MusikTexte 156 – Februar 2018, 32–40

Neue Reisen ins Innere des Klangs

Mikrovirtuosität in der Musik von Timothy McCormack, Farzia Fallah und Yasutaki Inamori

von Rainer Nonnenmann

Höher, tiefer, schneller, dichter, weiter, lauter … Derlei Steigerungsformen deuten auf ein Fortschrittsdenken, das in Kunst und Musik kaum weniger tief verwurzelt ist als in Sport, Forschung, Technik, Ökonomie. Modernisten wie Gustav Mahler und Richard Strauss trieben um 1900 die instrumentalen Mittel über die Grenzen des bis dato Üblichen hinaus. Spiel- und klangtech­nische Erweiterungen forcierten auch die Futuristen und die neue Musik des zwanzigsten Jahrhunderts. Immer wieder stellten Komponisten die Interpreten vor exorbitante Herausforderungen oder bedienten sich technischer Hilfsmittel, neuer Instrumente und Elektronik, um Ambitus, Dichte, Tempo und Energetik über das menschenmög­liche Maß zu steigern. Pionier- und Forschergeist zielte stets auf Ausdehnungen des musikalischen Makrokosmos. Doch manche Komponisten gehen einen umgekehrten Weg. Sie hören ins Innere des Klangs und erschließen dessen reichen Mikrokosmos. Statt um äußere Brillanz und virtuose Akrobatik geht es ihnen um möglichst genaue Beobachtung und exakte Organisation feinster Nuancen. Historische Beispiele dafür sind Minimal Music, Spektralismus oder elektronische Klanganalyse.

Der genaue Blick auf akustische Phänomene, also auf das, was wirklich klingt und sich bei Musikern, Instrumenten, Lautsprechern und Schallwellen im Raum ereignet, prägte zunächst die Klangerweiterungen der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Zu nennen wären beispielsweise Werke von La Monte Young, Karlheinz Stockhausen, Giacinto Scelsi, Alvin Lucier, James Tenney, Phill Niblock, Luigi Nono oder Gérard Grisey. Später hinzukamen unter anderem Horaţiu Rădulescu, Eliane Radigue, Maryanne Amacher, Friedrich Jaecker, Chiyoko Szlavnics, Peter Ablinger, Marc Sabat und Mitglieder der Gruppe „Wandelweiser“. Die von diesen Komponisten geleisteten Erkundungen stehen heute selbstverständlich auch anderen, jüngeren zur Verfügung, die sie adaptieren, modifizieren und in neue Zusammenhänge integrieren. Seit den Sechzigerjahren gehören serielle, aleatorische, elek­tronische, konkretistische, pluralistische, intuitive, thea­trale oder intermediale Verfahren zum Allgemeingut des Komponierens. Das gilt auch für konzeptuelle Strategien der Reduktion und Konzentration auf bestimmte Materia­lien und Strukturen. Auch diese sind heute gängige Methoden unter vielen anderen. Die gegenwärtige Phase, in der solch selbstverständlich gewordene Ansätze wieder verstärkt Konjunktur haben, ist deswegen am besten als postkonzeptuell zu beschreiben.

Antizyklisch zum gegenwärtigen Trend multimedialer Erweiterungen von Musik zielen jüngere Komponistinnen und Komponisten wieder auf extrem reduziertes Material. Statt möglichst verschiedene Medien, Samples, Spiel- und Klangtechniken zu verwenden, beschränken sie sich auf ein klar definiertes Material, um dessen immanentes Potential umso klarer und formal stringenter zu entfalten. Diese Komponisten bedienen sich nicht routiniert des gängigen erweiterten Repertoires an Spieltechniken und Klängen, sondern unterziehen das wenige ausgewählte Material möglichst genauer Beobachtung. Ihr Komponieren ähnelt mikroskopisch feinem Analysieren und Durchdringen der inneren Bestandteile des Klangs. Material, Struktur und Formverlauf bilden dabei idealerweise eine unzertrennliche Einheit, die auch geeignet ist, die Hörer für diese Mikrobereiche des Klingenden zu sensibilisieren. Von den Interpreten verlangt dies ein Höchstmaß an Körperbeherrschung, Präzision im Millimeterbereich sowie eine extreme Genauigkeit hinsichtlich Wahrnehmung und Feinmotorik: eben „Mikrovirtuo­sität“.

Junge Vertreter solcher Mikrovirtuosität sind beispielsweise der US-Amerikaner Timothy McCormack, die Iranerin Farzia Fallah und der Japaner Yasutaki Inamori. Sie alle veranstalten in ihren Stücken kein grelles Feuerwerk an Effekten. Sie zielen nicht auf äußeren Erfolg, überwältigende Klangfülle, multimediale Überforderungen oder die Ostentation beeindruckender performativer Leistungen. Zudem gibt es von ihnen keine Äußerungen, mit denen sie der eigenen Musik besondere Wirklichkeitsnähe, Welthaltigkeit oder gesellschaftspolitische Relevanz attestieren. Alle drei verzichten auf vollmundige Manifeste und Proklamationen, sondern folgen schlicht ihrem individuellen künstlerischen Willen. Sie schreiben „nur“ Musik, auch auf die Gefahr hin, dass diese als spröde, gar simpel oder bloß materialistische Klangforschung empfunden wird. Doch vermögen vielleicht gerade ihre Stücke durch materiale Konzentration und stringente Eigengesetzlichkeit nachhaltiger politisch zu wirken als Kompositionen, die bloß vordergründig durch Titel, Texte oder Bilder politische Themen kommunizieren.

Timothy McCormack: Instrumentale Leiblichkeit

Eines der faszinierendsten, weil radikalsten Stücke war bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik 2017 das vom US-amerikanischen JACK Quartet uraufgeführte Streichquartett „Your Body is a Volume“ von Timothy McCormack. Minimale Veränderungen von Streichgeschwindigkeit, Finger- und Bogenstellungen, Griff- und Bogendruck eröffnen hier eine ungeahnte Varianten- und Nuancenvielfalt im Nano-Bereich. Wie mit feinem Skalpell wird ein motorisches Körper- und Klangphänomen in seine Bestandteile zerlegt und wieder neu zusammengesetzt. Nach der Uraufführung äußerten manche Komponisten im Publikum ihre Unklarheit darüber, ob es sich dabei wirklich um Musik handele, da das verwendete Material zwar faszinierend sei, aber nicht eigentlich komponiert wäre, sondern bloß exponiert. Während sich solche Kritik gegen die phänomengerechte Präsentation des Materials richtete, ist McCormacks strukturelle und for­male Organisation dieses Materials nicht anders als kompositorisch zu nennen, gerade weil es in haarfeinen Ab­stufungen zu seiner genuinen Erscheinung gebracht wird.

McCormack wurde 1984 in Ohio geboren und studierte an der Harvard University bei Chaya Czernowin. Zudem war er Schüler von Steven Kazuo Takasugi, Mark Andre und Claus-Steffen Mahnkopf. Zur Zeit lebt er in Boston. Sein „Your Body is a Vol­ume“ ist als konsequente Aktionsschrift notiert, die lediglich angibt, wann, wo und wie welche Bewegung auszuführen ist. Statt real klingender Resultate, deren Komplexität sich jeder Notierbarkeit entzieht, sind also lediglich die zur Hervorbringung der Klänge beitragenden Faktoren verzeichnet. Der eigentlichen Komposition voraus ging zunächst eine systematische Analyse der diese Faktoren bestimmenden Parameter sowie deren graduelle Abstufung. Für die Griffhand der vier Spieler notiert McCormack fünf verschiedene Grade von Fingerdruck. Die Skala reicht von zarten Flageoletts, bei denen der Finger nur leicht auf der Saite aufliegt (weißer Notenkopf), über drei Zwischenstufen bis zum Ordinario-Griff mit fest niedergedrückter Saite (schwarzer Notenkopf). Ferner notiert sind die Positionen der Griffe längs der Saiten sowie im Verhältnis zur Kontaktstelle des Bogens. Vorgeschrieben werden zuweilen auch Griffe auf Saiten, die überhaupt nicht gestrichen werden (graue Notenköpfe), deren Niederdrücken aber nötig ist, um zwei oder gar drei benachbarte Saiten gleichzeitig anstreichen zu können, sodass – auch dank entsprechender Skordatur – dichte Mehrklänge und subharmonische Kombinationen entstehen.

Für mich sind Form und Struktur etwas Verschiedenes. Struktur kann gereinigt oder kartographiert werden, während Form als Ereignis gefühlt wird. Ich bin viel mehr an Form als an Struktur interessiert. Für mich ist Form auch weitgehend vom Material bedingt, weil ein Stück in seiner Form, durch die es seine Dauer und die Gestalten annimmt, die es hervorbringt, einen direkten Bezug hat zum klingenden Material, zu den von den Musikern verwendeten Techniken, zu den physikalischen Eigenschaften ihrer Instrumente und den da­rauf hervorgebrachten Klängen. In diesem Stück „Your Body is a Volume“ kontrolliere ich die Grade der Dichte und Anreicherungen des Materials, und zwar sowohl für jedes einzelne Instrument als auch für das gesamte Ensemble, mittels der Geschwindigkeit und Ansatzstelle des Bogens auf den Saiten sowie der Kontaktstelle auf dem Bogen selbst. Gelegentlich gibt es ähnliche kanonische Strukturen, aber ich halte diese im Gesamtschema des Stücks für nicht so wichtig. Es interessiert mich mehr, Form innerhalb des Stücks zu schaffen, innerhalb welcher der Hörer sich zeitweilig davon gestützt oder komplett umgeben und gesättigt fühlt.1

Besonders detailliert gestaltet McCormack die Bogenaktionen. Fünf Stufen von Bogendruck (kleiner bis großer Notenkopf) gehen zumeist fließend ineinander über. Bei Trippelgriffen dient die mittlere Saite gelegentlich als Hebelpunkt, um durch leichte Verlagerung des Bogens den Druck auf die beiden Nachbarsaiten zu verändern, also ihn auf der einen Saite zu erhöhen und im gleichen Maß auf der anderen abzuschwächen. Minimale Veränderungen schaffen so nahtlose Übergänge von einem Klang zum nächsten. Die Hebel-Spieltechnik findet sich beispielsweise in der ersten Violine auf Seite 8, „Takt“ 82/83. Zugleich markiert diese Stelle einen für die Koordination des Zusammenspiels im gesamten Quartett wichtigen Treffpunkt mit den Bogenwechseln der übrigen Spieler (siehe die Pfeile zwischen den Stimmen).

Mit neun verschiedenen Symbolen markiert McCormack die Ansatzstellen des Bogens längs der Saite: hinter, am und auf dem Steg, Ordinario, sowie vom Anfang des Griffbretts sukzessive abgestuft bis zu zwei Dritteln auf dem Griffbrett. Den genauen Verlauf der Bogenführung signalisieren unterhalb der Notensysteme schwarze Li­nien, welche die verschiedenen Symbole verbinden und auf diese Weise kontinuierliche Verlagerungen des Bogens von einer Ansatzstelle zur nächsten anzeigen. Innerhalb der Notensysteme geben schließlich graue Hüllkurven Auskunft über die Streichgeschwindigkeit. Die untere Notenlinie repräsentiert dabei den Frosch, die obere Linie die Bogenspitze. Das Tempo der Bogenführung ergibt sich aus dem Steigungswinkel der grauen Fläche im Verhältnis zur Space-Notation, deren fünf graue vertikale Striche pro Akkolade jeweils Dauern von zehn Sekunden markieren. Oft brauchen die Musiker zwanzig und mehr Sekunden, um den Bogen vom Frosch lediglich bis zur Mitte zu bewegen. Am Ende des Stücks muss sich der zweite Geiger für einen einzigen kompletten Auf- und Abstrich ganze zwei Minuten Zeit lassen. Gemessen an sonst üblichen Arco-Aktionen ist dies unendlich langsam. Von den Interpreten verlangt dies absolut perfekte Körperbeherrschung: eben Mikrovirtuosität statt ausholender Gesten und brillanter Geläufigkeit.

Indem die Spieler mit wechselndem Tempo und Druck die Ansatzstelle behutsam verlagern, teilt der Bogen die gestrichene Saite in zwei abwechselnd länger beziehungsweise kürzer werdende Abschnitte. Deren unterschiedliche Schwingungseigenschaften modulieren dem ohnehin bereits obertonreichen Klang dann zusätzlich gegenläufige Glissandofärbungen auf. Das Gesamtresultat ist ein permanent minimal sich wandelndes ebenso klang- wie geräuschvolles Klirren, Rauschen, Knarren, Rattern. Obwohl McCormack auf Spielpraktiken jenseits der Saiten verzichtet – also nicht wie etwa Helmut Lachenmann auch Saitenhalter, Korpus, Zargen, Wirbel oder Schnecke streichen, reiben, schlagen, tupfen lässt –, entfaltet sein Quartett dennoch eine völlig eigene, körperliche Klanglichkeit. Allein durch verschiedene Abstufungen und Kombinationen der Orte, Tempi und Druckverhältnisse von Griff- und Bogenhand schafft er neuartige Spielweisen und Klangresultate: Das ist sensationell!

Seit zweihundertfünfzig Jahren verbinden sich Musiker und Instrumente im Streichquartett immer wieder auf ähnliche und zugleich andere Weise. Timothy McCormack gelingt eine Neudefinition dieses Verhältnisses, indem er Musiker und Instrument – wie sein Werktitel „Your Body is a Volume“ signalisiert – als einen gemeinsamen räumlich-akustischen Körper begreift. Im Werkkommentar bezeichnet er die Instrumente als ein „Anhängsel“ der menschlichen Körper, deren extrem langsame, gleichsam „eingefrorene“ Motorik geringste Schwankungen der Kinesis hörbar macht. Bei den kontinuierlichen Bewegungen entstehen unwillkürlich kleinste Unregelmäßigkeiten: Es kommt zu Stocken, Ruckeln, minimalen Tonhöhen- und Lautstärkeschwankungen. Im Werk­kommentar erklärt McCormack dies mit einem Verweis auf den eigenwilligen Stücktitel: „Dieser Körper bewegt sich nicht durch einen Raum, er wird selbst zum Raum – der Körper als Sitz der kinästhetischen Inschrift. Wir hören den Körper in seinem Klang, und dieser Klang fasst uns zusammen.“ Bei der Wittener Uraufführung übertrug sich die Anspannung des hochkonzentrierten Leib-Instrument-Klang-Körpers JACK Quartet auch auf die Hörer.

In diesem Stück und auch in allen meinen Ensemblestücken gibt es keine metrische Zeit, keine Zeitangaben, Tempi, Rhythmen, et cetera. Stattdessen wird Zeit gefühlt und geschaffen, und die Musiker werden durch ein Netzwerk hörbarer Hinweise zusammengehalten. Jeder sendet und empfängt diese Zeichen, jeder ist mit jedem anderen in der Zeit verbunden und auf diese Weise tragen alle Verantwortung füreinander. Idealerweise sollte kein körperliches Gestikulieren zwischen den Musikern nötig sein, denn die Hinweise sind selbst klingende Ereignisse. Dieses Netz aus Hinweisen ist innerhalb des Stücks wirklich wichtig, und sein Gebrauch ist auch sonst sehr wichtig für den größten Teil meiner Musik. Außerdem möchte ich die Cues nicht sichtbar werden lassen, damit sie nicht zu einem Spiel werden, das der Hörer dekodiert. Die Cues dienen dazu, die Musiker näher zusammenzubringen, damit sie sich inniger auf den Klang und die minimalen, aber sehr präzisen Verschiebungen der physikalischen Verhältnisse konzentrieren können, um den Hörern zu erlauben, daran teilzunehmen und sich mit einer ähnlich fokussierten Innigkeit auf den Klang selbst zu konzentrieren. Mein Ziel ist es, eine Welt zu konstruieren, in der alle Teilnehmer eindringlich spüren, dass sie ein Teil von ihr sind und eine intensive Lebendigkeit in ihr wahrnehmen. Ich denke, ein solches Ereignis lässt sich nur durch Hören herstellen.

Dem Ideal von Kammermusik folgend, haben die Musiker mit den Partien der anderen Spieler ebenso vertraut zu sein wie mit der eigenen. Koordinieren sollen sie ihr Musizieren rein hörend ohne äußerlich sichtbare Gesten, mit denen Musiker sich sonst gegenseitig Einsätze geben oder Abschnitte markieren. Eine ideale Aufführung von McCormacks Streichquartett verzichtet auf alles zusätzliche Gestikulieren und körperliche Mitgehen, also auf all das, was nicht primär der Hervorbringung von Klang dient. Indem die Musiker ihre sonst unwillkürlich hinzukommende Körpersprache unterdrücken und sich möglichst nur hörend verständigen, soll sich idealerweise auch das Publikum rein hörend auf die Klangresultate konzentrieren, statt durch visuelle Kommunikations- und Expressionsgesten abgelenkt zu werden.

McCormacks Quartett umfasst hundertachtzig Space-Einheiten von jeweils zehn Sekunden. Es dauert also exakt dreißig Minuten und lässt dem Hörer damit ausreichend Zeit, sich auf die Mikrovirtuosität der Spieltechniken und Klangresultate einzustellen. Der Verlauf gleicht einem sukzessiv zu polyphoner Dichte sich aufbauenden und dann wieder abbauenden Kanon samt auskomponiertem dynamisch-farblichem Crescendo beziehungsweise Decrescendo. Spieler und Hörer erleben dies – bildlich gesprochen – wie den Blick durch ein Rastermi­kroskop, bei dem man zunächst nur einen einzelnen Zellfaden erkennt, dann den aus vielen solcher Fäden zusammengesetzten komplexen Organismus, der sich schließlich wieder in seine Bestandteile auflöst. Den Anfang macht ein vierminütiges Solo des Bratschisten. In „Takt“ 25 setzt der erste Geiger ein, in „Takt“ 35 kommen der zweite Geiger und der Cellist hinzu. Die kaum merklich gleitenden Klangmixturen der Stimmen überlagern sich zu immer dichterem Flirren. Zusätzlich verzweigen sich die vier Stimmen jeweils in Doppel-, Trippel- und sogar Quadrupelgriffe, die von den Spielern nach Möglichkeit jeweils als zwei, drei oder gar vier unabhängige Stimmen zu gestalten sind. Nach zwischenzeitlichen Ausdünnungen und Pausen bringt der Bratschist mit neuen Einsätzen in den „Takten“ 57, 100 und 159 weitere solche Verdichtungswellen in Gang. Am Schluss dünnt das Stück auf einen einzelnen Zellfaden aus, um schließlich mit dem jeweils eine Minute dauernden Auf- und Abstrich des zweiten Geigers zu enden.

Farzia Fallah: Tastender Drahtseilakt

Ebenfalls bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik uraufgeführt wurde 2017 das Streichtrio „Lalayi“ von Farzia Fallah. Die 1980 in Teheran geborene Komponistin studierte zunächst im Iran, dann bei Younghi Pagh-Paan und Jörg Birkenkötter in Bremen sowie bei Johannes Schöllhorn zuerst in Köln und dann in Freiburg. Wie McCormack in seinem Streichquartett konzentriert sie sich in ihrem Streichtrio auf Bogendruck, Streichgeschwindigkeit und Kontaktstelle des Bogens auf den Saiten. Doch statt wie der Amerikaner sämtliche Parameter möglichst exakt zu fixieren, lässt Fallah die Musiker eigenverantwortlich verschiedene Obertöne herausholen, denn schließlich kennen diese die spezifischen Ansprechpunkte, Resonanz- und Obertonbereiche ihrer In­strumente am allerbesten. Die Partitur verzeichnet lediglich einzelne natürliche Flageoletts, nicht aber das sich zuweilen öffnende komplette Spektrum an Obertönen. Dass gleichwohl an bestimmten Stellen Mehrklänge intendiert sind, signalisiert lediglich ein „M“ oberhalb des Notensystems. Die Komponistin hatte zunächst selber viel auf Geige, Bratsche und Violoncello ausprobiert. Nun verlangt sie auch von den Musikern Hellhörigkeit und Fingerspitzengefühl bei minimalen Veränderungen von Griff, Bogendruck, Streichtempo, Streichstelle, um die gesuchten Ansprechpunkte zu erreichen und entsprechende Obertöne hörbar werden zu lassen. Für diese Expedition in unbestimmtes Terrain erhalten die Interpreten in der Partitur immerhin klar kartographierte Rahmenbedingungen: Angaben zu Position, Druck und Gleiten der Griffe, zu wechselnden Kontaktstellen und Dynamiken des Bogens sowie zu unterschiedlichen Spieltechniken wie Flageolett, Tremolo, Vibrato, Ordinario und Übergängen von realen Tönen zu Streichgeräuschen.

Bereits die geringfügige Abwandlung eines oder mehrerer dieser Faktoren kann die Schwingungseigenschaften einer Saite gravierend verändern und plötzlich in gänzlich andere Konstellationen umschlagen lassen. Auch Unwägbarkeiten wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit im Saal beeinflussen die Klangansprache. Der Erkundung des akustischen Mikrokosmos jeder einzelnen Saite eignet daher etwas Unvorhersehbares, Vages, Brüchiges, Flüchtiges. Eine Aufführung von Fallahs Streichtrio „Lalayi“ entfaltet sich als abwechselndes Erscheinen und Verschwinden von gesuchten, augenblicklich tatsächlich gefundenen und ebenso schnell wieder im Rauschen verlorenen Obertönen. Auf dieses Werden und Vergehen von Klang zielt auch die Anweisung in der Partitur: „In allen Fällen ist der Prozess der Entstehung des Mehrklanges bzw. dessen Umkippen zu einem Teilton oder Verwandlung zu Streichgeräusch wichtig.“ Die Musiker stellt dies vor eine ungewohnte Herausforderung: Statt ein zuvor möglichst perfekt einstudiertes Ergebnis abzuliefern, sollen sie während des Konzerts höchst fragile Klänge suchen und Gefahr laufen, diese zu verfehlen oder vorschnell wieder zu verlieren. Wie in Stücken von Alvin Lucier, wo gehaltene Instrumentaltöne sich mit gleitenden Sinustönen kreuzen, um verschiedene Schwebungsfrequenzen zu erzeugen, sind die Musiker auch hier stärker als gewöhnlich als Zuhörende gefordert. Die von ihnen hervorgebrachten Klänge erscheinen zunächst nicht als das eigentliche Ziel ihrer Tätigkeit, sondern dienen eher als ausgesendete und dann wieder hörend empfangene Echolote, mit denen die Musiker das Klangfeld ihrer Instrumente sondieren, um gemäß der zurückkommenden Signale die aktuelle Spielweise entsprechend in Richtung auf das tatsächlich gewünschte Resultat abzuwandeln. Was die Musiker im Normalfall bei Proben zu leisten haben, präsentieren sie nun als Ernstfall vor Publikum auf offener Bühne. Das ist ein Wagnis des Unfertigen, Labilen, Flüchtigen, Transitorischen: Ein Drahtseilakt auf den Saiten der eigenen Instrumente. Doch gerade im vorsichtigen Probieren und Tasten der Instrumentalisten sieht Farzia Fallah das Potential für eine besondere Qualität des Klangs und Intensität des Ausdrucks.

Die Klänge sind so fein und zerbrechlich, dass man sie suchen und die dafür erforderliche Spieltechnik erst einmal finden muss. Ich habe im Streichtrio sehr viel mit dem achten und neunten Flageolettton gearbeitet. Diese werden allerdings nicht am Ende des Griffbretts oben gespielt, sondern entlang der Saite, der achte Oberton beispielsweise beim Griff der kleinen Sexte. Diese Klänge sind sehr brüchig, instabil und auch von Instrument zu Instrument, von Bogen zu Bogen, von Interpret zu Interpret verschieden. Daher soll und muss sie jeder für sich selbst auf seinem Instrument finden. Es kann sein, dass die Klänge nicht ansprechen oder umkippen, so dass ein anderer Ton kommt oder mehrere Töne gleichzeitig. Das alles macht die Kontrolle über diese Klänge so schwierig. Aber genau das wollte ich erreichen. Ich wollte die Instrumentalisten absichtlich in ein Gebiet führen, in dem die Kontrolle nicht einfach ist und ständig etwas passieren kann, weil sie mit einer anderen Intensität, mit einer anderen Haltung und Bogenführung spielen. Das Umkippen in einen anderen Klang oder in ein Streichgeräusch, wenn das Flageolett nicht anspricht, ist gewollt. Das meint der Titel „… bis zur Kante“ in den beiden Stücken, die ich nach dem Streichtrio geschrieben habe. Denn diese Klangebene kann man nur schwer notieren oder mit einem bestimmten Rhythmus und Tempo verbinden. Man muss bei solchen Klängen einfach die Eigenzeit suchen.2

Gleich zu Anfang von „Lalayi“ fordert Farzia Fallah von den Musikern Mikrovirtuosität im Millimeterbereich. Vio­line und Viola spielen taktweise versetzt ein Flageolett mit dem Griff as auf der vierten beziehungsweise dritten Saite, während der Bogen langsam zum Steg gleitet. Die leicht gegeneinander versetzt gestrichenen Saiten der beiden Instrumente bewirken folglich zwei verschiedene, sich wechselseitig überlagernde Obertonspektren. Interferenzen entstehen auch durch die versetzt glissandierenden Flageolettgriffe ab Takt 5/6 und das nach anfänglichen Flageolettpizzikati nun ebenfalls mit Bogenaktionen hinzutretende Violoncello. Schwebungen resultieren ferner in Takt 7 aus minimalen Differenzen natürlicher a-Flageoletts aller drei Instrumente. Anschließend geht diese Amplitudenschwankung in die Tonhöhenschwankung eines Geigenvibratos über. Die erneut punktuell hinzu tretenden Pizzikati – die dann auch den Schlussabschnitt dominieren – dienen vor allem als Kontrast, da die distinkten Tonhöhen verdeutlichen, dass dieses Trio ansonsten nur aus Klangkomplexen besteht.

Man denkt, das Stück sei einfach und schnell einzustudieren, doch es ist nicht einfach und braucht genauso viel Probezeit und Aufmerksamkeit von den Musikern. Es erfordert eine andere Sensibilität für den Klang, denn die Klänge sind von vielen Parametern abhängig. Das ist etwas, was jeder Interpret für sich finden muss, denn jeder hat eine andere Struktur und einen anderen Körper. Ich denke, das bewegt sich schon im Bereich von Virtuosität, wenn ich dann wirklich den Klang finde und auf meinem Instrument zum Beispiel ein Pizzikato mehr poco a poco sul ponticello spiele oder weiter vorne, mit dem zweiten, dritten oder vierten Finger, mehr mit der Fingerkuppe oder dem Fingernagel. Das sind alles sehr feine und letztendlich sehr wichtige Dinge.

Das Partiturbild von Fallahs Streichtrio wirkt übersichtlich, reduziert, einfach. Die resultierenden Klänge sind jedoch allesamt ungemein vielschichtig, lässt man sich als Spieler und Hörer erst einmal auf den äußerlich limitierten Rahmen ein. In der inneren Belebung der Klänge zeigt sich möglicherweise auch eine Prägung durch die Aufführungspraxis und Klanglichkeit persischer Musik. Schließlich versah Farzia Fallah ihr Stück mit dem Untertitel „Schlaflied für Sohrab Sepehri“, um es eben diesem iranischen Lyriker und Maler (1928–1980) zu widmen. Dessen Gedicht „Fern von den Nächten“ stellte Fallah ihrer Partitur voran, um dem jederzeit möglichen Umschlagen von Klang in Geräusch (und umgekehrt) in der Musik eine verbale Entsprechung in den poetisch geschilderten Umschlägen von Traum und Wirklichkeit, Idylle und Grausamkeit, Krieg und Frieden zu geben.

Fern von den Nächten
voller Metallreibung
schenke mir den Schlaf,
unter einem Zweig.
Und in der Zeche des Lichts,
wenn hinter deinen Fingern,
der Jasmin erstrahlt,
werde ich aufwachen.
Dann
Erzähle mir von den Bomben,
die fielen,
während ich schlief.

Auf das Phänomen Mikrovirtuosität angesprochen, verweist auch Fallahs Lehrer Johannes Schöllhorn auf mögliche Prägungen durch deren iranische Herkunft.

In meinem Unterricht tauchen Themen wie Mikrointervallik eigentlich dann auf, wenn es ein Stück braucht. Wenn also jemand wie Farzia mit ihrem Streichtrio zu mir kommt und bestimmte Dinge erreichen möchte, dann muss ich als Kompositionslehrer natürlich darauf hinweisen: Schau mal, das hat da oder dort schon jemand gemacht – was sie auch schon von sich aus wusste –, das kann man so oder so machen, das hat rein physikalisch diesen oder jenen Effekt und kann die oder die ästhetischen Implikationen haben, et cetera. Natürlich spielt das eine Rolle. Farzia hat auch mit Texten von persischen Mystikern gearbeitet, und das taucht auf ganz unterschiedliche Weise in ihrer Musik auf. Ich finde es schön, dass man nicht immer gleich dingfest machen kann, wie sich so etwas abbildet oder was das auslöst, weil sie ja keine persische Musik schreibt, und kein Exotismus entstehtdas wäre ja das Schlimmste, sondern einfach dieses Denken oder Fühlen eine Rolle spielt. Eine iranische Komponistin, die in Deutschland lebt und komponiert, muss hier nicht ihre persische Musik vorzeigen. Aber dass ihre Herkunft einen Einfluss hat, ist doch selbstverständlich.3

Aus der Idee des Streichtrios ging auch Farzia Fallahs Ensemblestück „tänzerisch bis zur Kante“ (2017) hervor, eine ebenfalls sphärisch von Klang zu Klang schwebende Musik. Zu Violine, Viola und Kontrabass (anstelle des Vio­loncellos) kommen Flöte (auch Pikkolo), ein Gong in As und Klavier hinzu. Wie im Trio heißt es auch in dieser Partitur immer wieder: „die höheren Obertöne herausholen“, „Mehrklang suchen“ und „immer organische Übergänge“ zwischen verschiedenen Spielweisen gestalten. Alle Instrumentalisten haben ihre Tonhöhen und Klangcharaktere gemäß ihrer spezifischen Spielmöglichkeiten zu modifizieren: die Flöte durch verschiedene Blastechniken; die skordatierten Streicher durch Vibrati, Tremoli, Glissandi sowie Wechsel von Bogendruck und Ansatzstelle; der Schlagzeuger durch Schlagen, Klopfen, Wischen, Kratzen und Tremolieren des Gongs an fünf verschiedenen Spielstellen zwischen Zentrum und Rand; der Pianist durch Aktionen im Innenklavier sowie die Präparation von neun ausgewählten Saiten mit Gummistückchen, so dass anstelle des Grundtons jeweils ein ganz bestimmter Oberton erklingt. Wie bei „Lalayi“ notiert die Komponistin für die Streichinstrumente in diesem Schwesternwerk: „Die Mehrklänge bei allen Instrumenten sollen durch Bogendruck, Bogengeschwindigkeit und Kontaktstelle gesucht werden. In allen Fällen ist der Prozess der Entstehung des Mehrklanges bzw. von dessen Umkippen zu einem Teilton wichtig.“

Farziah Fallah ist eine Meisterin des kleinsten Übergangs. Sie schafft nahtlose Brücken zwischen minimal verschiedenen Klangfarben und Tonhöhen, so dass durchgehende Klangketten resultieren. Mal verschmelzen die Partien simultan zu in sich bewegten Klanggemischen, mal verändert sich der Klang kaum merklich von Einsatz zu Einsatz, bis schließlich dennoch eine gänzlich andere Tonhöhe oder Klangcharakteristik erreicht ist. Graduelle quantitative Veränderungen führen so plötzlich zu qualitativ neuen Situationen. Gegen Ende gleiten hohe Flageolett-Pizzikati höher und höher, bis die Saite irgendwann so stark verkürzt ist, dass sie nicht mehr wirklich zu schwingen vermag und der Klang ins Perkussiv-Tonlose umschlägt. Auch das ist ein Aspekt des Titels „... tänzerisch bis zur Kante“: Die Musik wird an Extrempunkte geführt, wo sie nicht wie bisher weitergehen kann, sondern in etwas anderes umschlägt. Uraufgeführt wurde die gut viertelstündige Komposition im Oktober 2017 im Alten Pfandhaus Köln beim Debütkonzert des Ensembles Kollektiv3 : 6Köln. Mit zu Fallahs Trilogie gehört als drittes Werk – dessen Anfang aus dem Schluss des ersten Ensemblestücks erwuchs – „tänzerisch an der Kante“ für Ensemble, uraufgeführt vom Ensemble Musikfabrik beim Festival NOW! im November 2017 in der Philharmonie Essen.

Yasutaki Inamori: Rituelle Szenen

„Canonic Scenes“ für einen Schlagzeuger (2014) von Yasutaki Inamori folgt einem klaren Spiel- und Klangkonzept. Das zweisätzige Stück wurde von der Schlagzeugerin Rie Watanabe in Auftrag gegeben und beim Forum neuer Musik 2017 im Kölner Deutschlandfunk uraufgeführt. Im ersten Satz „Canon for four kins“ verwendet Inamori lediglich vier japanische Reibegongs, genannt Kin, Rin oder Dobachi. Die kleineren Instrumente (extra small und small) sollen hinter den größeren (medium und large) aufgestellt werden, sodass sie das Publikum nicht sieht. Die Tempelin­strumente liegen nicht wie üblich auf Kissen, sondern auf leeren Kisten oder Rohren, damit sie stärker nachklingen. Statt mit Holzschlägeln werden sie mittels Tischtennisbällen bespielt. Die Schlagzeugerin lässt die Bälle aus verschiedenen Höhen (auf drei Notenlinien differenziert) in die Instrumente fallen, um sie wahlweise entweder direkt nach dem Aufprall wieder aufzufangen (Punkt unter dem Notenwert) oder – je nach Fallhöhe und notierter rhythmischer Dauer – unterschiedlich oft zurückprallen zu lassen (Pfeile auf und ab unter dem Notenwert). Hinzu kommen Schläge mit festgehaltenem Ball (Kreuz unter dem Notenwert) sowie Einsätze des traditionellen Holzschlägels (rechteckiges schwarzes Schlägelzeichen). Die Partitur verzeichnet jedes Rin in einem eigenen Notensystem, wobei linke und rechte Hand je einen kleinen und großen Rin bespielen.

1978 in Tokio geboren, studierte Yasutaki Inamori zunächst an der Gakugei Universität in Tokio und von 2009 bis 2011 an der Kölner Musikhochschule bei Johannes Schöllhorn sowie elektronische Musik bei Michael Beil. Wie in anderen Werken konzentriert er sich in „Canon for four kins“ auf einen einzigen Sachverhalt, um diesen mit einem bestimmten Konzept umso strenger auszuloten. Er pflegt einen sparsamen, gleichsam ökologischen Umgang mit den von ihm gewählten Ressourcen. In obligatem Neunsechzehnteltakt gestaltet er wechselnde Kombinationen zwischen den zweistimmig enggeführten Par­tien von rechter und linker Hand. Die Auf- und Rückpraller der Tischtennisbälle sind sich dabei alle sehr ähnlich, sodass man stets kanonische Folgen zu erkennen meint. In Wirklichkeit entfaltet sich die Kanonstruktur jedoch nicht linear von vorne nach hinten, sondern als Spiegelkanon, bei dem ab der Mitte (Takt 31) die Einsatzfolge krebsgängig zum Anfang des Stücks (Takt 62) zurückläuft.

Bei aller Selbstähnlichkeit der Ereignisse gibt es zugleich ständig rhythmische und klangliche Differenzen. Je nach Volumen und Eigenfrequenzen der Rins klingen die knackenden Impulse der darin aufspringenden Pingpongbälle heller oder dunkler, mit kürzerem oder längerem Nachhall. Der Spielerin wird dabei eine völlig neue Aktions- und Reaktionsweise abverlangt. Während bei Perkussionsinstrumenten sonst jeder Schlag direkt den entsprechenden Klang zufolge hat, liegt hier zwischen dem Fallenlassen des Balls und dessen hörbarem Aufprall eine Zeitspanne, die zwar gering ist, bei den exakt zu realisierenden Rhythmen aber genau einkalkuliert und je nach Fallhöhe entsprechend antizipiert werden muss. Die Schlagzeugerin hat bei Inamoris Stück also die ganze Zeit gegen die von ihrem Körper und Geist verinnerlichte Ursache-Wirkungs-Kausalität zu agieren. Das verlangt höchste Konzentration und Anspannung. Zudem haben die sichtbaren Aktionen der Spielerin eine latent szenische Qualität. Wie der Obertitel „Canonic Scenes“ schon sagt, handelt es sich nicht nur um Musik zum Hören, sondern auch zum Sehen. Allein die Verwendung der Rins ist bereits von geradezu thea­tralischer Spannung, da es sich nicht um Musikinstrumente, sondern um rituelle Tempelinstrumente handelt, in die man niemals Tischtennisbälle fallen lassen würde. In buddhistischen Familien – Inamori selber stammt aus einer christlichen – stehen die Rins bei kleinen Hausaltären, auf denen man den verstorbenen Ahnen Räucherstäbchen und Essensgaben darbringt und dazu die kleinen Gongs anschlägt, deren Namen ihren charakteristischen Klang onomatopoetisch nachzeichnet.

Für mich ist es sehr wichtig, Musik im Konzert zu erleben. Ich höre gerne CDs und Aufnahmen, aber ein Konzert ist eine ganz besondere Situation, und ich versuche, die rituellen Elemente dabei nicht zu vergessen. Ein Konzert stilisiert den Auftritt der Musiker und das Verhalten der Zuhörer, also ruhig bleiben, Handy ausschalten, und so etwas. Wie die Menschen im Konzert Musik genießen, finde ich sehr rituell. Deswegen betone ich diese Elemente in meiner Musik. Die Rins stammen aus dem Buddhismus, und deswegen wollte ich dazu Assoziationen provozieren. Den Klang der Rins mochte ich immer schon. Und Rie Watanabe hat für mich in ihrem Proberaum unterschiedliche Schlägel und andere Dinge mit ihnen ausprobiert. Am besten gefiel mir der zurückprallende Klang von Tischtennisbällen. Ich wollte damit nicht irgendwelche Religionen beschwören, seien sie buddhistisch oder christlich, sondern mich faszinierte einfach, dass es dabei – wie immer im Konzert – nicht nur um Klang und Hören geht, sondern dass das gesamte Konzerterlebnis als eigenes Ritual vom normalen Leben abgegrenzt ist. Das wollte ich in Erinnerung rufen. Tischtennisbälle, die in Rins fallen, sind für Japaner keine Provokation in dem Sinne: Arrgh, das kann ich nicht haben! Die Wirkung ist eher sanft: Oh, ich kenne das irgendwie, aber es ist anders und rätselhaft, also was ist es?4

In „Canon for four kins“ plaziert Inamori die zwei kleineren Tempelgongs hinter den größeren. Das Publikum sieht daher die Schlagzeugerin entweder die beiden großen Gongs links und rechts mit beiden Händen bespielen oder scheinbar zwei Tischtennisbälle gleichzeitig in ein und denselben Gong werfen, obwohl sie in Wirklichkeit den größeren vorne und den kleineren dahinter bespielt. Die Präzision der Spielerin wirkt dadurch noch virtuoser als sie ohnehin schon ist. Zudem nimmt die Komposition dadurch etwas Eigenartiges, Geheimnisvolles an. Rituell wirkt auch die Schlusspassage des knapp acht Minuten dauernden ersten Satzes. Die beiden Pingpongbälle werden hier plötzlich in die größte Klangschale geworfen und dann durch Schwenken hin- und hergerollt. So entsteht statt der bisher punktuellen Kontakte zwischen Bällen und Metallinstrumenten nun ein entsprechend kontinuierlicher, leicht kratzender und sehr obertonreicher Klang. Anschließend wird der Gong samt Bällen auf ein Kissen gekippt und fortan auf der Rückseite mit einer langen Metallschraube rhythmisch bestrichen. Indem die Spielerin dabei den Anstrichwinkel variiert, resultieren unterschiedliche metallische Tonhöhenfärbungen. In der konzeptuellen Klarheit von Ina­moris Stück sieht sein einstiger Lehrer Schöllhorn – der mit einer Japanerin verheiratet ist – etwas spezifisch Japanisches.

Diese diskrete Ästhetik ist sehr japanisch. Sie macht nicht Reklame für sich, sondern die Schönheit liegt einfach in der Beherrschung des Handwerks. In Japan gibt es „lebende Kulturdenkmäler“. Das sind Leute, die ein Handwerk, zum Beispiel die Töpferei, außerordentlich virtuos beherrschen. Es sind sehr ästhetische, aber gleichzeitig auch handwerkliche Berufe, weil sie mit Gebrauchsgegenständen zu tun haben. Ich finde, dass Yasutaki dieser Ästhetik sehr nahekommt: Seine Stücke machen keine Reklame für sich, sind aber extrem kompliziert und virtuos, einfach zauberhaft.

Einem klaren Konzept folgt auch Yasutaki Inamoris „Accelerando“ für Orgel (2017). Uraufgeführt wurde das Stück von Jan Esra Kuhl – dem Widmungsträger – im selben Jahr beim Orgelfestival Mixturen in der Kunst-Sta­tion Sankt Peter Köln. Im Schriftbild scheinbar schlicht, ist es wegen seiner intrikaten Rhythmik und permanenten Registerwechsel schwer zu spielen, selbst wenn der Organist für die verschiedenen Registrierungen eine Speicherfunktion zu Hilfe nimmt. Zentrales Material des Stücks sind Interferenzen und Differenz­töne, die entstehen, wenn sich zwei eng beieinanderliegende Töne überlagern. Das menschliche Gehör nimmt dann nicht mehr zwei verschiedene Töne wahr, sondern nur noch eine rhythmisch pulsierende Schwebung. Denn die gegeneinander verschobenen Amplituden der Töne addieren und subtrahieren sich abwechselnd, sodass ihre Summe eine periodisch an- und abschwellende Lautstärke bildet. Die verschiedenen Geschwindigkeiten dieser Lautstärkeschwankungen beziehungsweise Schwebungen sind das eigentliche Material von Inamoris Stück.

„Accelerando“ beginnt mit der liegenden Sekundreibung E1-Fis1 im Sechzehn-Fuß-Subbass-Register. Die extrem tiefen Töne haben Frequenzen von 20,6 und 23,1 Hertz. Die von ihnen verursachte Schwebung pulsiert folglich mit der Differenz von 2,5 Hertz. Der Schmelzklang schwillt also zweieinhalb Mal pro Sekunde periodisch an und ab. Im Laufe des Stücks erklingen im Pedalregister und Hauptwerk abschnittsweise jeweils andere Liegetöne, die sich als kleine und große Sekunden überlagern. Durch weitere Sekundreibungen im Schwell- und Positivregister werden die Schwebungen der Grundtöne mit zusätzlichen Interferenzen kombiniert. Außerdem schaltet der Organist – in der Partitur ganz oben in einem eigenen System vermerkt – mit der linken Hand ständig andere Register rhythmisch zu und weg. Im Verlauf des Stücks erfolgen diese Registerwechsel immer schneller, was der Titel „Accelerando“ benennt.

Das Thema Mikrovirtuosität mag ich sehr. Ich bin eigentlich gegen normale Virtuosität, also gegen showcasemäßige neue Musik, bei der junge Komponisten, die das Glück haben, für ein bekanntes Ensemble schreiben zu dürfen, oft sehr viele Noten schreiben. Das macht auf mich wenig Eindruck. Ich bin sehr vorsichtig, wenn ich einen Ton notiere, denn er muss klar und transparent geschrieben sein. Von Musikern, mit denen ich zusammengearbeitet habe, hörte ich oft, dass meine Musik sehr schwer zu spielen sei, weil man sofort merkt, wenn etwas falsch ist. Man kann diese Musik nicht mit Drive spielen, sondern sie muss genau gespielt werden. Genauigkeit der Aufführung ist für mich sehr wichtig, und das hängt mit Mi­krovirtuosität zusammen. Aber ich mag auch das Mensch­liche einer Aufführung. Zum Beispiel habe ich mit Jan Kuhl eine Diskussion über „Accelerando“ gehabt. Die komplexe Rhythmik und deren lineare Beschleunigung kann man nicht mechanisch wie ein Metronom spielen. Ein Mensch macht daraus zwangsläufig ein Ungefähr.

Die Registerwechsel in „Accelerando“ erfolgen zunächst sehr langsam und werden dann allmählich schneller. Zu Anfang gibt es im obligaten Fünfvierteltakt nur einen Registerwechsel im Abstand von vier Vierteln. Dann kommt es zu drei Registerwechseln pro zwei Takte, schließlich zu zwei Wechseln pro Takt, zweieinhalb Wechseln pro Takt, drei pro Takt, und so weiter, bis am Ende in jedem Takt sieben Mal eine andere Registratur zu- und weggeschaltet wird. Analog zu den Amplitudenmodulationen benachbarter Frequenzen komponiert Ina­mori also auch auf der Ebene der Klangfarben so etwas wie Schwebungen beziehungsweise periodisch schneller werdende Registerwechsel. Neben den alternierenden Registern lässt er einzelne Register auch streckenweise liegen. Dies vermerken nach rechts gerichtete Pfeile an den Noten mit Hälsen nach unten.

Entscheidend ist aber, dass nicht primär andere Klangfarbenregister mit den Liegetönen alternieren, sondern nach dem Aliquot-Prinzip vor allem andere Tonhöhen in verschiedenen Oktavlagen und Intervallverhältnissen hin­zutreten: Terz, Quinte, Septime, Oktave, None und Undezime inklusive deren Oktavierung und Doppeloktavierung. Diese Intervalle färben die liegenden Grundtöne wie künstlich zugeschaltete Obertonspektren ein. Dabei kommt es zusätzlich zu Interferenzen. Wie bei den liegenden Grundtönen entstehen auch zwischen den zu- und weggeschalteten Aliquot-Registern Differenztöne und Schwebungen, die so schnell sein können, dass sie das menschliche Gehör nicht mehr als pulsierende Dynamikschwankungen wahrnimmt, sondern als Rauhheiten beziehungsweise als unterschiedliche Klangfarben. Das Hören distinkter Tonhöhen und Dauern schlägt um in Klangfarbenhören. Yasutaki Inamori nutzt das alte Orgelprinzip der Aliquot-Register ähnlich der frühen elek­tronischen Musik, wo etwa Karlheinz Stockhausen in „Studie I“ von 1953 Klangfarben ausschließlich dadurch komponierte, dass er jeweils fünf verschiedene Sinustöne zu künstlichen Spektren verband. Analog dazu verzichtet Inamori in „Accelerando“ bewusst auf den Einsatz unterschiedlicher Farbregister, über die ja gerade die Orgel besonders reichhaltig verfügt, um stattdessen nur mittels Tonhöhenwechseln beziehungsweise unterschiedlicher Interferenzen eine durchgehende Klangfarbenmelodie zu komponieren.

Sensibilisierung: Implizit politisch

Die sensibilisierende Wirkung feiner und feinster klanglicher Differenzierungen wird in Bezug auf neue Musik immer wieder gerne beschworen. Bei den hier besprochenen jüngsten Beispielen für Mikrovirtuosität spielt dieser Aspekt zweifellos eine zentrale Rolle. Inmitten des zunehmend anonymisierten und automatisierten Alltagslebens sowie eines von Leistungsdruck, Verfügbarkeits- und Flexibilitätsforderungen geprägten Arbeitslebens würden die genannten mikrovirtuosen Kompositionen gemäß aktuellem Lifestyle-Diskurs wohl auch mit dem Begriff „Achtsamkeit“ in Verbindung gebracht, also mit einem besonderen Bewusstsein des Menschen für seine Umwelt und für sich selbst samt all seiner situa­tiven, körperlichen und geistigen Befindlichkeiten, Beeinträchtigungen und Bedürfnisse. Im Kontext aktueller gesellschaftlicher Veränderungen von Kommunikation, Konsum, Arbeits- und Medienverhalten gewinnt die sensibilisierende Kraft dieser Musik – um auf die anfangs gestellte Frage zurückzukommen – womöglich auch einen implizit politischen Aspekt. Wenn Musik in der Lage ist, die Wahrnehmung von Spielern und Hörern auf die Voraussetzungen des Klingenden zu fokussieren, dann könnte ein solcherart hellhörig gemachter Mensch auch in der Lage sein, seine tägliche Umwelt neu wahrzunehmen und auf deren Bedingungen hin kritisch zu befragen. Dinge, Worte und Taten nicht einfach als das hinzunehmen, als was sie proklamiert und vorgeblich gemeint werden, sondern als das zu durchschauen, was sie wirklich sind und bezwecken, wäre eine Basis für kritisches Urteilsvermögen und damit eine Grundvoraussetzung für politisches Denken und Handeln. Zudem liegt den genannten Kammermusikwerken ein soziales Modell zugrunde. Die Musiker handeln selbstbestimmt und zugleich interaktiv mit den anderen Spielern, um gemeinsam zum Gelingen des Ganzen beizutragen, und die Hörer schenken selbst feinsten Differenzierungen ihre Aufmerksamkeit. Von hier aus ist es zwar noch ein Weilchen bis zur Weltrevolution. Aber in solch sensibilisierendem Sinne vermag Mikrovirtuosität vielleicht auch – wie Nicolaus A. Huber sagen würde – mikropolitisch zu wirken.

1 Diese und seine weitere Stellungnahme schickte Timothy McCormack als Audio-Files auf Fragen des Autors am 10. November 2017.

2 Diese und weitere Äußerungen von Farzia Fallah stammen aus einem Gespräch, das der Autor am 11. November 2017 in Köln mit der Komponistin geführt hat.

3 Diese und weitere Äußerungen von Johannes Schöllhorn stammen aus einem Gespräch, das der Autor am 22. September 2017 in Köln mit ihm geführt hat.

4 Die Äußerungen von Yasutaki Inamori ­stammen aus einem Gespräch, das der Autor am ­4. November 2017 in Köln mit dem Komponisten geführt hat.