MusikTexte 156 – Februar 2018, 3–4

Kuratorentheater

Kritische Anmerkungen zu einem aktuellen Prinzip Hoffnung

von Bernd Künzig

Ihr Beruf ist es, dem Publikum zu sagen, was es gut finden muss und welche Trends jetzt wichtig sind. Ich bin zu bockig, um solchen Vorgaben zu folgen .1

Neue Konzepte braucht das Land. Unter diesem Motto agieren derzeit zahlreiche Festivals und Veranstaltungen der Neuen Musik. Am deutlichsten war dies in den letzten Jahren wohl bei der Berliner MaerzMusik zu beobachten, die sich nunmehr als ein „Festival für Zeitfragen“ versteht. Dahinter steht ein theoretischer Anspruch, der, auf der einfachsten Ebene betrachtet, Musik als ein Me­dium der Zeitformung und -gestaltung versteht. Der Anspruch geht aber über Musik hinaus und begreift Zeit als ein gesellschaftspolitisches Phänomen, das nicht nur unter kompositorischen oder allgemein musikalischen Prämissen zu behandeln sei. Auf eine Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Details kann in diesem Zusammenhang verzichtet werden. Denn interessanter erscheint, dass die konzeptionelle Neuausrichtung zunächst ihren Ausgang nicht in innermusikalischen Verhältnissen oder kompositorischen Problemstellungen hat. Vielmehr tritt hier ein kuratorisches Prinzip zutage, das die künstlerische Ausformulierung als ein Mittel zum Zweck begreift. Ähnlich problematische Beispiele waren die willkürliche Zusammenstellung im Mittelmeerraum geborener Komponisten, um den vorgeblichen „Mediterranean Voices“ beim Festival Eclat 2014 durch die Neuen Vocalsolisten Stuttgart Ausdruck zu verleihen, oder die geradezu haarsträubend sinnlose Simultanaufführung aller fünfzehn Streichquartette Schostakowitschs im Rahmen von Wien Modern 2016.

In diesem Kontext verstehen sich jene Festivals dennoch als solche der Neuen Musik. Möglich macht dies zweierlei: Da wäre zum einen die derzeit viel beschworene Krise der Neuen Musik. Sie ist immer noch und schon seit mehreren Jahrzehnten eine Krise der komponierenden Avantgarde und des utopischen Gedankens, ein avanciertes Kunstwerk könne oder solle Kunst und Leben miteinander verbinden. Auf der anderen Seite findet diese alte Diskussion neue Nahrung durch den „Neuen Konzeptualismus“. Dabei impliziert der Begriff selbst schon seine Ableitung aus den Formen der Konzeptkunst, wie wir sie seit ihren ungefähren Anfängen bei Marcel Duchamp bis hin zu den Vertretern der aktuellen Konzeptkunst beobachten können.

Um dabei nur einen Vertreter ins Spiel zu bringen: Der Künstler Olaf Nicolai hat mit seinem Projekt „Escalier du chant“ für die große Eingangstreppe in der Pinakothek der Moderne München 2011 nicht nur die Neuen Vocalsolisten Stuttgart als Performer engagiert, sondern auch Komponisten beauftragt (darunter Samir Odeh-Tamimi, Enno Poppe, Georg Katzer, Jennifer Walshe und Georg Friedrich Haas), für das Ensemble „Lieder zur Zeit“ zu komponieren, kurze Musikstücke also, die die Gattung des komponierten politischen Lieds erneuern sollten. Dabei tritt Olaf Nicolai selbst weder als performativer noch als komponierender Künstler in Erscheinung, sondern als dieses Konzept vorgebender „Kurator“. Von einer früheren puristischen Generation der Konzeptkünstler unterscheidet ihn, dass die Konzepte nicht nur Papierstücke bleiben, sondern auch eine konkret realisierte Form erhalten. Dabei bedient er sich unterschiedlicher Mitgestalter. Diese können entweder künstlerische Handwerker, Architekten oder eben Komponisten und Musiker sein. In seinem Fall verwischen sich die Grenzen zwischen Kurator und Künstler. Dabei geht es nur vordergründig um die Aufhebung künstlerischer Gattungsgrenzen, denn die Arbeiten Nicolais sind in erster Linie auf den institu­tionellen Rahmen der bildenden Kunst ausgerichtet und versuchen nicht, Neue Musik als solche in einen Kunstkontext einzubeziehen. So ist schon der Titel „Escalier du chant“ eine Bezugnahme auf die Treppe der Münchner Pinakothek und zugleich ein Wortspiel auf Duchamp und sein letztes kubistisches Gemälde „Akt, eine Treppe herabsteigend“ („Nu descendant un escalier“).

Nicolais Vorgehen ist dabei nicht mit dem des Ausstellungsmachers, des klassischen Kurators, zu verwechseln. Denn die Umsetzung von Ausstellungskonzeptionen erfolgt zumeist im institutionellen Rahmen großer Ausstellungshäuser oder globaler Kunstereignisse wie der documenta oder der Biennale von Venedig. Und für Letztere zeichnen immer noch die Ausstellungsmacher verantwortlich, die die logistischen und administrativen Grundvoraussetzungen bereitzustellen haben.

Der klassische Kurator im Museumsbetrieb war der Sachwalter der Künste innerhalb eines wissenschaftlichen Sammlungskontexts. Der freie Kurator hingegen ist wesentlich jüngeren Datums. Er agiert außerhalb solcher Sammlungen, eben in einen freien Kontext, den er selbst zu definieren hat. Die Schlüsselfigur dieses neuen Kuratorentypus ist der Schweizer Harald Szeemann, der als Leiter der Kunsthalle Bern begann, wo er unter anderem die legendäre Skulpturenausstellung „When attitudes become form“ (1969) gestaltete. Kurz danach machte sich Szeemann nach Zerwürfnissen mit dem für die Kunsthalle verantwortlichen Verein mit der von ihm im Tessin gegründeten „Agentur für geistige Gastarbeit“ selbstständig und realisierte eine Reihe heute noch mythisch umrankter Ausstellungen wie die berühmte „documenta 5. Befragung der Realität, Bildwelten heute“ (1972), „Großvater, ein Pionier wie wir“ (1974), „Junggesellenmaschinen“ (1975), „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ (1983), „Austria im Rosennetz“ (1996) oder „Weltuntergang und Prinzip Hoffnung“ (1999). Dabei war Szeemann schon seit seiner Schul- und Studienzeit mehr als ein einfacher Kurator: Mit seinem 1956 gegründeten „Ein-Mensch-Theater“ war er alles in einer Person: Hauptdarsteller, Bühnenbildner und Textautor. Sein von ihm nun praktiziertes Kuratieren, das Schule machen sollte (auch im institutionellen Sinne einer lehrhaften Weitergabe), war nicht zuletzt auch eine künstlerische Tätigkeit und gleichzeitig eine Grenzverwischung zwischen Kurator und Künstler. Bei Szeemann mag dies alles geniale Formen angenommen haben – in einem künstlerischen Sinn –, bei seinen Nachfolgern hat es oft Züge einer neuen Ordnung der Hierarchien, bei der der Kurator aufgrund seiner allgemein-theoretischen Ausrichtung bedeutender wird als die von ihm gezeigten oder aufgeführten Künstler. Letztere geraten oft in die Gefahr, zu Illustratoren kuratorischer Konzepte und Thesen zu werden.

Szeemanns Tätigkeit wäre allerdings kaum möglich geworden ohne das zeitgleiche Aufkommen der neueren Konzeptkunst. In gewisser Weise ergänzten sich beide Strömungen bestens: die Formulierung von Konzepten anstelle realisierter Artefakte und das Kuratorenprinzip als künstlerische Tätigkeit. Wenn nun wiederum der „Neue Konzeptualismus“ derartige Tendenzen als Lösungsansätze für den Fortschritt, die Zukunft oder das bloße Gegenwartsbewusstsein einer Neuen Musik aufgreift, dann geschieht auch dies unter eben diesen kuratorischen Aspekten. Wo es ohnehin keinen Materialfortschritt in der Neuen Musik mehr geben kann, erübrigt sich schließlich auch die Herstellung eines solchen. Der Komponist tritt als Kurator in Erscheinung, der sich musikalischen Materials bedient, wie der Ausstellungsmacher des bildkünstlerischen. Auf diesem Prinzip basiert ein Großteil des theoretischen Systems der „Musik mit Musik“ von Johannes Kreidler oder großräumiger Performances wie den Theorieopern Patrick Franks.

Das alles ist legitimer Ausdruck einer Krise oder zumindest eines Krisenbewusstseins der Neuen Musik, angesichts der von ihren Vertretern benannten „Digitalen Revolution“ einen erneuten Zusammenhang von Kunst und Leben(swirklichkeit) zu wagen. Dies mag dem Prinzip Fortschritt oder Zukunft dienen. Allein der Umkehrschluss, dass das Kuratorenprinzip nun die Zukunft der Neuen Musik abzusichern hat, indem überlegt wird, wie diese zu kuratieren sei, erscheint fragwürdig. Der Gedanke hat etwas mit dem Minderwertigkeitskomplex der Szene zu tun, im postdramatischen Theater oder in Ausstellungen der Gegenwartskunst sei alles besser und es bestünde demgegenüber ein erheblicher Nachholbedarf der Neuen Musik. Die aus verschiedenen Gründen letztlich gescheiterte Einladung des Hauptkurators der documenta 14, Adam Szymczyk, zu einem Vortrag über das Kuratieren im Rahmen der Donaueschinger Musiktage 2017 war eine Reaktion auf diesen Gedanken. Nun ist abschließend darauf hinzuweisen, dass die Übertragung kuratorischer Prinzipien aus dem institutionellen Kunstbetrieb auf die Musik durchaus problematisch werden kann. Konzertprogramme sind grundsätzlich keine kuratorischen Leistungen. Es bedarf schließlich eines erhöhten Theorieanspruchs, um komponierte Musik oder allgemein Musik unter einem Konzept zusammenzubinden oder gar zu -zwingen. Scheinbar wird dabei der Theorieanspruch der komponierenden Avantgarde nach 1945 aufgegriffen. Allerdings verlief dieser innerhalb der Personalunion der Komponisten. Musikalische Ereignisse sind dabei auch nicht wie objekthafte Artefakte zu behandeln, um ein Theoriekonzept umzusetzen oder anschaulich zu machen. Dafür sind allein die Rezeptionsformen zu different. Grundsätzlich sind Gegenstände oder Sachverhalte der bildenden Kunst dazu geeignet, als bildnerische Mittel Themen, Thesen oder Theorien zu illustrieren oder diese darzustellen. Musik als klanggeformte Zeit hingegen besitzt einen derart hohen Abstraktionsgrad, dass sie nur in begrenztem Maß als bildnerisches Mittel eingesetzt werden kann. Die Fragestellung wäre also nicht, wie die Neue Musik (in Zukunft) kuratiert werden könne, sondern ob und wie sich Musik überhaupt kuratieren ließe, ohne zum Wurmfortsatz einer mit anderen Mittel gestalteten selbstreferentiellen sinfonischen Dichtung aus dem Geist des neunzehnten Jahrhunderts zu verkommen? Auch dafür lieferten die Donaueschinger Musiktage 2017 mit Martin Schüttlers „My mother was a piano teacher“ ein problematisches Beispiel.

Wie haben wir uns einen musikalischen Kurator vorzustellen? Eine mögliche, recht negative Antwort gab Frank Castorf im Interview der Januar-Ausgabe von „Theater der Zeit“ mit Blick auf die neue Intendanz des ausgewiesenen (Kunst-)Kurators Chris Dercon an der Berliner Volksbühne. Ein Kassandra-Ruf vielleicht auch für die Neue Musik? „Wenn man in einem dunklen Raum einen gefälschten van Gogh an die Wand hängt und leise flüstert, gilt das bereits als Theater. Dass der Kaiser nackt ist, stört nicht weiter, solange man mit Kunst, bei der es um nichts geht, Geld verdienen kann, auch mit der Interpretation und dem Kuratieren von Kunst. Offenbar ist es ein Beruf, durch die Welt zu reisen und einzukaufen – ein Intendant als Einkäufer und Verkäufer, mehr ist er nicht. Wie am Kunstmarkt ist das Geld, das Label, der einzige Bedeutungsträger. Nur a posteriori, durch den hohen Preis, bekommen die Dinge ihre Wertigkeit, für sich bedeuten sie nichts.“

1„Ich überlege, ob ich ein Tattoo-Studio aufmachen soll.
Interview mit Bert Neumann“, in: Am liebsten hätten sie veganes Theater. Frank Castorf, Peter Laudenbach, Interviews 1996–2017, Berlin: Theater der Zeit, 2017, 126.