MusikTexte 155 – November 2017, 95

Abgesang im Mausoleum

Zur fünfzigsten Jubiläumsausgabe des musikprotokolls im steirischen herbst

von Monika Voithofer

1968 vom Intendanten des ORF-Landesstudios Steiermark, Emil Breisach, gegründet, ist das musikprotokoll im steirischen Herbst das älteste Festival für zeitgenössische Musik in Österreich. Ausgerechnet oder notwendigerweise in Graz erwuchs zunehmend das Bedürfnis nach einer historischen Auseinandersetzung und angemessenen Wiedergabe von Werken der nationalen und internationalen musikalischen Avantgarde. In einer Stadt, in der zu dieser Zeit noch etliche Kulturmachthaber, wie etwa der Architekt Fritz Haas, als Relikte nationalsozialistischer Vergangenheit ihr Unwesen trieben. Seit seiner Gründung 1968 wurde der steirische herbst von Vertretern dieses braunen Sumpfs systematisch boykottiert, denn sie wussten: Kunst ist gefährlich. Stillschweigend wurde die Unterwanderung öffentlicher Ämter hingenommen. Die Einzigen, die darüber reden konnten, waren die Künstlerinnen und Künstler. Sie taten es mit ihren Mitteln. Die einen sprachen direkt darüber. Andere indirekt. Die Dunkelheit, der Schmerz, die Radikalität hat hier ihren Ursprung.1

Zur Eröffnung der fünfzigsten Jubi­läumsausgabe war der Enkel des besagten Architekten – Georg Friedrich Haas – als Festredner mit einer kathartischen Ansprache an jenen Ort zurückgekehrt, der den Grundstein zu seiner künstlerischen Entwicklung gelegt hatte. Hier erklang 1976 zum ersten Mal eine seiner Kompositionen – ein Erlebnis, das sein Selbstverständnis als Komponist entscheidend prägte. Wenige Jahre zuvor, 1972, wurde Friedrich Cerhas monumentaler Orchesterzyklus „Spiegel I–VII“, mit dem Komponisten am Pult, zur Uraufführung gebracht. Bis heute gilt das Werk als Meilenstein der musikalischen Moderne nach 1945. Hier leistete die 1989 programmierte Personale „Fest für Scelsi“ die Initialzündung der hernach interna­tional einsetzenden wissenschaftlichen Scelsi-Rezeption. Hier schickte der österreichische Rundfunk als Veranstalter des musikprotokolls Konzerte von der ersten Stunde an in den Äther. Umsichtige und mutige Programme von Programmdirektoren wie Peter Vujica oder dem jüngst verstorbenen Peter Oswald sicherten den großen Erfolg und das internationale Renommee des musikprotokolls. Letzterer entdeckte und förderte Händl Klaus, hier in Graz, im steirischen herbst. So kehrte dieser auch dieses Jahr mit charmanten literarischen Interventionen zum Festival zurück.

Die Geburtstagsausgabe des steirischen herbstes stellte sich die selbstkritische Frage „Where Are We Now? Rückblicke, Ahnungen & Aufbrüche“. Resultat der Selbstverortung nach einem halben Jahrhundert Festivalgeschichte waren avanciert herausfordernde Produktionen, kompromisslos der Gegenwart verpflichtet.

Mit dem eher plumpen Titel „Stehlen, Träumen, Tanzen“ nahm sich das musikprotokoll das Motto des „großen Bruders“ zum Impetus. „Zum Stehlen in der Vergangenheit für unsere Zukunft“ galt als Leitmotiv für das von Elke Tschaikner, Susanna Niedermayr, Christian Scheib und Fränk Zimmer kuratierte Programm. Mit vielen Déjà-vus und einer scheinbaren Ignoranz, Ohnmacht und Resignation der musikalischen Gegenwart gegenüber geriet das Jubiläum dennoch enttäuschend.

Als einzig überzeugend erwies sich das Eröffnungskonzert: In einer akribischen Gemeinschaftsarbeit schafften der Komponist Peter Jakober und der Schriftsteller Ferdinand Schmatz mit der Uraufführung von „Primen“ einen klang- wie wortgewaltigen Auftakt. Im Sinne des psychologischen „Priming-Effekts“, der den Autoren als Vorlage diente, wurden assoziative Reizwörter wie Goethes Dreigestirn „edel, hilfreich und gut“ allmählich durch Emanzipation und Umkehrung der Silben dekonstruiert bis hin zur Zersetzung ins Stottern. In einem anschwellenden Kanon umringten das ensemble zeitfluss (Viola, zwei Violoncelli, Kontrabass) und drei Chöre (chor pro musica graz, Vocalforum und Domkantorei Graz) unter der Gesamtleitung von Gerd Kenda mit Hilfe von zwölf Subdirigenten das Publikum. Den solidarischen Duktus von Arbeiter­chören wachrufend, endete das politische Werk abrupt mit einem nachdrücklichen Stakkato.

Die Helmut-List-Halle bot in ihrer Dimension und Wandelbarkeit ein ideales Setting für dieses Konzert, die restlichen zum Großteil hier stattfindenden Ensemble-Konzerte, wie etwa das des Aleph-Gitarrenquartetts – bereits bekannt vom letzten Jahr –, büßten ihren intimen Charakter und die klangliche Qualität in der Weitläufigkeit der Halle jedoch fatal ein. Es hatte den Anschein, als wollte sich die Parallelgesellschaft des musikprotokolls in einer infrastrukturell miserabel angebundenen Location tunlichst vom steirischen herbst abschotten, um jedwede Interaktion zu vermeiden. Peter Vujicas Übertragung des Ghetto-Begriffs auf die Festivals neuer Musik mutete aktueller denn je an.

Im selbstdeklarierten Herzensprojekt der Jubiläumsausgabe – „Tanzmusik für Fortgeschrittene“ – verschlug es die Gesellschaft dann doch noch von der Peripherie mitten ins Zentrum der bürgerlichen Hochkultur: in den traditionsreichen Stefaniensaal. Zum einzigen Orchesterkonzert lud hier das Radio-Symphonieorchester Wien unter Johannes Kalitzke mit vierzehn Werken, die Hälfte davon Uraufführungen, zum Ball. Neu war das Format aber nicht: Wien Modern hatte es bereits 2013 mit der anderen Hälfte der angesetzten Werke erprobt. So schwang man in funktionaler Musikmanier das Tanzbein etwa zu einem Walzer von Johanna Doderer oder einer „Pussy-(r)-Pol­ka“ von Gerhard E. Winkler. Zum Glück wehte mit der Uraufführung von Jorge Sánchez-Chiongs „Ilsa, Raver of the Supervixen Obstetrician – for Ilsa Gold“ im originellen orchestralen Sampling der österreichischen Techno-Veteranen „Ilsa Gold“ immerhin ein Hauch von anlassbedingter Ironie durch das Gebälk.

Und die Herausforderung, der sich Kulturveranstaltungen wie der steirische herbst stellen müssen, ist, den nächsten John Cage zu finden, der imstande ist, junge Faschistinnen und Faschisten wachzurütteln. Oder noch besser: Nicht EINEN John Cage, sondern viele John Caginnen und John Cages.

An dieser Herausforderung scheiterte das diesjährige musikprotokoll nicht nur kläglich, sondern schien keinerlei Interesse daran zu haben, sich impulsgebender musikalischer Radikalität zu stellen. Eine divers-instruktive Protokollierung der musikalischen Gegenwart wich einer manierierten Programmierung, durchzogen von zyklischen ästhetischen Präferenzen. So glich der Ausklang mit dem Quatuor Diotima und dem Aleph-Gitarrenquartett am gruftigen Ort des Mauso­leums einem Abgesang auf eine längst verjährte internationale Bedeutung. Die überschaubare Besucherfrequenz mag diese Feststellung untermauern.

1Die kursiv gesetzten Zitate sind Auszüge aus der Festrede von Georg Friedrich Haas. Die gesamte Rede ist abrufbar von der Website steirischerherbst.at