MusikTexte 157 – Mai 2018, 18–20

Phantasien eines musikalischen Graphikers

Dieter Schnebel im Gespräch über die Neuausgabe von „MO-NO“ in der Edition MusikTexte

mit Stefan Fricke

Das vorliegende Gespräch fand im März 2018 anlässlich der Vorstellung der Neuausgabe von Schnebels Buch „MO-NO. Mu­sik zum Lesen · Music to Read“ im Berliner Buchhändlerkeller statt. Die 1969 im Kölner Verlag DuMont Schauberg erschie­nene Originalausgabe wurde durch ein Gespräch zwischen Dieter Schnebel und Reinhard Oehlschlägel (1970) über die „Komposition“ des Buchs ergänzt und die Übersetzung ins Englische überarbeitet. Die Beilagen „Umrisse I“, „Umrisse II“ und „Assoziationen“ wurden neu gestaltet und geordnet.

Wieso ist diese „Musik zum Lesen“ damals auf Deutsch und auf Englisch erschienen?

Das Buch entstand 1969 zu einer Zeit, als in der Neuen Musik, speziell in der Avantgardemusik, das Experiment sehr hoch geachtet war. Ich hatte da ein paar schon gewagte Stücke gemacht und publiziert, zum Beispiel „Nostalgie“, Solo für einen Dirigenten. Das war ein Stück, in dem der Dirigent eben nur als Dirigent auftritt, ins Publikum hinein dirigiert, und man hört keinen Ton. Die Idee dieses Stücks war die, dass der Zuschauer sich aus den Gesten des Dirigenten seine eigene Musik im Kopf macht. Das habe ich ein paar Jahre später in einer anderen Komposition fortgesetzt, die hieß „Ki-No“, Nachtmusik für Projektoren und Hörer. Da wurden Dias von drei Projektoren der Marke Kodak Carousel auf drei Leinwände projiziert. Das waren Zeichnungen, die ich selber mit Tusche auf Transparentpapier angefertigt hatte und von denen anschließend Dias hergestellt wurden. Auch das war wieder eine stumme Musik, aber man hörte doch etwas, nämlich das Klicken der Projektoren. Immer, wenn ein Dia fiel, machte es so [schnalzt mit der Zunge], außer­dem summten die Projektoren. Auf den Dias standen Anweisungen – ich versuche das jetzt mal ein bisschen nachzumachen – also erstes Dia: „Achtung Aufnahme“. Dia fällt, Pause. Nächstes Dia: „Bitte seien Sie ganz ruhig und lauschen Sie, was da geschieht.“ Nun erscheint ein „da“ – ein Dia fällt ganz schnell, nun, „Da“ großgeschrieben, hält lang, und so geht es weiter. Es ist in gewisser Weise eine pädagogische Anleitung zum Hören auf das, was in einem Saal, in dem das Stück aufgeführt wird, geschieht. Dann gab es auf den anderen Leinwänden auch Dias mit Bildern von Noten, normale Noten in der üb­lichen Notenschrift, aber auch phantastische Noten, wobei etwa eine ganze Note, das ist ja ein ovaler Kreis, sich allmählich verdickt, groß wird und dann platzt. Und aus der platzenden Note quillt eine Fülle von kleinen Noten heraus. Das waren – ich zeichne auch gern – Phantasien eines musikalischen Graphikers. Dieses Material habe ich ein Jahr später wieder in einem Buch verarbeitet.

Das frühere Stück hieß „Ki-No“. Eigentlich bedeutet das „Kino“, weil das ein Stück ist, das im Kino aufgeführt wird, aber das typographisch hervorgehobene „No“ sollte auch das japanische Nō-Theater assoziieren lassen. Und dann habe ich dieses Material in einem Buch verarbeitet, das hieß „MO-NO“, das kann man lesen eben als „Mein No“, und also „Musik zum Lesen“.

Anlässlich dieser Neuausgabe haben wir uns die Frage gestellt, wieso gab es eigentlich diese deutsch-englische Fassung. Kannst du dich daran noch erinnern, wie es zur Idee der Zweisprachigkeit kam?

Das hatte zwei Gründe. Einmal war Englisch ja einfach die Weltsprache, und ich war mit John Cage befreundet. Seine Dinge waren nur auf Englisch zugänglich, und so dachte ich, meins sollte auch auf Englisch zugänglich sein. Ich war in der Achtundsechziger-Zeit in Frankfurt, eben an einer Achtundsechziger-Schule, und da gab es eine Englischlehrerin, mit der ich befreundet war – wir waren beide „Achtundsechziger“. Mit ihr zusammen habe ich diese englische Ausgabe gemacht: Also normal herum gelesen heißt es „Musik zum Lesen“ und anders her­um – rückwärts – heißt es „Music to Read“, und wenn man es jetzt von hinten aufblättert – es ist ja ein Buch zum Blättern –, dann liest man die englischen Worte. Indes gibt es auf den englischen Seiten auch deutsche Worte und umgekehrt.

Aber die Arrangements der Bilder sind nicht identisch.

Das stimmt. Ich habe für die englische Version einen anderen Ablauf gemacht als für die deutsche.

Um Abwechslung zu gestalten, oder gibt es noch einen anderen Grund?

Ja, es ist halt so: Ich bin Komponist, und man macht ja nicht gern zweimal das Gleiche.

Okay, das war der eine Grund. Die Übersetzerin war Margarete Rühle, die Kollegin an der Schule. Ich glaube, den zweiten Grund bist du uns noch schuldig. Also Cage war auf Englisch, jetzt sollte der Schnebel auch auf Englisch sein, wobei der Schnebel sich auch sehr darum gekümmert hat, dass der Cage ins Deutsche kam, nämlich auch bei DuMont.1

Ich hatte damals gerade einen Verlag gefunden, Schott in Mainz, und der bestand darauf, dass die Einführungstexte zu den Partituren zweisprachig sein sollten. Und da hatte ich in München eine Engländerin als Übersetzerin, die mich manchmal zur Verzweiflung gebracht hat, weil es im Englischen viel mehr Wörter gibt als im Deutschen. Dann war da irgendein deutsches Wort, und sie sagte, meinst du jetzt das und hat mir gleich drei, vier englische Varianten gegeben. So war ich in dieser Zweisprachigkeit auch drin.

Musik zum Lesen, das heißt, innerlich soll diese laut sein. Zwar ist es eine stille Musik, aber sie soll ja Geräusche, Klänge, zumindest akustische Vorstellungen im Leser auslösen.

Ja, es ist ein Buch für die Imagination, und imaginieren kann man ja alles Mögliche. Schon im „Ki-No“-Ablauf habe ich Dias von Unmöglichem gehabt, zum Beispiel ein ganz hoher Ton im Pianissimo für tausend Flöten. Das kann man sich nur vorstellen, nicht wahr, oder auch so unmögliche Dinge wie fünfunddreißig Orchester im Fortissimo oder auch das Gegenteil: 0,43 Orchester wiederum im Forte. Das waren so Spielereien: Man kann es sich zwar vorstellen, aber die Realität, die fehlt.

MO-NO“ hat keine zusätzliche Musik. Aber zu „Ki-No“ hat Josef Anton Riedl ja ein elektronisches Stück komponiert.

Ich muss vielleicht noch auf etwas hinweisen. In der Zeit war ja auch die Fluxusbewegung wichtig. Nam June Paik, mit dem ich auch befreundet war, hat so Phantasien gehabt, in denen die erste Violine auf der Erde, die zweite Violine auf dem Mond, die Viola auf der Venus und das Violoncello auf dem Mars alle gleichzeitig spielen. Auch das war nur in der Vorstellung möglich. So etwas, wie ich da gemacht habe, lag auch ein bisschen in der Luft.

Das ist die „Große Fuge“, an die Paik da gedacht hatte, Beethoven, Opus 133. Nochmal zurückkommend: Zu „Ki-No“ hatte Josef Anton Riedl eine elektronische Spur komponiert ...

Ich dachte für „Ki-No“ an ein paar Stellen an Einspielungen von phantastischer Elektronik, die auch ein bisschen noch anregt, und das hat der Jo sehr schön gemacht.

Bei „MO-NO“ gab es die Idee nicht, etwas Ähnliches für den einzelnen Hörer zu Hause zu machen?

Diese Idee hatte ich nie. Das wäre ja auch inkonsequent gewesen. Da macht, komponiert oder imaginiert man ­eine Musik für den Kopf … Adorno hat mal die schöne Formulierung gehabt: „Vergnügungen unter der Hirnschale.“ Und dann liefert man doch etwas, das normal zu perzipieren ist.

Beim wiederholten Blättern habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: Bedarf es, damit diese Imagination funktionieren kann – und du hast ja nicht nur an den musikalisch Gebildeten gedacht –, nicht auch ganz anderer Fragen und Lösungen der Notation?

Ja, es ist schon ein Stück für den musikalisch Gebildeten. Jemand, der keine Ahnung von Notation oder gar von Partituren hat, der steht schon da wie der Ochs vorm Berg. Das hat man uns Achtundsechziger-Avantgardeleuten immer zum Vorwurf gemacht: Ihr seid elitär. Es ist schon ein elitäres Buch. Andererseits – sich etwas vorstellen kann jeder.

Im Buch sind auch ein paar Bilder: Jackson Pollock oder ein Reprint von Caspar David Friedrich …

„Der Mönch am Meer“.

Was hörst du da?

Das ist ja auch einer, der einsam ist und melancholisch aufs Meer hinausblickt. Das ist auch einer, der Musik imaginiert …

… der hört, der die Wellen hört, den Puls des Lebens oder des Kosmos vielleicht sogar hört. Und bei Jackson Pollock war es so eine abstrakte …

Es gibt aber auch Konkretes. Es gibt an einer Stelle die Reproduktion eines Photos einer Leiche aus einem KZ. Der Mund ist weit offen, wie ein überdimensionaler Schrei. Also ich wollte auch doch Bezüge zur grausamen Realität herstellen.

Weißt du noch, wie viele Exemplare DuMont damals gedruckt hat?

Fünfzehnhundert. Der Verleger Ernst Brücher hatte selbst die Idee zu einer experimentellen Buchreihe und hat dann auch noch weitere solche Bücher mit Hans G Helms und Ferdinand Kriwet gemacht. Das waren kleine Auflagen, weil er sich denken konnte, das wird nicht massenhaft gekauft. Diese erste Auflage war nach drei Jahren doch weg, so dass der Verlag vor der Frage stand: Legt man das neu auf? Das wäre sehr teuer gewesen. Man hätte die ganzen Klischees wieder neu montieren müssen, die waren vorhanden, alles vom feinsten Bleisatz. Da aber das erneute Montieren sehr teuer gewesen wäre, unterblieb’s. Und dann war das Buch ja lange Zeit nur antiquarisch zu haben. Ich selber hatte fünf Exemplare, von denen ich einige an sehr enge Freunden verschenkt habe, und am Schluss hatte ich selber bloß noch eins. Als Tom Johnson, der amerikanische Komponist in Paris, eine Ausstellung mit experimenteller musikalischer Literatur machen wollte, bat er mich um das Buch. Ich wollte für diese Ausstellung mein letztes Exemplar nicht hergeben, und darum hat meine Mitarbeiterin im Internet nachgeforscht. Dort fand sie zwei Exemplare in einer Buchhandlung just in Zehlendorf, und diese beiden Exemplare habe ich mir dann gekauft, ich glaube für 28 Euro, 28 DM pro Stück hatte damals das Original gekostet. Für die Herstellung der Neuausgabe hatte ich nur noch mein letztes Exemplar. Ich habe das ungern hergegeben und gedacht, ich krieg’ wieder eins übers Internet. Als meine Mitarbeiterin nachschaute, war da ein Exemplar für dreihundertachtzig Euro zu haben, und das war mir dann doch zu viel.

Zumal wir gestern ganz oben auf deinem Regal noch eins gefunden haben. Der Titel des Buchs, das du von Ferdinand Kriwet erwähnt hast, heißt übrigens „Rotor“ und wurde 1961 mit einem Nachwort von Konrad Boehmer veröffentlicht. Das ist auch so eine Zusammenarbeit von Literat und Komponist. Dann gab es noch Hans G Helms’ „Fa : m Ahniesgwow“ mit Schallplatte, für das Gottfried Michael Koenig das Nachwort geschrieben hat, von 1959. Zusammen mit „MO-NO“ sind das die großen drei, wie ich finde, experimentellen Musik­bücher, die DuMont gemacht hat, und leider keine weiteren mehr. Schade.

1 Richard Kostelanetz, John Cage, übersetzt von Iris Schnebel und Hans Rudolf Zeller, Köln: DuMont Schauberg, 1973.