MusikTexte 155 – November 2017, 98

Kernkraft, Kynik, Kunst und Kollaps

„Kein Licht“ von Philippe Manoury und Elfriede Jelinek in Duisburg

von Rainer Nonnenmann

Das erste und letzte „Wort“ hat ein dressierter Hund, hopsend, jaulend und Frauchen treuherzig anblickend. Ein ganz süßer Glatthaar-Foxterrier, und zugleich vielmehr. Im Kontext von Philippe Manourys jüngstem Musiktheater „Kein Licht“ lässt sich das Winseln nicht nur situativ als „Tier will Leckerli“ verstehen, sondern bereits als Musik, zumal im Verbund mit Elektronik, schnatternder Trompete sowie ähnlich schluchzenden Geigen und Singstimmen. In Bezug auf den Zynismus von Elfriede Jelineks gleichnamigem Theaterstück – das 2011 als Reflex auf die Reaktorkatastrophe von Fukushima entstand und 2012 um einen „Epilog“ ergänzt wurde – dient der Hund auch als Bindeglied zur antiken Philosophie des Kynismus à la Diogenes, der sein Zurück zu einfachem Leben in Armut und Einklang mit der Natur exem­plarisch in einer Tonne vorlebte und dem Welteroberer Alexander entgegensetzte. Von den Zeitgenossen wurde der nackte Weise daher als hündisch beziehungsweise als Kyniker verachtet.

Die als Uraufführung bei der Ruhrtriennale präsentierte Produktion erwies sich als kongeniale Zusammenarbeit des 1952 geborenen Komponisten mit der Literaturnobelpreisträgerin von 2004 und dem seit zehn Jahren mit Jelinek-Inszenierungen international erfolgreichen Regisseur Nicolas Stemann. Von der japanischen Nuklearkatastrophe ausgehend handelt das Stück von den Ursachen und Gefahren der Atomkraft: „Vielleicht haben wir uns da etwas angeschafft, was uns jetzt alle abschafft?“ Alle wollen wir gut und bequem leben, warm, gemütlich, mit Wasser, Licht, Herd, Fernseher, Handy, ICE, demnächst auch mehr Elektromobilität. Nicht zuletzt dafür gibt es Atomstrom, dessen Risiken die High-Tech-Society als notwendigen Tribut in Kauf nimmt. Statt drückender Katastrophenstimmung herrschte auf der Theaterbühne zunächst ausgelassene Feierlaune. Text, Musik, Regie und Bühnentechnik schöpften aus vollen Zügen, Rohren, Drähten, Lampen. Man zelebriert eine Orgie der Verschwendung, bunt, grell, tempo- und aktionsreich: Der dro­hende Untergang als Mordsgaudi!

Manoury lässt Elektronik durch den Raum sirren und das Luxemburger Ensemble United Instruments of Lucilin unter Leitung von Julien Leroy immer wieder zu Rasereien hochdrehen. Die Sängerinnen Christina Daletska, Sarah Sun, Olivia Vermeulen und Bariton Lionel Peintre heulen wie Hunde oder legen weitgeschwungene Opernkantilenen über das turbulente Treiben. Videokünstlerin Claudia Lehmann verzerrt dokumentarische Schwarz-Weiß-Bilder zu bunten Comics. Von der Decke prasseln leuchtende Plastikbälle wie glühende Elementarteilchen, und aus einem schwarzen Kindersarg zwängt sich die kleine Gliederpuppe „Atomi“, die einfach keine Ruhe geben will: „Atomi, ich zähl jetzt bis drei, dann ist Ausstieg! Sonst sind wir morgen wieder total verstrahlt.“ Die Schauspieler Caroline Peters und Niels Bormann agieren in bodenlangen Pailletten-Kleidern wie heißlaufende Sprechmaschinen. In typischem Jelinek-Stil produzieren sie durch Abwandlung von Wortmaterial wie zufällig Paradoxa, Pointen, Kalauer und Anspielungen auf Musik. Es sind Alter Egos der Autorin, die ihr eigenes Schreiben als einen „Akt der Rage“ erlebt und statt an Sätzen zu feilen von sich selber sagt: „Ich fetz halt rum.“

Manourys Musik ist für diese Logorrhoe und Konsumfurie prädestiniert. In seinen effektvollen Orchesterwerken und hochvirtuosen Instrumentalkonzerten ver­heizt er serienweise traditionelle Spielgesten, Rhythmen, Figuren, Instrumentationstopoi, in klar festgelegten Formverläufen, ernst, pathetisch und bar jeder Ironie. Mit „Kein Licht“ schrieb er jedoch etwas in Hinsicht auf Form und Material anderes. Zum einen schuf er kein stringentes Werkganzes, sondern einunddreißig dem Text und der Inszenierung mehr oder minder variabel anpassbare Module, das heißt, sowohl rein instrumentale Passagen als auch Textvertonungen und klangliche Fermaten zu bestimmten Text­stellen. Zum anderen wissen diese Module um ihren Materialverbrauch und demonstrieren diesen stellenweise durch malstromartig rotierende Frenesien. Außerdem tritt der Komponist selber mit Kurzvorträgen in Erscheinung, um beispielsweise zu erklären, er habe Teile der Elektronik gar nicht selbst komponiert, sondern mittels Markow-Ketten eine Musikmaschine geschaffen, die gemäß stochastischer Prinzipien unendliche Tonketten produziert und nur gestoppt werden könne, wenn man Algorithmus, Computer oder Verstärker abschaltet.

Statt die Apokalypse wie im Blockbuster-Kino als saftiges Showbizz zu illus­trieren, legt Manourys Musik im Gleichklang mit Text und Regie den perversen Verschleiß von Ressourcen bloß. Der zur Agonie gesteigerte Betrieb auf der Bühne weiß um den eigenen Leerlauf und liefert damit ein Gleichnis für das alltägliche Geschiebe und Gerede ohne rettenden Gedanken. Eine andere Refle­xionsebene pro­vozieren auch die ständigen Wechsel zwischen Singen und Sprechen sowie die Dop­pelrollen der Schauspieler, die sowohl handelnde Bühnenfiguren sind als auch das Geschehen beobachtende Kommentatoren und das Publikum direkt ansprechende Dialogpartner. Manoury prägte daher das anglogermanische Hybrid­genre „Thinkspiel“. Bei fehlerhafter englischer Aussprache wird daraus das traditionelle „Singspiel“, wobei schon der prognostizierte Untergang vom „Sinkspiel“ des Homo sapiens anklingt. Die Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord, von wo aus einst große Turbinen Unmengen Heißluft durch Hochöfen pumpten, bildete als leeres Industriedenkmal einen allegorischen Rahmen für den im Text paro­dierten Ausstieg Deutschlands aus der Atomindustrie.

Auf dem Kulminationspunkt brechen schließlich wie bei Tsunami und Supergau alle Dämme. Aus Kanistern und Rohren flutet giftgrünes Wasser auf die Bühne. Die Protagonisten aber machen fröhlich Selfies von sich und den aufschießenden Fontänen: Seht her, wir ertrinken und waren sogar live dabei! Auch als die strahlende Lauge schon knöcheltief steht, weiß man sich mit Gummistiefeln noch einzurichten und dem Debakel in Ganzkörperschwimmreifen spaßige Facetten abzugewinnen. Erst als es zum Kurzschluss kommt und alle Sicherungen durchbrennen, wird im letzten Teil „Hello Darkness“ die gemäß Hitchcocks Suspense-Prinzip von vorneherein geschürte Befürchtung wahr: „Kein Licht“. Unter dürftig zusammengeklaubtem Kerzenschein folgen Jelineks erst 2017 formulierte, kursorische und – weil von den Schauspielern bloß abgelesen – ermüdend wirkende Auslassungen „Der Einzige, sein Eigentum“ zu Donald Trump und dessen Vorstellungen von Klima, Kohle, Kernkraft und Atomwaffen. Nach zweieinviertel Stunden heißt es dann: „Dieses Stück ist jetzt zu Ende, irgendetwas werden wir schon gelernt haben“, als bestünde noch Hoffnung auf eine Katharsis des Menschen. Doch zum Schluss verhallt die zynische, nein kynische Tragikomödie in erneutem Hundegebell.