MusikTexte 157 – Mai 2018, 3–4

Zeitschriften- oder Kommunikationskrise?

von Max Nyffeler

Ein Gespenstlein geht um in Europa – das Gespenstlein des Musikzeitschriftensterbens. Kürzlich stand in der FAZ, die Positionen würden eingestellt, was umgehend dementiert wurde. Definitiv erwischt hat es hingegen die traditionsreiche Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ). Das Editorial, in dem die Redaktion das Ende verkündet hat, ist mit einer Gasmaske geschmückt; die Illustration bezieht sich zwar auf die Thematik des Hefts, die Musik nach dem Ersten Weltkrieg, aber sie passt auch ganz gut zur publizistischen Todesnachricht. Und der dritte Fall betrifft die reiche Schweiz, wo der zweisprachigen Zeitschrift Dissonance/Dissonanz die Trägerschaft abhanden kam. Der Schweizer Tonkünstlerverein fusionierte mit zwei anderen Organisationen zu einer neuen beruflichen Interessenvereinigung namens Sonart, und diese setzt die Finanzierung nicht mehr fort. Nun muss die Zeitschrift sich auf dem freien Markt behaupten.

Handelt es sich bei diesen unterschiedlich gelagerten Beispielen um Einzelfälle von Spezialpublikationen, die anders als die großen Medien eben seit je auf wackeligen Füßen stehen? Oder sind es vielmehr Krisensymptome, die auf etwas Grundsätzliches verweisen? Diese Frage drängt sich auf, wenn man die Vorgänge vor dem Hintergrund des allgemeinen Medienwandels betrachtet, verursacht durch die neuen Technologien im Verbund mit den geänderten Leseerwartungen und Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums. Das betrifft vor allem die Digital Natives; ihr Musikbegriff hat sich ins Uferlose erweitert, und sie informieren sich lieber über die Social Media und alle möglichen Peergroup-Kanäle als über ein Papiermedium. Das hieße aber: Die Zeitschriftenkrise ist in Wahrheit eine Kommunikationskrise. Eine Zeitschrift erreicht ihr Publikum nicht mehr, wenn ihre Inhalte und die Art, wie sie vermittelt werden, an dessen Interessen vorbeigehen. Also müsste man entweder die Inhalte und ihre Vermittlung den gewandelten Leserinteressen anpassen oder sich das Publikum anderswo suchen. Das ist etwas mühsam, aber unumgänglich.

Die Spezialpublikationen mit geringer Auflage und Reichweite, und dazu gehören die Neue-Musik-Publika­tionen, haben den Vorteil, dass sie nahe am Publikum sind und dessen Interessen gut abschätzen können. Wenn eine solche Zeitschrift in Schieflage gerät, stimmt also grundsätzlich etwas nicht mehr. Bei den drei genannten Fällen liegen die Probleme ganz unterschiedlich. Bei der ÖMZ hat sich die ganze Struktur überlebt; das Modell einer Zeitschrift mit breiter Thematik stammt aus einer Zeit, da es noch ein homogenes Klassikpublikum gab, und offenbar bringt diese kulturelle Dienstleistung für eine versprengte Leserschaft heute auch dem Verlag keinen Nutzen mehr. Im Fall der Positionen spielt ganz einfach die persönliche Entscheidung der Herausgeberin Gisela Nauck eine Rolle, die nach drei Jahrzehnten engagierter Herausgeberschaft die Arbeit in andere Hände legen möchte und der FAZ (Ausgabe vom 11. April 2018, 11) mitteilte, „dass die geplanten drei Nummern des Jahrgangs 2018 noch erscheinen werden und es zudem Hoffnung auf weitere gebe“.

Schließlich die Dissonanz: Die schönen Tage in Aranjuez beziehungsweise im Schoße des Tonkünstlervereins sind zwar jetzt zu Ende, aber dessen Mitglieder sind noch da und werden die Zeitschrift nun eben privat abonnieren. Außerdem gibt es ja noch die Anzeigen. Also: Keine Panik auf der Titanic. Die Neue-Musik-Kapelle spielt weiter.

Doch wie geht es eigentlich den anderen Zeitschriften im sogenannten Klassiksektor? Ein kurzer Blick auf die europäische Szene offenbart eine erstaunliche Vielfalt. Von einer Publikumszeitschrift wie der französischen Diapason – Motto: „L’amour du classique, la passion de l’excellence“ – über Zeitschriften für den Tonträgermarkt wie die englische Gramophone und das deutsche Fono­forum, über die Opernwelt und Musik & Theater bis zu den konsequent auf neue Musik fokussierten Periodika Neue Zeitschrift für Musik, Positionen, Seiltanz, MusikTexte und der theoretisch orientierten Vierteljahresschrift Musik & Ästhetik ist so ziemlich jedes Themenfeld abgedeckt. Alle sind auch im Netz präsent, wenn auch in unterschiedlicher Weise.

Digitale Ausgaben hätten sich zwar längst eingebürgert, sagt Christiane Albiez, Unternehmenssprecherin des Schott-Verlags, doch das Printmedium sei immer noch klar führend. Schott verfügt über ein ganzes Portfolio von Zeitschriften mit zielgruppenspezifischer Ausrichtung, darunter auch die Neue Zeitschrift für Musik. „Kein Medium vermag den Austausch mit diesen unterschiedlichen Zielgruppen lebendiger zu gestalten als Zeitschriften“, erläutert Albiez. „Sie sind nach wie vor die ideale Plattform, um auf aktuelle Trends zu reagieren, neue Autorinnen und Autoren kennenzulernen und mit unseren Endkunden den Direktkontakt zu pflegen.“ Die Doppelfunktion der Schott-Zeitschriften als Träger qualifizierter kultureller Information und als Marketinginstrument bewährt sich offensichtlich. Ein Titel steht jedoch dem Vernehmen nach auf dem Prüfstand: das zusammen mit dem Deutschen Musikrat herausgegebene Musikforum. Verständlich, denn die hier verhandelten Themen wirken oft wie ein mattes, offiziös eingefärbtes Echo der zugespitzten kulturpolitischen Debatten in den Feuilletons.

Die Auflage des Musikforums wird durch die vielfachen Untergliederungen des Musikrats gestützt, die hier ihre Verbandsmitteilungen veröffentlichen. Nach demselben Prinzip funktioniert auch die neue musikzeitung. Die Verbandsabos bieten Sicherheit, färben aber auch auf die publizistische Ausrichtung ab. Die Schweizer Musikzeitung folgt demselben Modell einer verbandsgestützten Zeitschrift. Zusätzliche Sicherheit bietet ihr die administrative Einbindung in die NZZ Fachmedien AG, einem Verbund von technischen Fachzeitschriften und Online-Publikationen.

Der Verlag der nmz baute 1997 als einer der Pioniere seine Internet-Präsenz auf, und ein Jahrzehnt später kam mit nmzMedia die Videoproduktion dazu. Diese Art von Trimedialität ermöglicht schnelle Reaktionen auf das aktuelle Geschehen und stellt zweifellos ein zukunftsträchtiges Modell dar. Ganz allgemein gilt aber: Repräsentativ für eine publizistische Marke ist noch immer die Printausgabe. Auch die Anzeigen sind weiterhin an das physische Produkt gebunden, bei der nmz sind das rund neunzig Prozent.

Mit der unaufhaltsamen Verlagerung der musikalischen Kommunikation ins Internet wachsen andererseits die Chancen für kommerziell betriebene Online-Maga­zine. Das jüngste ist takt 1.de aus Dortmund, eine Gründung aus dem Umfeld des dortigen Studiengangs Musikjournalismus. Allerdings ist hier Journalistik nur Beigabe zu einem im Aufbau befindlichen Klassik-Kanal, der gegen eine Abogebühr ausgesuchte Konzert- und Opernmitschnitte anbietet. Die journalistischen Beiträge, auch wenn sie durchaus Fachwissen verraten, sind deshalb mehr Appetizer, um auf das firmeneigene Musikangebot aufmerksam zu machen. Immerhin erscheint auf der Webseite auch einmal eine Koryphäe wie Jürgen Kesting mit einem Text über Countertenöre.

Kommerzielle Musikportale sind wegen der Werbung in der Regel auf Klickraten angewiesen. Somit gibt es hier einen Trend zum Servicejournalismus, bei dem Kritik und Geschäftsinteresse nicht mehr genau zu trennen sind. An Autoren herrscht dabei kein Mangel. Es gibt genügend junge Leute, meist Hochschulabgänger mit musikalischem Hintergrund, die für ein paar Euro ihre ersten Erfahrungen machen möchten und sich über Presse­tickets freuen. Ein Trend zur wohlmeinenden Event-Berichterstattung ist dabei unübersehbar – welcher Berufsneuling möchte es sich schon mit dem Portalinhaber und den Veranstaltern verderben?

Das Online-Magazin faustkultur.de macht da eine Ausnahme. Bei diesem Namenspatron steht man kulturell auf gesichertem Boden. Getragen von einer Stiftung und finanziert aus privaten und öffentlichen Quellen aus dem Raum Frankfurt, versammelt es durchweg honorige Autoren um sich. Der Geist unaufgeregter linksliberaler Bürgerlichkeit spricht aus den gediegen argumentierenden Beiträgen. Musik spielt auf diesen Seiten, die in Stil und Stoffauswahl dem traditionellen Zeitungsfeuilleton ähneln, jedoch nur eine Nebenrolle.

Ganz der Musik widmet sich hingegen das Online-Magazin niusic.de – eine Zusammenziehung von „new“ und „music“. Die Texte schreibt eine Gruppe junger Musikjournalisten, die aus der Akademie für Musikjournalismus beim Heidelberger Frühling hervorgegangen sind. Die munter geschriebenen Beiträge, oft in der Ich-Form, bewegen sich zwischen Fachjournalismus und publikumsfreundlichem Magazinstil. Die sympathische Spielwiese gleicht einem kulturellen Startup, dessen Finanzierung offenbar durch die im Impressum genannte Medienfirma Rondo GmbH erfolgt.

Das Musikportal van.de definiert sich als „unabhängiges, leidenschaftliches und kritisches Magazin“. Thematisch deckt es den gängigen Klassikbereich bis Ligeti und Lachenmann ab, Themenartikel liefern Anstöße für Diskussionen. Man muss das Magazin abonnieren, frei zugänglich sind nur zwei Beiträge pro Monat. Aktionen wie die Teilnahme an Verlosungen, bei denen man Veranstaltungstickets gewinnen kann, dienen der Publikumsbindung. Laut Mediadaten ist der Hauptteil der Leser zwischen fünfundzwanzig und vierundvierzig Jahre alt.

Die Zeitschriftenszene erweckt somit den Eindruck reicher Vielfalt. Doch einige ketzerische Fragen wären durchaus angebracht: Inwieweit wird hier ein Musikbetrieb, über dessen Sinn und Zweck sich kaum noch jemand Gedanken macht, bloß unkritisch gespiegelt? Verkümmert in der Mediengesellschaft die „Klassik“ zum gehobenen Entertainment? Sind wir noch offen für ihre aufklärerische Botschaft? Was erwarten wir von der heutigen Musik im Hinblick auf unsere zeitliche Existenz? Stecken in ihr, über die egozentrische Kategorie der Selbstverwirklichung und den aktuellen Politkram hinaus, überhaupt noch Handlungsmotive, die auf die Zukunft verweisen? Oder ist sie nur noch ein intellektuelles Spielzeug in den Händen einer ängstlichen, geschichtsblinden Generation?

Die Diskussion solcher Fragen dürfte für das Überleben einer Musikzeitschrift nicht weniger wichtig sein als die Fähigkeit, sich dem Medienwandel anzupassen. Von der Redaktion verlangt das eine klare Vorstellung über die eigenen Ziele und Ideen, verbunden mit einer Offenheit gegenüber dem von außen kommenden Neuen – nicht nur in der Musik, sondern auch in der Gesellschaft. Auch in der zeitgenössischen Musik wird häufig bloß das Bekannte reproduziert. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er hält sich gern an das, was ihm schon einmal über den Weg gelaufen ist, und im Extremfall sind das dann die Namen von einem Dutzend Komponist/innen und Interpret/innen, die als Premiummarke den Festivalprogrammen Wert und Adel verleihen. Auch in den alternativen Zirkeln gibt es solche Tendenzen zur Bewusstseinsverengung. Deren Endstufe ist Dogmatismus, und dafür gibt es heute auch das Wort „Blase“. Eine Zeitschrift und damit die Kritik hätte die Aufgabe, solche Blasen aufzustechen und den Horizont zu öffnen. Nur geistige Offenheit garantiert das Überleben im medialen Wettbewerb. Mit „anything goes“ hat das übrigens nichts zu tun. Aber das wäre wieder eine andere Diskussion.