Video-Delay und – mit Trommel-Schlägen kombiniert – im Tempo verdoppelt und vervierfacht, bis das inszenierte „Making of“ über immer schnellere Beats wieder in das Stück zurückkippt. Der nächste Bruch erfolgt jedoch sogleich. Der Klang- und Bildersturm reißt ab und macht Platz für einen Kommentar des Komponisten zu „HELLO“ (ab 10 : 14): Seine Idee sei gewesen, mit dem versammelten Material eine Weile zu spielen, um es dann immer weiter zu beschleunigen und endlich bei eben dem Interview zu landen, das er jetzt gerade aufzeichnet. Den abschließenden Showdown (ab 11 : 00) kündigt der Komponist in seiner Videokonferenz noch selbst an: „the fast sequence would be this …“ Dann rattert binnen zwanzig Sekunden das gesamte Material des Stücks als medialer Overkill nochmal ab.

Ob die von Schubert eingebauten Selbstreferentialitäten beim Hörbetrachter auch eine entsprechende Selbstbeob­achtung des eigenen Sehens und Hörens zur Folge haben, bleibe dahingestellt. Über weite Strecken wird das Publikum mit heterogenem Material förmlich zugedröhnt. Reizüberflutung, Hyperkonsum, Hyperaktivität in Perma­nenz sind zweifellos ein Signum des Informations- und Kommunikationszeitalters. Schubert reagiert darauf mit subversiver Affirmation, indem er zum Alltag gewordene Phänomene durch Übersteigerung bewusst zu machen sucht. Doch die mangelnde kritische Distanz zu Material und Medien lässt kaum Raum für Besinnung und Reflexion. Das Bombardement an Eindrücken überfrachtet den Hörbetrachter eher. Schubert gibt zu viel zu sehen und zu hören, als dass sich das Sehen selber sehen und das Hören selber hören ließe. Daran ändert weder etwas die gegen Ende immer häufiger eingeblendete Begrüßungsformel „HELLO“ noch die zu Anfang mehrmals gezeigte Geste, bei der sich Schubert die Finger beider Hände wie eine Brille vor die Augen hält, um zu signalisieren: Aufgepasst, beim Sehen und Gesehen-Werden geht es hier zugleich um Selbstbeobachtung!

Moderations-Konzertstück: „Star Me Kitten“

Wie Schubert arbeiten gegenwärtig etliche Künstler der jüngeren und jüngsten Generation audiovisuell. Ihre Arbeiten wurden teils unter Schlagworten wie „Neuer Konzeptualismus“, „Diesseitigkeit“, „New Discipline“ oder „Social Composing“ rubriziert. Die Ergebnisse erinnern zuweilen an die intermedialen Experimente der Sechzigerjahre, die Theodor W. Adorno mit seinem Theorem von der „Verfransung der Künste“ zu erfassen suchte,9 also etwa Arbeiten von Composer-Performern, Improvisa­tions­gruppen, Merce Cunninghams und John Cages gemeinsame Tanz-Theater-Licht-Musik-Aufführungen oder die Projekte von Josef Anton Riedls Ensemble „Musik/Film/Dia/Licht-Galerie“. Bei aller Nähe markiert der Wechsel von der einstigen Analog- zur gegenwärtigen Digitaltechnologie jedoch auch Unterschiede. Denn der Einsatz des Computers erlaubt ungleich engere Verzahnungen der Mittel, die weniger additiv als synthetisch verknüpft werden, bis hin zur Generierung sämtlicher Medien aus ein und demselben Algorithmus. Der Rezi­pient kann daher oftmals nicht mehr zwischen Live-Ereignis und Reproduktion unterscheiden. Die Differenzen von Ursache und Wirkung, Original und Kopie verschwimmen – ganz so wie im gegenwärtigen Zeitalter von Internet und Fake News.

Als eigenes Genre etablierten in jüngerer Zeit Künstler wie Patrick Frank, Johannes Kreidler, Trond Reinholdtsen und Simon Steen-Andersen das Format des „Moderations-Konzertstücks“. Dabei tritt der Komponist oder ein anderer Performer als Moderator auf, der das Stück live kommentiert, ironisiert, persifliert, konterkariert, mit Worten, Powerpoint-Präsentationen, Titeln, Texten, Noten, Spielanweisungen, Schaubildern, Photos, et cetera. Auch dafür gibt es historische Vorbilder aus den Sechzigerjahren, etwa im instrumentalen Theater von Mauricio Kagel oder in Dieter Schnebels „Glossolalie 61“ (1961), wo zu Beginn eine korrekt gekleidete Person dem Publikum eine Einführung in das Stück gibt, dessen Aufführung genau damit bereits begonnen hat. Zur Gattung des moderierten Konzertstücks gehört auch Alexander Schuberts „Star Me Kitten“ für Sängerin, variables Ensemble, Video und Elektronik (2015), uraufgeführt vom Ensemble Soundinitiative im Juni 2015 beim Klang-Festival in Kopenhagen.

Schubert selbst bezeichnet das Stück als „lecture on the relationship between sound and content“.10 Er präsentiert darin die Verfertigung von Kunst beziehungsweise Musik als Dienstleistung für Aufklärung, Entertainment und Verwirrung. Zu Anfang lässt er die als Empfangsdame gekleidete Sängerin von einem Rednerpult aus über Headset das Publikum begrüßen und eine sachlich-nüchterne Einführung in das Stück geben. Die Sängerin zeigt dazu per Powerpoint-Präsentation verschiedene Titel, Texte und Symbole, die für ebenso ikonische Klänge, Spielgesten und Geräusche stehen (Schneiden, Aufsteigen, Arbeit, Liebe, Schlüssel, Hammer, Schere …) und die das Ensemble jeweils kurz vorführt. In der Partitur sind diese Ereignisse zeitlich fixiert, im Detail jedoch – wie in „HELLO“ – unbestimmt. Gemeinsam und abwechselnd sollen die Musiker diese „Icons“ (siehe Abbildung auf der nächsten Seite) energetisch und zeitlich präzise mit klarer Gestik umsetzen. Darüber hinaus besteht die Partitur aus drei weiteren Systemen mit Tonhöhen und Akkorden, perkussiven und elektronischen Ereignissen. Das Ensemble spielt per Clicktrack zum vorproduzierten Video- und Audiozuspiel, bestehend aus elektronischen und konkreten Klängen, die den Icons entsprechen. Ferner zugespielt und mit Icons bezeichnet werden unterschiedliche Musikstile, etwa „Soho Techno Club Music“, „Pointillistic, Boulez-Style, Spare“, „Light airy sound (p – mp, noisy, Lachenmann-Style)“ oder auch der Begrüßungsklang eines hochfahrenden Apple-Computers.

In den sachlichen Vortrag der Sängerin schleichen sich bald unpassende Bilder (Urlaubsphotos) und Ausdrücke („fucking“), die den formellen Rahmen sprengen. Im weiteren Verlauf erweisen sich auch manche Behauptungen als falsch, etwa dass das Stück nur acht Minuten dauere. Zudem steigert die Sängerin ihren anfangs distanzierten Tonfall nach und nach ins Hysterische, als erlebe sie selber affektiv eben jene Ereignisse, die in ihrer bruchstückhaft erkennbaren Erzählung vorkommen:

Good evening. I want to present a piece called ,Star Me Kitten‘ by ,Alexander Schubert‘. The work is 8 minutes long and consists of 5 parts. The approach of the piece is to examine the relation between visual content and musical responses. In this presentation I will use a technique called ,point observation‘, using pictures, videos and scenarios as source material, like for example: this – this – and that. Before we begin with the piece I want to introduce the instruments in the ensemble: A B C D E F. And the instrument groups are: The Dog Group, The Hate Group, And the Sex Group. This is my vacation in Rome. This is a naked lady and a dog. This is: Cutting – Erasing – Rising – Working – Loving – Hammer – Loving – Keys – Door – Glass – Step – Phone – Typewriter – Chainsaw – Scissors – Chainsaw – Fucking in the toilets of Soho …

Die anfängliche Eins-zu-eins-Zuordnung von Worten, Zeichen und Klängen weicht zunehmendem Eigenleben der verschiedenen Ebenen, die sich immer dichter überlagern, bis es zum simulierten Computerabsturz kommt. In rasender Geschwindigkeit scheint der wildgewordene Rechner alle seine Daten und Programme gleichzeitig abzuspielen. Schließlich schaltet sich der Komponist per simuliertem Skype-Video ein, um dem Chaos Einhalt zu gebieten: „What’s going on? Can you stop messing around like this and perhaps take it serious, at least a bit?“ Das für Schuberts Generation typische Plündern des Internets wird so selbstironisch beleuchtet. Einen weiteren Cameo-Auftritt übernimmt Schubert auch im Video in der Rolle eines Tennislehrers, der verborgen unter einer Kellerluke auf seinem Smartphone Porno-Videos sieht. Ohne durchgängigen Erzählfaden fügen sich Worte, Klänge und Bilder gleichwohl zu einer wirren Geschichte über einen Urlaub in Rom, Sex auf einer Toilette in Soho, Tennisunterricht und die Aufführung eben desjenigen Stücks, welches das Publikum gerade erlebt. Die Sängerin erscheint dabei sowohl als Vortragende wie als Figur der kruden Handlung, mithin sexistisch verniedlicht als „Kitten“, als wahlweise entweder schnurrendes oder Krallen zeigendes „Kätzchen“, von dem unklar bleibt, was von ihm zu erwarten ist.

Das Spiel mit dem Vortragsformat suggeriert klare Inhaltsbezogenheit und Eindeutigkeit. Das doppelbödige Stück unterläuft und wendet diese jedoch zu einer Selbstreflexion von Material und Medium. Denn wie in „HELLO“ kommt schließlich ein Computerbildschirm als Bild im Bild ins Video. Zum Schluss zeigt das Video (ab 12 : 50) bei abgedunkelter Bühne eine Aufnahme des leeren Saals, den das Publikum nach der Aufführung nun tatsächlich gleich wieder verlassen wird: „Thank you“!

Berauschen: „Supramodal Parser“

Anleihen an Techno finden sich in Schuberts „Supramodal Parser“ für Sängerin, E-Gitarre, Saxophon, Perkussion, Klavier, Elektronik (auch Nebel und Licht). Uraufgeführt wurde das einstündige Stück als inszenierte Rave-Nacht mit Bühnen- und Lichtshow im Rahmen einer „rAVE nIGHT vIENNA“ beim Festival Wien Modern 2015 durch das Ensemble Nikel zusammen mit der Formation Ministry of Bad Decisions, der Sängerin Mona Steinwidder (Mohna) und dem DJ Jonas Wahrlich. Der Stücktitel verweist auf eine Verschaltung unterschied­licher Sinnesreize im Gehirn, bei der verschiedene Wahrnehmungsmodalitäten – etwa Sehen und Hören – nicht getrennt verarbeitet werden, sondern gemeinsam, eben „supramodal“. An die Stelle differenzierter Wahrnehmung – welche die titelgebende Ableitung „Parser“ des englischen Terminus „to parse“ aus der Linguistik (einen Satz grammatikalisch zergliedern) andeutet – tritt ein eher rauschartiger Gesamteindruck. Eben darin liegt die zentrale Wirkungsabsicht von Schuberts Arbeit: „Mich interessiert das Konzept des Loslassens, des Zeitverlierens, der Rauschzustand, nicht nur im Sinne von Party machen und feiern, sondern auch das Loslassen von Regeln, sich selbst zu verlieren, euphorisch zu sein, aber auch die andere, gefährliche Seite, also das Haltverlieren und die traurige Komponente, die da leise mitschwebt.“11

Mit wechselnden Kontexten – beispielsweise Raver- und Techno-Szene versus Konzertreihen und Festivals – spielt Schubert auch in anderen Stücken. Brisant sind solche Grenzüberschreitungen zwischen „Hoch- und Sub­kultur“ jedoch nur so lange, wie derartige Demarkationslinien überhaupt noch bestehen, was angesichts eines in den westlichen Indus­trienationen im Laufe der letzten hundert Jahre weitgehend entgrenzten Material-, Musik- und Kunst- sowie enthierarchisierten Kulturbegriffs heute jedoch immer weniger der Fall ist. Gleichwohl ist unleugbar, dass es immer noch szene-spezifische Kontexte, Orte, Formate, Diskurse und Erwartungshaltungen gibt, die sich kombinieren beziehungsweise konfrontieren lassen. In „Lucky Dip“ für Midi-Drumkit, Keyboard, E-Gitarre (Nebel, Licht und Projektion) – vom Ensemble Decoder unter anderem bei den Darmstädter Ferienkursen 2014 aufgeführt – wird das Publikum von hart montierten Elementen aus Rock, Pop und Techno attackiert, grell, schroff und lautstark. Da diese Stile jedoch nur kurz aufblitzen, bevor sie von anderen zerschnitten und ersetzt werden, stellt sich kein durchgängiger Beat und Sound ein, folglich auch kein ungebrochenes Rave-Gefühl. Überwältigung und Autoreflexion des Hörbetrachters – scheinbar Widersprüche – schließen sich hier nicht aus. Außerdem enthält das Stück dieselben Textteile wie „Supramodal Parser“: Es ist ein postapokalyptischer Neoexpressionismus aus dunklen Wort-, Reim-, Gefühls- und Gedankenfetzen, ausgebrannt und fahl, wie in den trüben Morgenstunden nach einer langen Rave-Nacht.

SCANNERS“ für Streicherensemble, Choreographie und Elektronik – 2013 für das Hamburger Ensemble Resonanz komponiert – nennt Schubert „eine choreographierte Komposition, bei der der Bewegung der gleiche Stellenwert zukommt wie dem Klang“.12 Die Skala der „Bewegungen“ reicht von herkömmlichen Spielgesten bis zu rein artifiziellen Aktionen, die nicht der Hervorbringung von Klang dienen, aber gleichzeitig mit zugespielten Geräuschen von Kopiergerät, Scanner und hy­draulischen Maschinen erfolgen. Das Ensemble mutiert auf diese Weise gleichsam selber zum technischen Apparat. Für ein Konzert der WDR-Reihe „Musik der Zeit“ im Februar 2017 unterzog Schubert das Stück einer Revi­sion. Er reduzierte die Besetzung von neun auf lediglich fünf Streicher und übernahm das Lichtkonzept des wenig später entstandenen Stücks „Sensate Focus“. Das Publikum bekommt mittels genau programmiert einsetzender Scheinwerferkegel nur Momentaufnahmen des Spiels der Musiker sowie ihrer teils maschinell-roboterhaft inszenierten Gesten und Choreographien zu sehen. Dagegen wird alles motorische Beiwerk der Musiker (Haare ordnen, Brille zurechtrücken, Haltungsänderungen, Umblättern) in Dunkelheit ausgeblendet.

Die Aufmerksamkeit des Hörbetrachters wird dabei sowohl auf das Maschinenhaft-Mechanische als auch auf die Präzision, Körperlichkeit, Schönheit und Eleganz der instrumentalen Aktionen gelenkt, welche die Musiker bis in die letzte Faser ihrer Kinesis verinnerlicht haben. Doch präsent ist nur, wer im Licht steht. Die im Dunkeln sieht man nicht. Zu hören gibt es indes durchweg umso mehr. Selbst wenn die Musiker lediglich stumme Gesten ausführen, werden über Lautsprecher sirrende Maschinengeräusche zugespielt. Sehen und Hören treten dabei ebenso auseinander wie Aktion und Resultat. Indem der studierte Informatiker und Kognitionswissenschaftler aus dem menschlichen Kontinuum der Musiker auf der Bühne ein digitales An oder Aus macht, reagiert er auf ein zen­trales Phänomen von Digitalisierung und Internet, das die menschliche Wahrnehmung und damit auch den kognitiven Zu- und Umgang mit Welt tiefgreifend verändert. Indem er die Unterschiede zwischen live musiziertem Original und technischer Kopie nivelliert, setzt er auch die Kausalität von Ursache und Wirkung, Urheber und Produkt außer Kraft: Willkommen im Fake-Zeitalter.

Klang und Licht: „Sensate Focus“

In „Sensate Focus“ für E-Gitarre, Bassklarinette, Schlagzeug, Violine, Live-Elektronik und Lichtanimation – vom Ensemble Plus Minus beim Huddersfield Contemporary Music Festival uraufgeführt – verwendet Schubert Licht als eigenständig komponierte Ebene. In einem nach Möglichkeit vollkommen abgedunkelten Saal werden die Musiker auf der stockfinsteren Bühne mit genügend Abstand nebeneinander gestellt. Mittels schräg über ihnen angebrachten LED-Scheinwerfern können sie jeweils einzeln beleuchtet werden, so dass die anderen im Dunkeln bleiben. Zudem sind die Instrumentalisten mikrophoniert, mittels Clicktrack koordiniert und durch ein USB-DMX-Interface mit dem Computerprogramm Ableton live set (Version 9 mit MAX4Live) verbunden. Ihre Spielgesten sowie stummen Aktionen (Drehungen, Tremoli, Einfrieren einer Pose et cetera) werden nur für den Moment ihres Einsatzes von den Scheinwerfern in helle Lichtkegel getaucht. Ferner steuern die Bewegungen der Musiker elektronische Zuspielungen und live-elektronische Verzerrungen, die über Lautsprecher und Subwoofer wiedergegeben werden, von denen der „Technical Rider“ ausdrücklich die Eignung „for a techno club and not for subtle amplification of chamber music“ verlangt.

Harte Akzente, Schlagfolgen, Stakkato-Repetitionen und Tremoli zeigen auch sonst, dass es Schuberts um Lautstärke, Energetik, Tempo und – so sein Werkkommentar und Leitmotiv – die Erkundung der „human-machine-relation“ geht. Besonders eindrücklich sind die Takte 421 bis 503. Eine Repetitionsfolge wird hier vierundsechzigmal wiederholt, um kontinuierlich ins ffff zu crescendieren und von Viertel = 65 zum für die Musiker unspielbaren Tempo Viertel = 999 zu accelerieren. Am Ende (ab Takt 507) scheint das Instrumentalspiel regelrecht zu explodieren. Wie zuvor ein E-Gitarren-Solo (Takte 175–181) notiert Schubert nur noch schwarze Blöcke, die den Musikern extremes Spiel signalisieren: „wild, loud, chaotic and hardcore playing as possible, not rhythmically.“ Einmal mehr in Schuberts Œuvre wendet sich In­stru­mental­spiel zur wilden Performance für den gesamten Körper und wird Musik zu einem immersiven Erlebnis am Rande eines Lärmtraumas.

Die Beleuchtung der Instrumentalisten dauert jeweils kaum länger als einige Zehntelsekunden und verkürzt sich zuweilen zu bloßen Stroboskop-Blitzen. Analog zum Wechsel hell-dunkel kommt es zu Interaktionen zwischen instrumentalen und elektronischen Klängen, deren extrem kurze Knacklaute und extrem lange Verhallungen außerdem Kontraste zwischen räumlicher Nähe und Ferne beziehungsweise engem und weitem Klangraum schaffen. Bestimmend für „Sensate Focus“ sind folglich vier Gestaltungsebenen: Licht, Klang, Akustik und Gestik, mit den Gegenpolen hell oder dunkel, instrumental oder elektronisch, trocken oder verhallt, mit oder ohne Instrument. Die einfache Parametrisierung hat gleichwohl komplexe audiovisuelle Kombinationen zur Folge. Zum Beispiel korrespondiert stummes Tremolieren mit elektronischem Rattern sowie ebenso raschen Lichtblitzen. Durch die strikte Parallelführung von Sehen und Hören entsteht – wie in der Dirigenten-Kadenz von „Point Ones“ – der Eindruck, nicht die Musiker würden die Elektronik steuern, sondern sie selbst seien ferngesteuerte Roboter oder medial animierte Artefakte eines digital programmierten Automatismus.

Mehrfach treten die Musiker zu gemeinsamen Schlagfolgen zusammen, die im Tutti accelerieren und ritardieren. Parallel beschleunigen und verlangsamen sich auch die über ihnen mit jedem Schlag aufgedrehten Lichtkegel. Während des extremen Accelerandos laufen die mit den Ensembleschlägen synchronisierten Scheinwerferblitze auseinander, da die Musiker mit dem beschleunigten Tempo irgendwann nicht mehr mithalten können. Die leicht versetzt aufstrahlenden Scheinwerfer erwecken den Eindruck, als würden die Lichtkegel quer über die Bühne zucken, so wie sich im Film die Speichen eines schnell rotierenden Wagenrads plötzlich rückwärts zu drehen scheinen. Am Ende von „Sensate Focus“ zittern die Musiker zum Spielsymbol mit Händen, Armen und ganzem Körper zu lautstark knisternder Elektronik, als stünden sie auf elektrischen Stühlen unter Hochspannung. Wenn endlich der Strom abgestellt wird, kippen alle mit den Oberkörpern wie tot vornüber. Das Stück endet als inszenierter Zusammenbruch der in die Maschinenwelt eingespannten Menschen – und zugleich mit der Verbeugung der Musiker für den Schlussapplaus.

1Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York: McGraw-Hill, 1964.

2Vergleiche Stefan Drees, Körper, Medien, Musik – Körper­diskurse in der Musik nach 1950, Hofheim: Wolke, 2011, 84.

3Jin Hyun Kim, Musik – Interface – Körper. Inszenierungen des Körperlichen in digitalen Musikpraxen, in: Neue Zeitschrift für Musik 4/2006, 4, 40.

4Vergleiche Regine Elzenheimer, „I want to be loud“ – Über die Grenzen von Musik und Körper. Eine polemische Selbstverteidigung, in: Musik & Ästhetik 79, Juli 2016, 90; und Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt: Suhrkamp, 2004.

5„Sound zeigt sich als ein offenes Phänomen, das nicht nur ,hörbar‘, sondern vielmehr umfassend ,erfahrbar‘ ist.“
Denis Leifeld, Beschreibung von Immersion. Sound in den Performances von Romeo Castellucci, in: Sound und Performance, herausgegeben von Wolf-Dieter Ernst, Nora Niethammer, Berenika Szymanski-Düll und Anno Mungen, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2015, 619.

6Katalog Wien Modern 2015, http://www.alexanderschubert.net/on/Alexander_Schubert_Shlomowitz_Wien_Modern.pdf, abgerufen am 22. April 2017.

7http://www.alexanderschubert.net/works/Point.php,
abgerufen am 11. Juli 2016.

8http://www.alexanderschubert.net/works/Hello.php,
abgerufen am 13. Juli 2016.

9Theodor W. Adorno, Die Kunst und die Künste, in: Derselbe, Ohne Leitbild – Parva Aesthetica, Frankfurt: Suhrkamp, 1967, 168–192.

10http://alexanderschubert.net/works/Star.php, abgerufen am 14. Juli 2016.

11http://www.alexanderschubert.net/works/Supramodal_­Parser/index.php, abgerufen am 13. Juli 2016.

12http://www.alexanderschubert.net/works/Scanners.php, abgerufen am 14. Juli 2016.