MusikTexte 157 – Mai 2018, 49–53

Fremdmaterial?

Grundsätzliches zu musikalischen Verhältnissen von „fremd“ und „eigen“

von Rainer Nonnenmann

Bis vor zweihundert Jahren hatte hierzulande jedes Dorf noch seine eigenen Lieder und Tänze. Wer damit aufwuchs, dem waren diese Überlieferungen gleichbedeutend mit Heimat, Ortsgemeinschaft, Verwandtschaft, Landschaft. Noch die kleinste Provinz bot eine sagenhafte Fülle eigener Dialekte, Gebräuche, Speisen und Musik. Doch jenseits von Fluss, Berg, Wald oder gar Übersee begann die Fremde. Die lockte und ängstigte zugleich. Denn dort gab es andere Instrumente, Sprachen, Töne, Tänze. Wer auf Reisen ging, der konnte was erleben, und davon erzählen. – Und heute? Ohne selber unterwegs zu sein, dringen von überall her Informationen, Waren, Bilder und Klänge zu uns. Medien und Internet vermitteln Musik unterschiedlicher Zeiten, Weltgegenden und Kulturen. Alle Schätze des vermeintlich totalen Archivs liegen uns zu Füßen. Auch wer mit offenen Augen und Ohren vor seine Haustür tritt, entdeckt einst Fernes so nah in Läden, Gastronomie und Kulturvereinen. Das Fremde ist nicht mehr das, was es einmal war. Es ist unser Nachbar geworden. Wir leben mit ihm Tür an Tür. Denn unser Dorf ist global und der Globus dörflich geworden. Fremd ist nicht mehr zwangsläufig an Ort und Zeit gebunden, sondern nur noch das, was vom real oder ideell uns Naheliegenden abweicht, so dass wir es als Distanz zu vertrauten Überlieferungen, Kenntnissen und alltäg­lichen Gepflogenheiten erleben. Wie der althochdeutsche Wortstamm „fram“, der „weiter weg“ bedeutete, definiert sich die daraus abgeleitete neuhochdeutsche „Fremde“ relational zum jeweiligen Nahbereich eines Menschen als eine Ferne, deren ursprünglich räumlicher Sinn sich defizitär zu fehlender Erfahrung und mangelndem Wissen verschob, sprich „unbekannt“ und „unvertraut“ bedeutet. Wie die Ferne zwischen zwei Orten ist indes weiterhin auch das Fremde kein absoluter Wert, sondern abhängig vom Wissens- und Erfahrungshorizont eines jeden Einzelnen hier und dort, einst und jetzt. Diese Rela­tivität macht das Fremde so ambivalent, diffus und affektgeladen. Es führt zu Xenophobie und Exotismus, weckt in uns Ängste, aber auch Projektionen, Fernweh, Neugierde, Entdecker- und Abenteuerlust.

Aneignung

Wie alles in Welt und Leben ist Musik niemals für sich genommen fremd oder eigen, neu oder alt, traditionell oder avantgardistisch. Diese Zuschreibungen sind nur relative Größen, sprich Quantitäten, die sich je nach Verwendung und Wahrnehmung nur verhältnismäßig innerhalb eines bestimmten Kontextes eruieren lassen. Die Reichweite dieses mal enger oder weiter gefassten Kontextes sagt dann entsprechend etwas über den Grad an Konvention oder Innovation einer Musik aus. Für die kompositorische Praxis bedeutet das, dass der Grad an Fremd- oder Eigenheit, Neu- oder Vertrautheit eines bestimmten Materials nicht naturgegeben ist, sondern aktiv gestaltet werden kann: Verhältnisse von musikalisch Eigenem/Vertrautem und Fremdem/Unbekanntem lassen sich komponieren. Und diese Option impliziert letztlich den Imperativ, es tatsächlich auch zu tun: Komponisten müssen sich zu Bestehendem verhalten! Indem sie verschiedene Dinge zueinander ins Verhältnis setzen, entscheiden sie, ob etwas als fremd oder eigen wahrgenommen wird. Das ist eine uralte und universelle Praxis. Die gesamte Kultur-, Kunst- und Musikgeschichte ist ohne Umgang mit Fremdmaterial schlechterdings nicht denkbar. Schließlich ist keine Musik voraussetzungslos. Jede baut auf etwas auf und nutzt bereits vorhandene Materialien, Formen, Techniken, Ideen. Der Vorgang der Aneignung und Umformung fremden Materials ist dementsprechend weit verbreitet und von geradezu existentieller Notwendigkeit. Er gleicht dem kreatürlichen Prozess des Aufnehmens und Ausscheidens von Stoffen bei jedem lebenden Organismus, vom Einzeller bis zum Homo sapiens. Immer schon wurde, wird gegenwärtig und wohl auch in Zukunft:

zitiert, collagiert, alludiert, arrangiert, adaptiert, amplifiziert, amalgamiert, assoziiert, analysiert, appropriiert, amorphisiert, allegorisiert, assimiliert, assembliert, addiert, agglomeriert, kopiert, konnotiert, kupiert, kaschiert, imitiert, integriert, instrumentiert, ironisiert, interpoliert, intermittiert, infiltriert, injiziert, impliziert, konterkariert, kontrahiert, kontrapunktiert, transkribiert, trivialisiert, retuschiert, radiert, rasiert, revidiert, reproduziert, restituiert, restauriert, parodiert, plagiiert, präpariert, paraphrasiert, phantasmagorisiert, persifliert, perforiert, petrifiziert, pulverisiert, deformiert, destruiert, dekonstruiert, dissoziiert, disloziiert, kompiliert, kombiniert, konserviert, transponiert, transportiert, transzendiert, transkulturalisiert, bagatellisiert, bastardisiert, errodiert, extrahiert, exhumiert, filtriert, usurpiert, hybridisiert, exploitiert, kolonialisiert, inkorporiert, implantiert, inkludiert, selektiert, seziert, sonifiziert, stilisiert, sublimiert, substituiert, sakralisiert, schraffiert, granuliert, montiert, memoriert, modernisiert, maskiert, manieriert, mystifiziert, fragmentiert, formatiert, fermentiert, fusioniert, filetiert, frisiert, fluktuiert, frottiert, de-, re-, transkomponiert …

Alle diese Verben benennen Kulturtechniken von jeweils unterschiedlicher Motivation, Wertschätzung und Umgangsform mit „Fremdmaterial“. Die Resultate schaffen verschiedene Gewichtungen, Referenzen, Bedeutungen und Verhältnisse von Text und Kontext, Signifikat und Signifikant, Material und Formung, fremd und eigen. Unter Berücksichtigung des für solche Relationen zen­tralen Aspekts der Wirkungsästhetik lassen sich vier Kategorien von „Fremdmaterial“ klassifizieren:

1. Material, das sich anderen Quellen als der eigenen Erfindung eines Komponisten verdankt, und deswegen entweder
2a. den Eindruck von Fremdheit auslöst, weil es sich um unbekannte Quellen handelt oder
2b. um bekannte Quellen, die bewusst verfremdet wurden; oder
3. weil das Material zwar aus anderen bekannten oder unbekannten Quellen als der eigenen Erfindung eines Komponis­ten stammt, aber gerade keinen Eindruck von Fremdheit auslöst, weil es den neu komponierten Strukturen rest- und unterschiedslos anverwandelt wurde.

Da die Ressourcen auf dem Planeten Erde beschränkt sind, gilt es sparsam zu haushalten, also auch Reste und Überbleibsel möglichst effektiv zu recyceln. Die verschiedenen Baumeister der Kathedrale Santa Maria delle Colonne von Syrakus integrierten die Säulenreihen eines antiken Anthene-Tempels zuerst in eine byzantinische Kirche, dann in normannische Romanik und schließlich in sizilianisches Barock. Plattgehämmerte Nägel bilden eine afrikanische Kalimba. Und Pablo Picasso montiert Sattel und Lenker eines Fahrrads zum Stierkopf. Ebenso häufig wie Zweit- und Mehrfachverwertungen sind Aneignungen von als wertvoll erachteten Fremdmaterialien. In barocker Silberfassung dient das Straußenei als kostbare Schale für feines Konfekt. Scheherazade verschachtelt während tausendundeiner Nacht hunderte Geschichten ineinander. Umberto Eco arrangiert aus voluminösen Zitatenkästen postmoderne Romane. Mary Bauermeister sammelt Kieselsteine am Rhein und formt daraus plas­tische Bildwerke. Hans-Joachim Hespos komponiert Stücke für und mit Treibgut. John Cage nimmt Musik von Eric Satie und schreibt eine „Cheap Imitation“. Helmut Lachenmann greift zum Violoncello und verwandelt es zu „Pression“, und so weiter.

In allen Lebensbereichen und Künsten gibt es Umwandlungen von Bestehendem in etwas Anderes, in Architektur ebenso wie in bildender Kunst, Literatur, Theater, Tanz, Film und Musik. Das führt zur These, dass es strenggenommen überhaupt kein Eigen-, sondern nur Fremdmaterial gibt. Dinge der Welt dienen als Material für Kunst, und Kunst ihrerseits wieder als Material für andere Kunst, ad infinitum. Nichts bleibt, wie es war, alles wird früher oder später transformiert. Der Kreislauf aus Material, Formung von Material und Umformung bereits geformten Materials führt nicht zu Statik und Stillstand. Im Gegenteil, er dient als Treibsatz, der die ungeheure Dynamik der europäischen Kunst- und Musikgeschichte der letzten Jahrhunderte befeuerte. Bei jeder Drehung bilden dieselben Materialien, Techniken, Formen und Farben wie in einem Kaleidoskop eine andere Konstellation. Statt Bestehendes zu reproduzieren, entwickeln sich Kunst und Musik nicht trotz, sondern auch gerade wegen Rückgriffen auf bestehendes Material spiralförmig immer weiter. Theodor W. Adorno beschrieb diesen Vorgang als dialektische Bewegung des musikalischen Materials, das er nicht physikalisch-akustisch verstand, sondern historisch als „sedimentierten Geist“. Indem Komponisten vorgefundenes Material auf individuell eigene Weise verwenden, schreiben sie ihren subjek­tiven Geist darin ein, der dann nachkommenden Komponisten als im Material abgelagerter objektiver Geist entgegentritt, worauf diese dann ihrerseits wieder reagieren. Der Eigenanteil der Komponisten bleibt dabei stets der Zwerg auf den breiten Schultern des ständig weiter wachsenden Riesen Namens „Fremdmaterial“.

Ein- und Ausschluss

Einen Bruch in dieser linearen Fortschrittsbewegung vollzog die Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg. Wenige andere Komponisten formulierten so klar den Anspruch auf radikalen Neuanfang wie Karlheinz Stockhausen, der 1953 forderte: „nichts länger zu akzeptieren, das bereits vorgeformt existierte, das als Klang-Material die Komposition in eine Richtung drängte, von der sie [die Komponisten, die den Wunsch hegten, „alles in ihrer Komposition Verwendete so weit wie möglich einem einheitlichen Strukturprinzip zu unterwerfen“] sich ein für allemal – und nicht erst jetzt – losgesagt hatten“.1 Kaum je wandte sich ein Komponist derart radikal gegen die Gesamtheit der musikalischen Überlieferung (Musikgeschichte, Tonsysteme, Instrumente, Notation, Aufführungspraxis … Stockhausen, Herbert Eimert, Gottfried Michael Koenig und andere im Studio für elektronische Musik des (N)WDR Köln wollten nicht länger auf historisch überliefertes „Fremdmaterial“ zurückzugreifen, sondern jegliches klingende Ereignis von Grund auf selbst nach eigenen Strukturprinzipien aus elementaren Sinustönen generieren. Stockhausen verstand sich daher selbst als „Generator“, der genuin Neues schafft, und nicht als „Transformator“, der Bestehendes bloß verändert. Vorprogrammiert war damit der Richtungsstreit der sogenannten „Kölner Schule“ mit der Musique concrète am Pariser Rundfunk, wo Pierre Schaeffer und Pierre Henry konkret existierende Klänge von Großstadt, Verkehr, Maschinen, Natur, Menschen, Alltag und Musik aufzeichneten und in radiophonen Kompositionen verarbeiteten. Doch abgesehen davon, dass Stockhausen in seinem frühen elektronischen Meisterwerk „Gesang der Jünglinge“ (1955/1956) bereits Sprache und Gesang eines Knaben verwendete und damit gegen die Doktrin des Kölner Studios verstieß, trennte beide Ansätze auch sonst kein prinzipieller Gegensatz, sondern lediglich ein gradueller Unterschied. Denn wie das akustische Fremdmaterial der Musique concrète waren strenggenommen auch die Geräte und Sinustöne der Kölner Komponisten nicht deren ureigenster Besitz, sondern ebenfalls vorgefunden und nur benutzt.

Während Stockhausen alles bisher musikalisch Vorgeformte auszuschließen suchte, hatte John Cage dagegen die Vision, die ganze Welt als Musik präsentieren und wahrnehmen zu können, Klingendes ebenso wie Nicht-Klingendes. Während die seriellen Puristen jegliches fremdbestimmte Material durch strukturelle Reinigung und Elektronik zu tilgen suchten, nivellierte der US-amerikanische Experimentalkomponist kurzerhand den kategorialen Unterschied von Eigen- und Fremdmaterial, indem er schlicht alles, was der Fall ist, zu möglicher Musik erklärte. Denn wo alles zu Musik werden kann, gibt es letztlich kein Fremdmaterial mehr. Cage verdeutlichte, dass alle Arten von Musik auf Übereinkünften von Komponisten, Interpreten, Performern und Hörern basieren, die gemeinschaftlich aushandeln, ob sie willens sind, dieses oder jenes Material als Musik aufzufassen, oder nicht. Musik wurde zu einem offenen System, das sich neben allem Klingenden auch alles nicht primär Musikalische und Nicht-Klingende einzuverleiben vermag: Szene, Bild, Graphik, Video, Film, Tanz, Licht, Alltag, Natur … Musik und zumal intermediale Musik erweist sich als krakenhafter „Allesfresser“, der sich unersättlich alles mögliche und unmögliche Fremdmaterial einverleibt. Cages radiophone Komposition „Williams Mix“ (1952/ 1953) ist ein frühes Beispiel für eine unter anderem mit oder aus Musik komponierte Musik. Die hier bereits angelegte Auflösung des Unterschieds von Eigen- und Fremdmaterial führte dann im Zuge von Digitalisierung, Globalisierung und Pluralisierung am Ende des zwanzigsten und zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts zur beschleunigen Hybridisierung kultureller Identitäten. Seitdem gibt es Musik in allen möglichen Spielarten und präpositionalen Konstellationen als Musik aus, mit, durch, über, in und auf Musik.

Entfremdung

Globale Reise-, Verkehrs-, Migrations-, Handels- und Datenströme machen heute nahezu jegliche Musik verfügbar. Die Omnipräsenz und Ubiquität von Musik verwischt deren Herkunft und Ankunft. Was bis dato räumlich, zeitlich, kulturell geschieden und einigermaßen erkennbar war, verschmilzt. An die Stelle bestimmter Orte, Ethnien, Überlieferungen und Werte tritt ein Nebeneinander unterschiedlicher Wissens-, Denk-, Lebens- und Glaubensformen. Zeit-räumlich zentrierte Narrative und Personalitäten werden verdrängt durch die fungible Möglichkeit rhizomatisch vernetzter, fragmentierter und punktualisierter Vielheiten: ent-wurzelt, ent-grenzt, ent-räumlicht, ent-historisiert, ent-auratisiert, ent-innerlicht, ent-fremdet. Kultur war zwar nie statisch, pur und abgeschlossen, sondern basierte immer schon auf dynamischen Prozessen, auf Adaption, Integration, Inklusion, Assimilation. Aber seit den Neunzigerjahren transformieren sich Kulturen weltweit immer stärker zu dem, was der Kulturphilosoph Byung-Chul Han als „Hyperkulturalität“ beschrieben hat.2 Gemeint ist eine aus verschiedensten Kulturen zusammengesetzte „Überkultur“. Wie in anderen Genres und den Popularkulturen tendieren auch manche Erscheinungen der zeitgenössischen Musik und Medienkunst zur Hyper- beziehungsweise Übermusik. Stichworte hierzu lauten: Crossover, Mashup, Trash, Fusion, Remix, Remake, Musicking, Cover, Sampling, Open Source, Clip, Glitch, Copy & Paste, Patchwork, Soni­fikation … Unterschiedlichste Materialien und Medien werden dabei oft in einer Weise benutzt, bei der ihre Herkunft keine Rolle mehr spielt, weil sie in des Wortes doppelter Bedeutung „entfremdet“ werden, also durch Verfügbarkeit ihre Fremdheit verlieren und als x-beliebige Materialien unter anderen verdinglicht erscheinen.

Im Digitalzeitalter greifen immer mehr Künstlerinnen und Künstler auf Material unterschiedlichster Herkunft in Form von Digitalisaten zurück. Diese Samples lassen sich mittels verschiedener Software, Interfaces und Algorithmen komponieren und transformieren. Die alten Kategorien „fremd“ und „eigen“ verwischen dabei so sehr, dass sie nicht mehr als Unterscheidungskriterien taugen. Denn wo alles Material als vermeintliches Eigenmaterial verfügbar geworden ist, macht der Begriff Fremdmaterial keinen Sinn mehr. Der eingangs geäußerten These folgt daher die komplementär entgegengesetzte Antithese: Alles verfügbare Material ist Eigenmaterial. Das gilt zumindest scheinbar. In Wirklichkeit aber bezieht sich – wie schon gesagt – alle Musik auf schon Dagewesenes, das sie auf je eigene Weise verarbeitet. Das war vor der Digitalisierung der Fall und gilt auch unter deren veränderten Produktionsbedingungen. Alle Klänge, Instrumente, Nota­tionsweisen, Techniken und Technologien sind historisch, kulturell, sprachlich, medial oder alltagsweltlich geprägt. Im Gegensatz zur Selbstbedienungsmentalität mancher Digital Natives und Digital Naives gibt es daher strenggenommen – der Spieß lässt sich je nach Haltung wieder zur Anti-Antithese umdrehen – überhaupt kein Eigen-, sondern nur Fremdmaterial. Denn primäre Aufgabe von Komponisten war, ist und bleibt es, sich das durch fremde Zusammenhänge, Zwecke und Expressivität immer schon aufgeladene und womöglich „abgegriffene“ Material durch individuelle Handhabung, Strukturierung und Sinnstiftung zu eigen zu machen. Zu guter beziehungsweise schlechter Letzt verbirgt sich hinter der Unterscheidung von Eigen- und Fremdmaterial auch eine juristische Kategorie, die bei Verstößen gegen das gesetzlich geschützte „Geistige Eigentum“ zum Justizfall eskalieren kann, wenn sich jemand dieses unrechtmäßig aneignet, spricht Diebstahl begeht. Die ebenso alten wie allgemein verbreiteten Kultur- und Kunsttechniken der Aneignung von Fremdmaterial haben zwar das gesetzlich verbürgte künstlerisch-wissenschaftliche Zitatrecht auf ihrer Seite, kollidieren aber zugleich mit der Wahrung der Urheber- und Nutzungsrechte, die ihrerseits – was die Situation so vertrackt macht – dem Schutz künstlerischer Leistungen dienen. Bearbeitet, gesampelt oder orchestriert werden daher bevorzugt Musikstücke, deren Urheberrechtsfrist – in Deutschland siebzig Jahre lang nach dem Tod des Autors gültig, in anderen Ländern nur fünfzig Jahre – bereits abgelaufen ist.

Verfremdung

Bei ausschließlich auf Fremdmaterial basierenden Mash­ups und Kompositionen, die sich Fremdmaterial restlos anverwandeln, bleibt dessen Herkunft oft unkenntlich und unwirksam, weil es keine intertextuellen oder interkulturellen Referenzen herzustellen vermag. Andere Kompositionen zielen dagegen bewusst auf funktional neu bestimmte Relationen zwischen fremdem Material und eigenen Setzungen. Dabei können neu komponierte Zusammenhänge selbst Fremdmaterial, das in Wirklichkeit nicht fremd ist, sondern bekannt und vertraut, wieder als „fremd“ kenntlich machen. Das ist mit Musik anderer Komponisten, Herkunft, Epochen, Ethnien und Stilistik ebenso möglich wie mit Klängen aus Alltag, Tonträgern und Medien. Voraussetzung ist eine vom Kontext des neuen Stücks signifikant abweichende Beschaffenheit. Soll dieses Fremdmaterial einen Beziehungsreichtum entfalten (historisch, kulturell, sozial, alltagsweltlich oder sonstwie), so muss der Komponist dieses Material im Verhältnis zu den kategorialen Rahmensetzungen der eigenen Komposition als Fremdkörper inszenieren und als Störfaktor für welche Differenzerfahrung auch immer wirksam werden lassen. Eine besonders interessante eigene Gattung bilden dabei relational auf bekannte Repertoirewerke der kanonisierten „Klassiker“ bezogene Kompositionen, die noch einen weiteren Aspekt von „Fremdheit“ mit umgekehrter Stoßrichtung eröffnen. Denn in diesen Fällen geht es nicht einfach um Aneignung beliebten „Fremdmaterials“, etwa von Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Verdi, Wagner, Bruckner, Brahms, Mahler oder was sonst noch lieb und teuer ist, sondern darum, diese als selbstverständlicher Traditionsbestand missverstandene Musik dem heutigen Publikum wieder in ihrer originären Eigenheit erfahrbar zu machen. Es gilt, die durch Vermarktung von Classic Hits im saturierten Tournee-, Star- und Konsumbetrieb verdeckten Qualitäten durch Verfremdung wiederzuentdecken, nach dem Motto: Verfremdung als Mittel gegen Entfremdung.

Zur avantgardistischen Erweiterung des Materials um neue Spieltechniken, Klangerzeuger und Medien kommt also ganz wesentlich auch die Verfremdung von bereits bekanntem Material hinzu. Die Ansätze von Strukturalismus und Formalismus verändern bestehende Strukturen und Formen, um abstumpfend wirkende Automatismen der Wahrnehmung zu durchbrechen, die immer dann greifen, wenn etwas aussieht und klingt, wie es zuvor schon vielmals gesehen und gehört wurde. Neben Alltagsklängen und Evergreens lassen sich so auch Repertoirewerke von Oper und Konzert aus ihren angestammten Dispositiven und Klassifikationen sprengen, um wieder als das Ungewöhnliche, Unvertraute, Andere und Fremde erlebbar zu werden, als das sie einst vor dem Erwartungshorizont ihrer Entstehungszeit vom Publikum aufgenommen beziehungsweise eben gerade nicht aufgenommen wurden, weil ihre Neu- und Fremdheit für Verstörung und Skandal sorgten. Eine Voraussetzung für die Verfremdung bekannten Materials ist freilich die Kenntnis des zu Verfremdenden, für das die Nachwelt Augen und Ohren verloren hat. Bekanntes Material ist von den vertrauten Gebrauchsfunktionen seines täglichen Verwendungszusammenhangs zu entfernen, damit es aus neu gewonnener Distanz idealerweise wieder in seiner ursprünglichen Qualität erfahren werden kann. Denn einmal mehr gilt: Wer neue Musik verstehen will, soll auch alte hören. Und umgekehrt gilt: Wer von neuer Musik nichts wissen will, versteht auch von der alten nichts, weil er das Innovationspotential verkennt, das diese einst zur neuen Musik ihrer Zeit machte.

Die Beiträge

Die nachfolgenden Texte beleuchten bestimmte Aspekte des kompositorischen Umgangs mit „Fremdmaterial“ unterschiedlicher Herkunft anhand ausgewählter Künstler und Projekte. Zunächst diskutiert Johannes Schöllhorn grundlegende Veränderungen im Zuge der Digitaltechnologie gegenüber analogen Formen nicht technologisch basierter Auseinandersetzungen mit Fremdmate­rial. Die bis dato eigenständigen kompositorischen Bereiche Technik, Form und Inhalt verschmelzen beim Sampling bis zur Ununterscheidbarkeit, was Auswirkungen auf die Resultate hat. Den Einsatz von Sampling als einem technologischen Gesamtpaket von Prozess, Medium und Content erörtert Schöllhorn am Beispiel von Johannes Kreidlers Gema-Stück „product placements“ (2008) und Simon Steen-Andersens „Piano Concerto“ (2014). Maximilian Marcoll formuliert in seinem Beitrag Gedanken zu möglichen Verhältnissen zwischen primär musikalischem Material, das auch nicht-musikalisch verwendet werden kann, und primär nicht-musikalischem Material, das auch zu musikalischem Material werden kann. Neben urheberrechtlichen Aspekten bespricht er ausgewählte Kunst- und Musikwerke, die mit Fremdmaterial arbeiten, namentlich von Martin Kippenberger, Mozart, Schönberg, Owen Davis, Johannes Schöllhorns „komponierte Orchestrationen“, Bernhard Langs Werkreihe „Monadologien“ (seit 2007) sowie seine eigene Reihe der „Amproprifications“ (seit 2016).

Martina Seeber zeigt in ihrem Aufsatz den Umgang mit musealen Sammlungen, Noten-, Buch- und Schall­archiven beziehungsweise darin gefundenen klingenden oder nicht-klingenden Objekten am Beispiel von „Archiv-Kompositionen“ von Arturas Bumšteinas, Kirsten Reese, Lars Petter Hagen, Carola Bauckholt und Georg Friedrich Haas. Emil Bernhard demonstriert am Schaffen des norwegischen Komponsiten Øyvind Torvund die Objekthaftigkeit von tonalen Stilzitaten sowie traditionell nicht-musikhaften „Lautdingen“ und Fundstücken. Der Schlagzeuger Håkon Stene ergänzt dies durch weitere Beispiele von Torvunds Anverwandlungen ungewöhnlicher Objekte als Klangerzeuger sowie selbst gebauten Low-fi-Instrumenten. Zum Abschluss des Schwerpunkts „Fremdmaterial?“ befragt Aron Salzmann in einem kurzen Text das 2014 von der Band „Mostly Other People Do The Killing“ nahezu perfekt kopierte, einstudierte und eingespielte Miles-Davis-Albums „Kind of Blue“ von 1959 auf dessen Eigenwert und Verhältnis zu Konzep­tion, Provokation und Diskussion im Kontext der Akademisierung des Jazz.

1 Karlheinz Stockhausen, „Arbeitsbericht 1953: Die Entstehung der Elektronischen Musik“, in: Derselbe, Texte zur elektro­nischen und instrumentalen Musik. Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, Band I, herausgegeben von ­Dieter Schnebel, Köln: DuMont, 1963, 42.

2 Byung-Chul Han, „Hyperkulturalität – Kultur und Globalisierung“, Berlin: Merve, 2005, unter anderem 18, 32 und 37.