MusikTexte 157 – Mai 2018, 43–44

Verborgene Schönheit

von Robert HP Platz

Detlev Gojowy hatte mich in den Achtzigerjahren eingeladen, für den WDR eine Studioproduktion von Klaus’ „Notturno“ zu dirigieren, ein sehr poetisches, ruhiges Stück für Kammerorchester, leise, insistierend, wunderschön und in einer sehr eigenen Klangsprache geschrieben, die sofort für sich einnahm. Klaus war mit der Aufnahme sehr zufrieden, wir wurden Freunde darüber ... und er fragte zum Schluss zaghaft an, ob ich bereit wäre, einen Blick in ein „ganz anderes“ Stück zu werfen, dessen Uraufführung von einem anderen Ensemble wegen Unspielbarkeit abgesagt worden sei.

Das war „,Feuerzauber‘ auch Augenmusik“ für drei Flöten, Harfe und verstärktes Violoncello. Eine Musik, wie ich sie noch nie gesehen oder gehört hatte – überhaupt: Es gibt kein Stück der Musikgeschichte, das auch nur annähernd so klingt: Grund genug, mich der Sache anzunehmen. „Die Sache“: Klaus hatte den Akt des Spielens auf jedem der beteiligten Instrumente in seine Bestandteile aufgelöst/dekomponiert und die einzelnen Aktionen wieder neu zusammengesetzt. Jeder Instrumentalpart sah für den Unkundigen aus wie die Gesamtpartitur einer komplexen Kammermusik.

Ich weiß nicht mehr, wie viele Proben wir hatten; Carin Levine war froh, mit zwei Kolleginnen beziehungsweise Schülerinnen Neuland zu erobern; wir verloren unsere Harfenistin über das Stück, fanden und verloren wieder eine, aber am Ende konnten wir zeigen: Das war nicht unspielbar, siehe die CD-Aufnahme. Am liebsten hätten wir das Stück auf mehr als nur einer Tournee gespielt, aber die Besetzung war teuer und das Stück ebenso schön wie kurz ... und so fragte ich Klaus, ob er nicht ein neues Stück für das Ensemble Köln schreiben wollte, in unserer Standard-Besetzung für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine und Violoncello. Er wollte ... und lieferte uns eine Partitur von dunkel glühender Schönheit für Solobratsche, Bassflöte, Altflöte, Bassetthorn, Basstrompete, Laute, drei Violoncelli und Kontrabass: „Arie dissolute“. Nach der erfolgreichen Urauffführung steigerte sich Klaus von Stück zu Stück, und wir wurden beinahe ein Team. Sein Opus maximum „Epiphyt“ für Flöte und Kammerorchester ist ebenfalls für das Ensemble Köln entstanden.

Doch wie ein Horrorfilm seinen Ausgang von einer möglichst unschuldig/idyllischen Szene nimmt, sehe ich uns mit Familien vereint, Frühling 1989 im Künstlerhof Schreyahn. Klaus war da mit seiner Frau Maria und Töchterchen Barbara, das der Schatz des ganzen Dorfs wurde, ich sehe sie noch umringt von Freunden und Freundinnen draußen auf der Schaukel. Später, wieder zurück in München, klagte Klaus telephonisch über eine Erkältung und Fieber. Tage darauf lag er im Koma, in dem er neun Monate bleiben sollte. Maria opferte sich buchstäblich für ihn auf, er war gerade ein wenig wieder auf dem aufsteigenden Ast, und starb an einer aus Sorge zu ihm verschleppten Krankheit. Barbara, gerade im kritischen Alter, zerrieb sich in den Widersprüchen ihrer Rolle als Pflegerin, Haushälterin des Vaters und Vertreterin der Mutter. Er verlor auch sie.

Ich frage mich, wie viel Leid ... und wie viel Duldsamkeit und Größe in ein Menschenleben passt. Klaus war tapfer, nahm alles an, wie es war, verlor nie die Freude am Leben, klagte nie ... auch nicht über die Missachtung der Konzertveranstalter seiner Werke nach der Krankheit, die er sich in beispielloser, nie versagender Energie abtrotzte, sehr eigen, rücksichtslos gegen sich selbst wie andere: verborgene Schönheit. Seine Gesamtschau der nach der Krankheit geschriebenen Werke, die ich im Schreyahner Herbst realisieren durfte, war ein Triumph.

Als Triumph über das Schicksal sehe/höre ich seine Musik, ein beständiges „und trotzdem“, das selbst im tiefsten Leid noch einen Grund für das liebevolle Auffinden einer unerwarteten Schönheit findet. Lebenskunst, selbst noch im Tode, und Zeugnis einer zutiefst menschlichen Größe.