MusikTexte 155 – November 2017, 42–46

Griffe, Klänge, historische Flöten

Luigi Nonos „A Pierre ...“ aus der Sicht des Flötisten

von Daniel Agi

1985, anlässlich von Pierre Boulez’ sechzigstem Geburtstag, schrieb Luigi Nono „A Pierre. Dell’azzurro silenzio, inquietum“ für Kontra-Altflöte, Kontrabassklarinette und Elektronik. Ruhig, extrem nuanciert in der Dynamik, besonders im Piano, und mit einem langsamen Aufbau zu einem Forte-Höhepunkt ist es für Nonos Spätwerk charakteristisch.

Aus der Sicht des Interpreten ist ein weiteres Charakteristikum der Stücke, die Nono in dieser Zeit schrieb, dass der Notentext mit einigen wichtigen Informationen sparsam umgeht. So finden sich keine Griffe für die ausgiebig genutzten Mehrklänge. Zudem sind die Angaben zu der von Nono für das Stück vorgesehenen Flöte nicht eindeutig.

In diesem Artikel möchte ich „A Pierre ...“ aus der Sicht des Flötisten betrachten. Dabei soll, neben einigen wenigen Fragen zur Klangerzeugung, die Frage nach dem richtigen Instrument geklärt werden, die die Partitur offen lässt. Ich diskutiere die Verwendung der Bassflöte als Alternative zu der von Nono vorgesehenen Flöte und schließe mit einem kommentierten Verzeichnis der im Stück vorkommenden Mehrklänge für beide Instrumente.

Verwirrspiel

„A Pierre …“ wurde am 31. März 1985 in Baden-Baden uraufgeführt. Die Interpreten waren der für Nonos Werk zentrale Flötist Roberto Fabbriciani, der Klarinettist Ciro Scarponi und das Experimentalstudio des SWR, damals noch Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWF. Passend zum Anlass seiner Entstehung besteht das Werk aus sechzig Takten. Es ist Zeugnis des gegenseitigen Respekts sowie der Freundschaft, die Nono und Boulez zunächst verband, aber auch des Konflikts zwischen zwei sehr unterschiedlichen Komponisten der Musik nach 1945.

Eine Anekdote erzählt, dass Nono „A Pierre …“ absichtlich als Verwirrspiel angelegt habe. Boulez sollte nichts von dem verstehen, was in dem Stück vor sich ging. Dabei ist anzunehmen, dass Nono in seinem Vorhaben erfolgreich war. Um dies nachzuvollziehen, empfehle ich den Versuch, das Stück zu hören und gleichzeitig die Partitur zu lesen.

Die angesprochene Verwirrung entsteht dadurch, dass zunächst die verstärkten Signale der beiden Interpreten an einen Lautsprecher neben dem jeweils anderen Spieler gesendet werden. Zudem erklingt das Gespielte durch zwei Delays noch einmal mit zwölf und vierundzwanzig Sekunden Verzögerung sowie durch eine Vierkanalanlage verräumlicht.1 Die ausgiebig genutzten Luftgeräusche sowie die durch Register und Dynamik bedingte klangliche Ähnlichkeit der Instrumente an vielen Stellen2 tragen zur weiteren Verschleierung des Geschehens bei.

Dabei entsteht ein permanent changierendes Klangband, bei dem häufig weder zwischen Flöte und Klarinette noch zwischen live Gespieltem und Delay unterschieden werden kann. Auf der visuellen Ebene wird dieser Effekt durch die folgende Anweisung im Vorwort zur Partitur verstärkt: „Die Interpreten sollen […] den Kontakt zu ihrem Instrument ständig beibehalten, d. h. das Mundstück nicht aus dem Mund nehmen. Dies auch während längerer Pausen oder Fermaten, in denen die elektronischen Klänge weiterklingen.“3

In Bezug auf die für „A Pierre ...“ benötigte Flöte verwendet die Partitur mit „Kontrabassflöte in G“4 einen Begriff, der sich zwar auch anderweitig in der Literatur findet, aber nicht zutreffend ist. Die korrekte Bezeichnung für das fragliche Instrument ist Sub- oder Großbassflöte. Diese Flöte steht in G und klingt eine Oktave tiefer als die Altflöte. Zur Entstehungszeit von „A Pierre …“ wurde sie von Christian Jäger entwickelt und gebaut. Jäger war damals Leiter der Holzblasinstrumentenwerkstatt des Musikgeschäfts Hieber in München und Pionier auf dem Gebiet tiefer Flöten jenseits der Bassflöte. Roberto Fab­briciani kaufte sich eine solche Flöte und führte sie Luigi Nono, Peter Haller vom Experimentalstudio des SWF und dem Klarinettisten Ciro Scarponi vor.5 Offensichtlich gefiel Nono das Instrument. Nach diesem ersten Kennenlernen und Experimentieren schrieb er noch am selben Tag die ersten Takte von „A Pierre ...“, die einen Tag später ausprobiert wurden.

Laut Werkstattbuch von Max Hieber baute Christian ­Jäger zwischen 1982 und 1997 dreiundzwanzig solche Flöten, davon eine mit einem Rohrdurchmesser von 29 mm, achtzehn mit 34 mm und vier mit einem Rohrdurchmesser von 43 mm. Die beiden eng dimensionierten Modelle sind wie die Bassflöte gebogen und werden waagerecht gehalten. Das weiter dimensionierte wäre durch seinen Rohrdurchmesser von 43 mm und dem daraus resultierenden hohen Gewicht so nicht spielbar. Jäger konstruierte es daher senkrecht und auf einem Stachel stehend. Neben Gewicht und Ausrichtung der Instrumente bestimmt der Rohrdurchmesser aber auch die klanglichen Eigenschaften und den Ambitus. So sind die engen Flöten in der tiefen Lage schwach und haben eine lange Einschwingzeit. In höheren Lagen sind sie extrem flexibel und auch in der dritten Oktave noch sehr leicht zu überblasen. Mehrklänge und Übergänge zwischen Ton und Luft lassen sich sehr gut auf ihnen spielen. Genau diese Eigenschaft nutzt Nono in „A Pierre ...“, indem er beispielsweise den siebten Oberton über d’ im pppp, oder den Mehrklang a’’’-es’’’’ im ppp verlangt.6

Die weitdimensionierten 43-mm-Flöten haben hingegen eine deutlich kräftigere Tiefe als die engeren Modelle. Gleichzeitig sind sie nur in der unteren Hälfte der zweiten Oktave leicht zu überblasen, und ihr Ambitus ist nach oben hin kleiner. Mit viel Luft und im Fortissimo lässt sich auf ihnen als höchster Ton b’’’ erreichen, während auf der 29-mm-Flöte, die ich gespielt habe, auch ein g’’’’ noch leicht anspricht. Die 43-mm-Flöten wurden zudem ohne Trillerklappen hergestellt, was die Suche nach Griffen für Mehrklänge zusätzlich erschwert. Sie sind damit für Nonos Stück nicht geeignet.

Gleiches gilt für die Nachfolger der Groß- beziehungsweise Subbassflöten Jägers, die Kontra-Altflöten oder contr’alto flutes, wie sie etwa von Eva Kingma, Jelle Hogenhuis und Michael Lederer hergestellt werden. Wie die Subbassflöten klingen sie eine Oktave tiefer als die Altflöte. Sie werden allerdings durchweg mit einem Rohrdurchmesser von etwa 43 mm hergestellt und sind aufgrund der daraus resultierenden Eigenschaften in Dynamik und Ambitus für „A Pierre ...“ nicht geeignet.

Michael Lederer sagte mir allerdings, dass er vorhabe, ein engeres Instrument zu bauen. Damit könnte sich natürlich wieder eine ganz andere Situation ergeben.

Zur Zeit ist die richtige Flöte für „A Pierre ...“ also eine Groß- beziehungsweise Subbassflöte von Christian Jäger mit einem Rohrdurchmesser von 29 oder 34 mm, in der Folge Jäger-Flöte genannt. Jäger baute neunzehn in Frage kommende Instrumente. Ein solches zu bekommen, ist daher nicht einfach. Nonos Stück ist aber sehr schön. Abgesehen von der Frage der Flöte und verglichen mit anderen seiner Werke mit Flöte ist es auch nicht besonders schwer zu realisieren. Es wäre schade, darauf verzichten zu müssen, nur weil das Instrument selten ist. Damit drängt sich die Frage nach einer Alternative zur Jäger-Flöte auf.

Die Bassflöte als Alternative

Nachdem ich zunächst keine enge Jäger-Flöte finden konnte und gehört hatte, dass das Werk auch schon auf der Bassflöte aufgeführt worden ist, habe ich begonnen, eine Version für meine Bassflöte (Eva Kingma, Rohrdurchmesser zirka 38 mm, drei Ringklappen) zu erstellen. Meine Erfahrung mit dieser Version im Vergleich zu jener für die Jäger-Flöte war, dass bei der Bassflöte Luft und Ton nicht ganz so schön verschmelzen. Sie klingt in der Mittellage klarer als die Jäger-Flöte, ist dafür aber an den sehr hohen Stellen (besonders in den Takten 23–24 und 57–60), an denen die Jäger-Flöte noch leicht und elegant klingt, schwerer zu spielen und daher geräuschhafter.7

Der große Vorteil meiner Bassflöte ist aber, dass sie für vierundzwanzig der fünfundzwanzig im Stück vorkommenden Mehrklänge recht gute Griffe bietet. Stellen mit exponierten Mehrklängen, etwa in den Takten 4 und 8 sowie 36 bis 37, klingen damit auf der Bassflöte überzeugender als auf der Jäger-Flöte, für die ich streng genommen nur siebzehn gute Griffe gefunden habe. In acht Fällen musste ich mich darauf also mit ziemlich approximativen Lösungen begnügen.8

Diese Erfahrungen und die Aufnahmen, die ich von beiden Versionen gemacht habe, führen mich zu dem Schluss, dass die Jäger-Flöte zwar klar benennbare Eigenschaften hat, die sie für dieses Stück überzeugender machen. Die klanglichen Unterschiede zwischen beiden Flöten bewegen sich aber in einem vertretbaren Rahmen, und die Bassflöte bietet die Möglichkeit, die Mehrklänge genauer zu spielen. So erscheint sie als eine durchaus brauchbare Alternative zur Jäger-Flöte.

Nach der Entscheidung für eine Flöte ist die nächste Aufgabe bei der Erarbeitung von „A Pierre ...“, einen Zugang zur besonderen Klangwelt des Stücks zu finden. Das Vorwort zur Partitur gibt einige wichtige Hinweise zur klanglichen Gestaltung, und schon der Titel regt die Vorstellungskraft an: „Für Pierre. Aus blauer Stille, ruhelos.“ Komponierte Stille und Verstummen kehren im Verlauf des Stücks immer wieder. Dennoch und trotz des sehr langsamen Tempos sowie der größtenteils langen Noten leuchten immer wieder kurze Klangereignisse auf, die wo­möglich die von Nono beschriebene Ruhelosigkeit erzeugen. Es ist sehr viel Luftgeräusch gefragt, auch an den Stellen, wo es nicht explizit notiert ist. Die Mehrklänge sollen fragil und brüchig sein. Meine Erfahrung ist, dass es besser ist, Nebenluft sowie Fragilität als Konsequenz der extremen Dynamiken des Stücks entstehen zu lassen und dann mit diesen Klangeigenschaften zu spielen, als sie bewusst zu erzeugen. Das Ergebnis wirkt dann natür­licher. Die Whistle­tones in Takt 6 und 7 sollten mit Luft unterlegt sein.9 Das Pfeifen, das im Stück immer wieder vorkommt, ist so notiert, als müsse es durchweg gleichzeitig mit dem Flötenton erklingen. Das geht allerdings nur an wenigen Stellen, zum Beispiel im Takt 8. Selbst dort ist kein kontinuierlicher Zweiklang erwünscht. Gemeint ist vielmehr ein changierender Klang, der zwischen Ton, Luftgeräusch und Pfeifen pendelt. Das zu erfahren, hat mich sehr beruhigt, zum Beispiel in Bezug auf Takt 52 oder 44, wo es vollends unmöglich ist, beides gleichzeitig zu machen. Es ist aber wichtig, schöne Übergänge zwischen den einzelnen Techniken zu gestalten.10

Die Technik des gleichzeitigen Pfeifens und Spielens hatte Nono bereits in „Das atmende Klarsein“ verwendet. Auf der Lehr-DVD, die den Noten zu diesem Werk bei­liegt,11 ist zu erkennen, dass Roberto Fabbriciani durch die Zähne pfeift. Ich pfeife stattdessen durch die Lippen. Diese Technik bringt einen ähnlichen Klang hervor. Außerdem ist die Lippenstellung für diese Art Pfeifen näher am Flötenansatz, so dass sich Übergänge zwischen Flötenton und Pfeifen leichter gestalten lassen.

In Bezug auf die Mehrklänge ist folgender Satz des Vorworts interessant: „... die Teiltöne der Doppel- und Mehrklänge [können] intermittierend, abwechselnd und gleichzeitig gespielt werden.“12 Auf der mir vorliegenden Aufnahme13 kann man dies zum Beispiel ab 038 (Takt 4) nachvollziehen. Hier spielt Fabbriciani die beiden Töne des Mehrklangs abwechselnd nacheinander.

Griffe für Mehrklänge

Im Folgenden möchte ich die Mehrklänge auflisten, die ich für Bass- und Jäger-Flöte zusammengestellt habe. Besonders in der Version für die Jäger-Flöte musste ich trotz intensiver Suche einige der verlangten Intervalle, beispielsweise die Nonen und Septimen, durch andere, ähnliche ersetzen. In der Regel ist dann wenigstens einer der beiden Töne richtig, und das resultierende Intervall hat eine ähnliche Reibung wie das notierte. Solche Mehrklänge sind mit Anmerkungen versehen.

Die Flötistin Maruta Staravoitava, die mit Fabbriciani an Nonos Flötenstück gearbeitet hat, berichtete mir, dass dies dabei gängige Praxis sei. Ich würde mich sehr freuen, wenn diese Liste fortgesetzt würde. Kolleginnen und Kollegen, die alternative Griffe finden, können sich gerne an mich (info@daniel-agi.de) wenden.

Die Angaben zu den Tonhöhen sind auf 25 Cent gerundet. Intonation und Spielbarkeit können selbstverständlich von Spieler zu Spieler und von Flöte zu Flöte variieren. Die Mehrklänge, die auf den Standardgriffen der ersten Oktave basieren (normale Doppelflageoletts wie zum Beispiel in Takt 1), habe ich in der Auflistung weggelassen. Alle angegebenen Tonhöhen beziehen sich auf die Griffe, sie klingen also, dem Instrument entsprechend, tiefer.

Grifftabelle

1 Vorwort zur Partitur, Universal Music Publishing Casa Ricordi, ISMN M-041-33943-1. In der beschriebenen Verräumlichung ist auch der Zusammenhang mit der Angabe „a più cori“ im Untertitel des Stücks zu finden. Nono verweist auf die venezianische Mehrchörigkeit des sechzehnten Jahrhunderts. Vertreter dieser Praxis, wie etwa Giovanni Gabrieli, verteilten im Dom San Marco mehrere Ensembles um die Gemeinde und machten so den Raum zu einem Parameter der Komposition.

2 Zum Beispiel Takt 2, Takt 9 auf Zählzeit 3, Takt 16, et cetera.

3 André Richard und Marco Mazzolini im Vorwort zur Partitur, XXII.

4 Vorwort zu Partitur, beispielsweise IV und XVII.

5 Quelle: www.hp-haller.homepage.t-online.de/venedig.html. Auch hier wird der irreführende Begriff „Kontrabassflöte“ verwendet.

6 Alle Tonangaben sind im Text, analog zur Partitur, eine Oktave und eine Quart höher als klingend angegeben.

7 Interessant wäre es, diese Stellen auf einer engeren Bassflöte auszuprobieren. Vielleicht wäre diese wieder näher am Klang der Jäger-Flöte.

8 Vergleiche Tabelle: Griffe und Anmerkungen, zum Beispiel zu den Takten 36 und 38 sowie 46.

9 Diese und die nächste Information verdanke ich der Zusammenarbeit mit Joachim Haas vom Experimentalstudio des SWR. Haas hat seinerseits sowohl mit André Richard als auch mit Roberto Fabbriciani an „A Pierre ...“ gearbeitet.

10 Vergleiche Seite XXII des Vorworts, dritter Absatz des Texts.

11 Ricordi Milano, ISMN M-041-39378-0.

12 Vorwort, XXII.

13 NEOS 11122CD, Roberto Fabbriciani, Flöte; Ernesto Molinari, Klarinette; Experimentalstudio des SWR.