MusikTexte 155 – November 2017, 93–94

Pardon wird nicht gegeben

Ein-, Aus- und Übergriffe bei den Donaueschinger Musiktagen

von Rainer Nonnenmann

Breite verbürgt keine Tiefe, und Vielfalt schützt nicht vor Einfalt. Doch Diversität ist unerlässlich, um zumindest ausschnittsweise das aktuelle Musikschaffen zu spiegeln. Das erstmalig komplett von Björn Gottstein verantwortete Programm der Donaueschinger Musiktage bot ein großes Spektrum verschiedenster Ansätze, Stilistiken, Produktions- und Präsentationsformen. Unterschiedlichste Positionen prallten zuweilen auch in ein und demselben Konzert aufeinander.

Den Anfang machte im ersten Konzert des SWR Symphonieorchesters unter Leitung von Ilan Volkov „The News in Music (Tabloid Lament)“ von Thomas Meadowcroft. Der in Berlin lebende Australier knüpfte neosymphonische Jingles aneinander, wie sie auf BBC, CNN, ARD, ZDF oder RTL eingesetzt werden, um Sendungen und Nachrichten einzuläuten. Meadowcroft jedoch streckte die Pene­tranz der nur wenige Sekunden dauernden Gebrauchsformeln auf viertelstündige Permanenz. Die kurzen Fragmente sind knackig, kraftvoll, strahlend, mit chronischem Zug zu Fanfare, Marsch und mitreißendem Rhythmus, mit dem man mit muss. Der Bombast animiert zu guter Laune und lässt dann auch den Hörer die von angenehmen Stimmen verkündeten News als leichte Unterhaltung konsumieren. Hätte Meadowcroft seine Fetzen einzeln an Sender verkauft, er wäre Millio­när. So jedoch demonstriert er die manipulative Macht von Musik und Medien, die er zugleich durch unerbittliche Verkettung der Jingles zu demontieren sucht. Solch subversive Affirmation, wie sie gegenwärtig etliche Künstler intendieren, mündet jedoch in blanke Reproduktion des Bestehenden. Meadowcrofts Anspruch scheitert und sein Stück gewinnt diagnostischen Wert nur durch die Ostentation der gesellschaftlichen Zweckgebundenheit von Musik. Von künstlerischer Ohnmacht und Selbstaufgabe zeugte vor allem der Schlussteil. Als Lamento über den Verlust autonomer Kunstmusik gemeint, wirken die sanft schwebenden Klangwellen bloß als auditiv verabreichter Tranquilizer: ready to chill! Musik hat entweder agitierend oder sedierend zu wirken. Dazwischen wird ihr kein Pardon gegeben.

Der norwegische Komponist Øyvind Torvund ließ in „Archaic Jam“ das Orchester zugespielte Sounds aus Games, Elektronik, Radio und von einer E-Gitarre imitieren. Die Unverhältnismäßigkeit der für solches Mickey-Mousing aufgewendeten Mittel wirkte albern und gab den Orchesterapparat der Lächerlichkeit preis. Bloß begleitend agierte das Orchester in Bernhard Langs „…loops for Davis“. Als Material für das achtundzwanzigste Stück seiner seit 1998 betriebenen DW-Serie bediente sich Lang der Energetik und Präsenz des phantastischen Bassklarinettisten Gareth Davis. Im Übrigen zog er einmal mehr Jazz, Beats, Drones, Tonalität, Melodik und lautstarken Noise durch seinen eklektischen Mixer. Dagegen entwickelte Andreas Dohmen sein „a doppio movimento“ aus den spezifischen Spiel- und Klangmöglichkeiten der drei Soloin­strumente Gitarre, Harfe und Klavier. Indem er die Solisten Yaron Deutsch, Andreas Mildner und Nicolas Hodges die Eigenschaften ihrer Saiteninstrumente ausloten ließ, schuf er eine ebenso materialgerechte wie eigenständige Klangwelt. Von Instrument zu Instrument verursachten Dämpfungen, Verzerrungen, Flageoletts, Ausklänge, Pedalisierungen und perkussive Zugriffe verwandte und doch stets andere Klangresultate. Zum Schluss rief der Harfenist durch ruckartiges Treten der Umstimmpedale – die der Werktitel benennt – feines Sirren hervor.

Einheit von Material, Form und Ausdruck erreichte auch Martón Illés’ „Ez-tér“. Vom Streichquartett aus wanderten sprachähnliche Intonationskurven zuerst ins Streichertutti und dann in alle Orchestergruppen, wo sie entsprechend klanglich und expressiv verformt wurden, etwa im kompletten Hörnersatz oder auf der Pauke. Sämtliche Mutationen zwischen wildem Tutti-Glissando und finalem Flexaton-Wimmern zeigten den 1975 in Budapest geborenen Komponisten einmal mehr als brillanten Instrumentator, der für sein im Abschlusskonzert des SWR Orchesters unter Leitung von Pablo Rus Broseta gespieltes Stück auch den erstmalig vom fusionierten SWR Orchester vergebenen Preis erhielt. Dünne Medi­tationsmusik lieferte dagegen Bunita Marcus mit „White Butterflies“. Harten Metallschlägen folgten weiche Klangwolken, welche die Chakren und Auren der Hörer sympathetisch schwingen lassen sollten. Nichtssagend blieb auch Chaya Czernowins „Guardian“ für Violoncello und Orchester. Eine halbe Stunde lang tastete sich Solistin Séverine Ballon durch leiseste Striche, tonlose Spizzikati und Battuti: Reduktion ohne Intensität. Während der Aufführung von Diego Grossmanns „æquilibrium“ bestiegen plötzlich fünfzehn Leute das Podium, um sich vor dem Orchester aufzubauen und stumm ins Publikum zu blicken. Die Intervention war geplant und stammte aus Bill Dietz’ „L’école de la claque“.

In dieser Schule für Claqueure wurden freiwillige Teilnehmer darüber unterrichtet, wie sich das Publikum – sofern durch Mitschnitte, Text- oder Bildquellen überliefert – bei früheren Donaueschinger oder sonstigen Aufführungen verhalten hatte. Eben diese Reaktionen wurden dann dem anschließenden aktuellen Donaueschinger Konzert als Performance implantiert: Die Mitwirkenden standen während einer Aufführung plötzlich auf, wandten sich vom Orchester ab und lasen etwas; nach Meadowcrofts Stück wurde lauthals gebuht; im Konzert der Musikfabrik wurden Ensemble und Komponisten mit Blumen überschüttet; bei Emmanuel Nunes wurde penetrant gehustet; während Dohmens Stück verließen zwanzig Menschen demonstrativ den Saal; und mit Grossmann präsentierte das Orchester sogar das Pseudo-Stück eines Komponisten-Pseudonyms mit fiktiver Kurzbiographie. Aktionen des üblicherweise nicht in Erscheinung tretenden großen Unbekannten – des Publikums – zu veröffentlichen, kann durchaus aufschlussreich sein. Doch sollte dies in einer separaten Dokumentation geschehen und nicht als Reenactment in direktem Ein- und Übergriff auf gegenwärtige Aktivitäten von Musikern und Publikum. Die Nachstellung historischer Ereignisse manipuliert die aktuellen in einer Weise, die ihnen mehr nimmt als gibt, weil sie diese überhaupt nicht meint, sondern ihnen nur zufällig übergestülpt wurden. Peinlich deplaziert und den Stücken als fremde Idee verordnet wirkte im inszenierten Konzert „Transit“ des Berliner Streicherensembles Kaleidoskop durch die Verkleidung der Musiker als Flüchtlinge, die einem Lastwagen entstiegen und in der Choreographie von Laurent Chétouane mit suggestiver Überpräsenz agierten, deren Bedeutungsschwere durch die tatsächliche Inhaltsleere der Bewegungen als prätentiös entlarvt wurde. Sebastian Clarens in weitem Kreis uraufgeführte „Kaleidoskopvillemusik II“ verhalf immerhin zu einer eindrücklichen Raum-Zeit-Klang-Erfahrung.

Eine bizarre Late Night Show bildeten drei von Michał Libera unter dem Titel „Minor Music“ zusammengestellte Performances, deren provokative Deplaziertheit im Avantgarde-Festival und nicht mehr frequentierten Offizierskasino einer Kaserne genau richtig war: Eugene Chadbourne zupfte auf seinem verstimmten Banjo groovig-skurrile Folkmusic, vorgeblich auf Bachs „Goldberg-Varia­tionen“ basierend; Barbara Kinga Majewska sprach und sang traurige Weisen von und über Wagners „Tristan“; und bis nach Mitternacht rezitierte Alex Waterman mit dem euphorisierenden Pathos und Gestenrepertoire eines evangelikalen Predigers aus und über das „Book Urantia“, dem Stockhausen Motive für seinen „Licht“- und „Klang“-Zyklus entlehnt hatte, nachdem die Stockhausen-Stiftung den ursprünglich beabsichtigten Remix von Stockhausens „Superformel“ untersagt hatte. Anderen Sphären von Techno, Rave und Ego Shooter entstammte Alexander Schuberts „Codec Error“. Die durch Stille und Dunkelheit geweiteten Ohren und Pupillen wurden gleich zu Anfang mit Lichtblitzen und wie Projektile einschlagenden Klangdetonationen bombardiert. Der nachfolgende Dauerbeschuss ließ einen Großteil des Publikums in Deckung gehen, weil man zurecht um die Gesundheit von Trommelfell und Netzhaut fürchtete. Wer sich dennoch traute, die Hände von Augen und Ohren zu nehmen, erlebte eine perfekt durchdramatisierte Bühnenshow mit punktgenau koordinierten Stroboskopblitzen und in ihrer Lautstärke und Brillanz überwältigender Hardcore-Noise-Elektronik. Die zwei Schlagzeuger und der Kontrabassist des Ensemble Intercontemporain wurden darin gleichsam zu Pixeln entstofflicht. Utopie oder Dystopie? In jedem Fall Anamorphose des analogen Menschen an die digitale Technologie.

Medial überformt erschien auch das Ensemble Musikfabrik in Marina Rosenfelds „Deathstar Orchestration“. Riesige Gitarren-Verstärker verdrängten die Musiker in den Bühnenhintergrund und ließen mit gespanntem Sirren ihr energetisches Potential spüren. Doch anstelle krachender Sounds folgten diskrete instrumentale, nur vorsichtig verstärkte und dezent zugespielte Klänge, die sich zu einem radiophonen Environment verbanden. Dessen melancholische Atmosphäre und weiche Wohlfühl-Akkordik wurde nur einmal von wilden Klavierclustern gestört. Als Klangtapete in einer Bar hätte das gepasst, nicht aber als halbstündige Hauptsache in einem Konzert. Eivind Buene brachte in „Lessons in Darkness“ Musikerleistung, Klangmaterial, Struktur und Formverlauf in ein stimmiges Verhältnis. Eine klagende Melodie erfährt durch kanonische Ausbreitung klangliche und rhythmische Abwandlungen bis zu genau abgezählten Schwebungen zwischen Instrumentalklängen mit Fender Rodes und Moog Synthesizer. Von Enno Poppe bestens einstudiert, konnten die Musikfabrikanten das Stück sogar ohne Dirigent aufführen. Misato Mochizukis „Têtes“ knüpfte an die Tradition des japanischen Rakugo an, bei der wie im Monodram ein Sprecher zu Instrumenten beziehungsweise Requisiten eine phantastische Geschichte erzählt. Dominique Quélens Libretto handelt von gespenstischen Köpfen, abgeschlagenen, fliegenden, sprechenden, gesichtslosen und solchen, die sich noch im Tode festbeißen. Über das Scharnier illustrativer Klänge („Wind“ und säuselnder Flöte, „Wasserfall“ und rauschendes Becken) verknüpft Mochizuki die Schauergeschichte mit einer Musik, die sich zugleich verselbständigt und so die textfixierte Aufmerksamkeit auf das Hören zurücklenkt.

Besondere Settings bot auch das Konzert des belgischen Ensembles Ictus. In Francesca Verunellis „Man sitting at the piano I“ spielte Flötist Michael Schmidt strikt parallel zum Selbstspielklavier, dessen maschinelle Dichtegrade und Geschwindigkeiten schnell die Möglichkeiten des Musikers überstiegen. James Saunders’ „know that your actions reflect within the group“ spielte mit der Nennung von Nomen, die unweigerlich Laute implizieren: „Duck“, „Train“, „Cat“, „Chicken“. Wahlweise danach oder davor erklangen passende oder unpassende Samples sowie instrumentale Imitationen. Das weitere Memory-Spiel mit „Donkey“, „Baby“, „Scream“ und „Telephone“ et cetera brachte statt neuer Wendungen und Reflexionsebenen indes nur betriebsamen Leerlauf. Martin Schüttlers „My mother was a piano teacher […]“ stellte sich in die jüngste Gattungstradition sich selbst moderierender Musik. Zwei Sprecherinnen verlasen Erinnerungen von Musikern an ihre Herkunft, Prägung, Ausbildung. So wie Komponisten das Klangmaterial analysieren, lassen sich auch die Voraussetzungen derjenigen befragen, die diese Klänge überhaupt erst hervorbringen. Einleuchtend ist auch die Abtrennung der privaten Berichte von den realen Musikern. Doch wenn deren persönliche Erinnerungen laienhaft und ohne weitere Fokussierung auf übergeordnete Aspekte vorgetragen werden, dann werden diese zu allgemein banaler Alltäglichkeit entwertet. Die Musiker, die ihr Können sonst gerne leibhaftig auf der Bühne präsentieren, verbannt Schüttler in Videos. Wie in Übezellen oder Hasen in einem Kleintierzüchterverein sind alle notorisch mit Belanglosigkeiten beschäftigt: Dieser mümmelte an einem Liegeton, jener hastet hamsterhaft emsig zwischen Gitarren hin und her. Dass sich auch der Komponist bis aufs Unterhemd entblößt zeigt, reiht ihn scheinbar solidarisch in die Musikerschicksale ein. Doch an seiner fragwürdigen Verfügung über die Biographien und Körper anderer ändert dies nichts. Beim Verlassen des Saals durfte sich das Publikum davon überzeugen, dass die Videos nicht einfach vorproduziert wurden, sondern die Ausgestellten tatsächlich in Container-Käfigen hausten.

Wenig ergiebig waren zwei Altmeistern gewidmete Konzerte. Der achtundachtzigjährige George Crumb lieferte mit „Metamorphoses“ einen von Pianistin Margaret Leng Tan mehr fahrig als farbig gespielten Aufguss seiner früheren Klaviermusik. Die zehn Stücke beziehen sich ähnlich Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ illustrativ oder frei assoziativ auf Gemälde von Klee, Kandinsky, Chagall und anderen. Für Emmanuel Nunes’ halbtonalen „Minnesang“ von 1976 gruppierte sich das SWR Vokalensemble zu sechs Duos Mann + Frau, die lange Zentraltöne rhythmisch und artikulatorisch umso variantenreicher gestalteten. Aus den Schubladen des 2012 verstorbenen portugiesischen Komponisten wurde „Un calendrier révolu“ von 1969 zur posthumen Uraufführung gezerrt. Das postserielle Verhältnis von determinierten Strukturen und variablen Abschnitten wirkte hier nicht nur historisch, sondern statisch und eintönig. Einzelne Akzente oder Arpeggien wurden von den Musikern des Ensemble Remix immer wieder bloß repetiert, an- und abschwellend, verdichtend und ausdünnend. Statt für emphatische Lebendigkeit, Echtzeit und Spannung zu sorgen, erschienen gerade die offenen Abschnitte langweilig und das gesamte Stück unnötig auf über eine Stunde zerdehnt.