MusikTexte 154 – August 2017, 101

Die Musikgeschichte umschreiben

Heroines of Sound in Berlin

von Fabian Czolbe

Wer annahm, dass Komponistinnen elek­tronischer Musik lediglich aus Gründen der Genderdebatte besonderes Interesse beanspruchen, konnte sich in diesem Festival überzeugen, dass es längst überfällig ist, die lange Zeit kaum beachteten Pionierinnen der Gattung aufs Tableau zu stellen: In seinen vier Auflagen hat das Heroines-of-Sound-Festival inzwischen über achtzig Komponistinnen und Musikerinnen aus mehr als zwanzig Ländern und damit anders geartete Perspektiven im Rahmen elek­troakustischer oder elektronisch erweiterter Musik vorgestellt. Auch dieses Festival eröffnete nicht nur den Blick auf heutige Protagonistinnen, sondern verfolgte einmal mehr historische Linien: Nachdem bereits Komponistinnen wie Christine Groult, Bebe Barron, Else Marie Pade, Delia Derbyshire oder Daphne Oram im Fokus standen, rückten die Festivalmacherinnen in diesem Jahr die polnisch-französische Komponistin Elz.bieta Sikora ins Zentrum.

1943 in Lwow geboren, hatte sie zunächst in Warschau Tontechnik und Musik studiert, bevor sie Ende der Sechzigerjahre ans GRM nach Paris ging, wo sie bei ­Pierre Schaeffer und François Bayle ihre ersten elektroakustischen Arbeiten realisierte. Zwischen Paris und Warschau komponierte sie fast dreißig Werke, die ihr Œuvre um Computermusik, Musique concrète und Arbeiten für Instrumente und/oder Stimme mit Elektronik erweiterten. Das Festival brachte drei dieser Arbeiten zu Gehör: „Flashback, hommage à Pierre Schaeffer“ (1996) war, dem Titel entsprechend, eine Mehrkanalkomposition mit klaren Referenzen an die Musique con­crète; „Chicago al fresco“ (2009) nahm diesen Strang auf, erwies sich aber als klare, zum Teil humorvoll narrative Soundscape-Komposition; „Reflets irisés“ (2013) ließ abschließend einen expressiv funkelnden, atonalen Klavierpart erklingen, der fragmentiert und zusammen mit anderen Klängen von der Elektronik aufgegriffen wurde, so dass ein farbenreiches Zwiegespräch hörbar wurde.

Neben Elz.bieta Sikora lag der Schwerpunkt auf drei weiteren 1973, 1977 und 1982 geborenen Komponistinnen aus Polen: Joanna Wozny, Katarzyna Głowicka und Jagoda Szmytka. Letztere ist für ihre Cross-Genre-Arbeiten bekannt und bildete den wohl schärfsten Kontrast zur Grande Dame Sikora. Szmytkas „Gameboy“ (2014) verwickelt sich zwischen typischen Gameboy-Sounds, Stimmvocodern, O-Tönen und visuellen Referenzen an Joseph Beuys, David Lynch und Freddy Mercury in eine multimediale Bühnencollage, die nach Verbindungen von Kunst und Leben sucht und zugleich die Kommunikationsmuster der Digital Natives zur Diskussion stellt. Katarzyna Głowicka stellte mit „Sun Spot“ (2013) eine reibungsarme Verbindung von zeitgenössischer Klassik, Ambient und Minimal Music vor. Die DJ-Künstlerin Electric Indigo, die sowohl Mehrkanalmusik für den Konzertsaal als auch Technosets für den Dancefloor produziert, richtete Auge und Ohr auf „Tol­kowsky’s Refraction“, einen vom Festival vergebenen Kompositionsauftrag. Die auf dem Modell eines idealen Diamantenschliffs des belgischen Mathematikers Marcel Tolkowsky beruhende Arbeit hinterließ jedoch eher den Eindruck eines „Rohdiamanten“, der zumindest durch seine körperlich-räum­liche Dimension überzeugen konnte.

Das ensemble mosaik brachte neben der lyrisch mechanischen Klangmikroskopie in Lisa Streichs „Zucker“ und Oxana Omelchuks „Staahaadler Aff“ – ein zum digitalen Orchestrion expandierter Perkussionist – auch die erratischen Klangtransformationen in Joanna Woznys „like little … sunderings“ bravourös auf die Bühne. Im Anschluss daran war Marisol Jiménez’ Klang-Skulptur-Konzert­installation „Yiríya áiteiyá“ zu bestaunen, die ein Resonanzfeld zwischen unperiodisch frei schwingenden Metallsaiten der Skulptur und warmen Streicherklängen hervorbrachte. Iris ter Schiphorsts „Some­times II“, ein weiteres Auftragswerk des Festivals, erwies sich als eine augenzwinkernde, orchestral und rhythmisch klar strukturierte Hommage an Bess McNeill, die Protagonistin aus Lars von Triers Film „Breaking the Waves“.

Was bereits die multimedialen Arbeiten in den Konzerten ankündigten, fand im Begleitprogramm des Festivals Raum: Neben Filmporträts unter anderem von Maryanne Amacher und Éliane Radigue waren audiovisuelle Arbeiten von Zorka Wollny und Noa Gur zu hören und zu sehen. Das Spätabendprogramm elektrisierte durch Live-Performances zwischen Pop, elektronischer Tanzmusik und audiovisuellem Experiment mit Künstlerinnen wie Heidi Mortenson, Jasmine Guffond oder Pilocka Krach.

Umrahmt wurde das Festival von einem Diskursprogramm, das unter anderem die Situation polnischer Komponistinnen thematisierte. Dabei entstand das Bild einer facettenreichen Szene, die aufgrund der Internationalisierung allerdings kaum mehr aktive Künstlerinnen vor Ort aufbieten kann. Zu Wort kamen mit Elz.bieta Sikora und Katarzyna Gło­wicka verschiedene Generationen, die von ihren ganz persönlichen Geschichten und musikalischen Wegen erzählten. Sikora bot dabei einen Blick auf die Arbeit in der Komponistengruppe KEW im Polen der Siebzigerjahre und die Unwägbarkeiten, denen eine jungen Frau damals in den Studios für elektronische Musik in Warschau und Paris begegnete. Auf einem dritten Podium diskutierten Künstlerinnen (, Alessandra Eramo) und Wissenschaftlerinnen (Jin Hyun Kim, Sabine Sanio, Julia H. Schröder) die Potentiale der Performativitäts- und Embodimentforschung im Hinblick auf den Körperdiskurs in der elektroakustischen Musik.

Was bleibt von den Heroinen? Sicherlich, dass sie wohl allesamt nicht als Heldinnen, sondern vielmehr als eigenständige Künstlerinnen wahrgenommen werden wollen. Interessant ist, dass sich gerade Komponistinnen bestimmten Schulen eher entziehen und neben kleinen kollektiven Künstlergruppen internationale Netzwerke aufbauen. In Hinsicht auf die kompositorische Arbeit fällt vor allem die ästhetische Breite auf: Im Zen­trum der Werkkontexte stehen neben der Körperlichkeit oftmals gesellschaftliche Phänomene. Daneben verfügen viele Künstlerinnen über ein Werkspektrum, das von Pop bis zu avanciert experimenteller Kunstmusik reicht. Gerade jüngere Komponistinnengenerationen überzeugen dabei mit ihren progressiven, konzeptuellen oder gesellschaftskritischen Ansätzen.

Auf diese Seite elektronischer Musik aufmerksam zu machen, ist den drei Kuratorinnen Bettina Wackernagel, Mo Loscheider und Sabine Sanio mit diesem Festival wieder einmal gelungen. Durch historische Rückblicke konnten sie aufzeigen, wohin die Wurzeln der aktuelle Musikszene reichen und wie Komponistinnen bereits seit Jahrzehnten ihren Beitrag zum ästhetischen Diskurs leisten, so dass die Musikgeschichte dringend umzuschreiben ist.