MusikTexte 158 – August 2018, 84–85

Neue Töne für neue Oper?

Johannes Kreidlers „Mein Staat als Freund und Geliebte“ in Halle

von Tobias Schick

Seit etwa zwei Jahren zieht die Oper Halle vermehrt überregionale Aufmerksamkeit auf sich. Dies ist dem neuen Leitungs­team um den Intendanten Florian Lutz und den Chefdramaturgen Michael von zur Mühlen zu verdanken, das sich explizit zum Ziel gesetzt hat, die Oper wieder verstärkt zum Ort gegenwartsbezogener Reflexion zu machen und deswegen in nicht selbstverständlicher Weise Opernaufträge für die große Bühne gerade an noch jüngere, nur partiell etablierte Komponistinnen und Komponisten vergibt. 2017 wurde die Oper „Sacrifice“ von Sarah Nemtsov uraufgeführt, im April feierte nun „Mein Staat als Freund und Geliebte“ von Johannes Kreidler Premiere.

Wie der suggestive Titel vermuten lässt, ist das Thema, das Kreidler in seinem Musiktheaterwerk umtreibt, die affektive Beziehung des Einzelnen zu etwas so Abstraktem und Übergeordnetem wie dem Staat. Ausgehend von der Theorie, dass der einzelne Mensch persönliche Beziehungen zu maximal hundertfünfzig anderen Personen unterhalten könne, gelangt er zu der Feststellung, dass das Zusammenleben einer weit größeren Anzahl von Menschen andere, ab­straktere, mithin staatliche Organisations­formen benötige. Doch sind es ausschließlich Regeln und Gesetze, die das Funktionieren eines Staats gewährleisten? Oder entsteht Gemeinschaft auch durch identitätsstiftende Erzählungen und Gründungsmythen? Was ist es, das den Staat im Innersten zusammenhält? Wir alle bilden den Staat, er ist omnipräsent in Schulen, Straßen, Polizei und Finanzamt, doch in seiner Gesamtheit ein abstraktes und ungreifbares Gebilde. Dies kann die zahlreichen personifizierenden Metaphern von „Vater Staat“ bis hin zum „kranken Staat“ begründen, denen die Oper auf lustvolle, ja geradezu spielerische Weise nachgeht. Welche gedanklichen Bilder wir vom Staat haben und bis wohin diese tragen, wird im Rahmen einer spezifischen konzeptuellen Konstellation untersucht.

Die Oper besteht zu großen Teilen aus archetypischen Filmszenen, die eingeblendet und gleichzeitig neu synchronisiert werden. Die Pointe dabei: Einer der beiden Dialogpartner wird durch den Staat ersetzt und von einem vierzigstimmigen Chor live lippensynchron gesprochen, was in der Ausführung nicht immer ohne kleine Verzögerungen und Ungenauigkeiten gelingt. Die besorgte Mutter, die am Bett ihres kranken Sohns „Du bist in keiner guten Verfassung, Staat“ spricht, wird somit zu einem plastischen Bild der vielfach beschworenen Metapher des schwachen und an Finanznot leidenden Staats. Und wenn in der steifen Liebesszene eines frühen Hollywood-Films der männliche Partner eines Liebespaars mit „Ich liebe dich, Staat!“ angesprochen und die intime Situation durch die vielstimmige Kollektivantwort konterkariert wird, so mag zunächst eine absurde Komik entstehen, die aber zugleich die Kritik an einer Auffassung impliziert, die glaubt, dass man so etwas Großes und Abstraktes wie einen Staat lieben könne.

Kreidler verwendet vorwiegend Filmszenen aus meist älteren und unbekannten Filmen (von der Liebesszene über Western-Duellszenen, Historienschinken und Heimatfilm bis zur Parfumwerbung ist fast alles dabei), die ins kollektive Bewusstsein eingegangen sind, ohne zu große affektive Besetzungen entstehen zu lassen oder anekdotischen Wiedererkennungswert zu haben. Nicht immer erscheint dabei jedoch das Prinzip der Personifikation des Staats plausibel und erkenntnisfördernd. Vielmehr wirkt es, als sei der Komponist bisweilen seiner Lust an Streifzügen durch das Online-Archiv der Filmgeschichte erlegen, was allerdings den Unterhaltungswert des Ganzen keineswegs schmälert, aber dazu führt, dass das Hauptthema „Staat“ zuweilen mit dem einer Reise durch die Geschichte des frühen Hollywood-Films um die Vorherrschaft konkurrieren muss.

„Mein Staat als Freund und Geliebte“ ist eine multimediale Collage. Die zahlreichen Videos, die Schauspielszenen des Chors und des Pianisten-Performers, die verlesenen Theoriebausteine und einzelnen Balletteinlagen werden zu einer schnell wechselnden Nummernoper zusammengefügt, die bisweilen Züge einer Revue annimmt. Wer eine traditionelle Oper mit einer in singender Weise erzählten Geschichte erwartete, wurde enttäuscht. Trotzdem zieht sich Kreidler nicht auf den neutraleren Begriff des Musiktheaters zurück, sondern spricht offensiv von „Oper“ – mit einer gewissen Berechtigung, denn nicht nur gehen die szenischen und musikalischen Elemente ein vielfältiges Wechselspiel miteinander ein, sondern auch die Geschichte der Oper selbst ist in zahlreichen Verweisen und Zitaten präsent. Ein stringenter formaler Verlauf ist im Übrigen kaum vorhanden, wird aber auch nicht groß vermisst, beleuchtet das Werk doch immer wieder dasselbe aus unterschiedlicher Perspektive. Für die nötigen formalen Bögen sorgen darüber hinaus sporadische Rückbezüge auf Früheres und die Filmszenen, die als stark gliederndes Moment wirken.

Neutönerisches ist quasi nicht vorhanden, und als persönliches Stilmerkmal fungieren Markenzeichen Kreidlers wie die Bebilderung eingeblendeter Begriffe mit musikalischen Graphiken, aus den „Scanner Studies“ bekannte akustische Abtastvorgänge oder vereinzelte Frequenztranskriptionen von Tonhöhenverläufen, ohne dass diese Elemente sich mit dem Thema des Stücks verbinden. Kreidler folgt vielmehr in extremer Weise seinem erweiterten Kompositionsbegriff, Neues durch eine veränderte Anordnung von Bestehendem zu schaffen. Der Chor spricht zumeist rhythmisiert oder synchron zu den Filmausschnitten. Gleiches gilt für den Widerpart des Pianisten-Performers. Musikalisch gibt es zwei große Pole: Die zu den Hollywoodszenen passende Filmmusik – meist existierende Vorlagen, die von Kreidler neu arrangiert und instrumentiert wurden – sowie Musik der klassischen (Opern)tradition. Neben einigen Chopin-, Liszt- und Puccini-Zitaten arbeitet sich Kreidler vor allem an Richard Wagner ab – ein strategisch kluger Schachzug, musste er doch nicht angesichts ungewohnter zeitgenössischer Spieltechniken Konflikte mit dem Orchester befürchten. Auch wurde das Publikum nicht mit schrägen oder gar geräuschhaften Klängen verschreckt, wobei andererseits gewiss nicht jeder Besucher über den ironischen Umgang mit seinem Idol erfreut gewesen sein dürfte. Es ist jedoch gerade nicht das politische Ränkespiel des „Rings“ um Geld, Macht und Einfluss, auf das Kreidler verweist, sondern er zitiert vielmehr aus „Parsifal“ und „Tristan und Isolde“, geht es doch weniger um die Funktionsmechanismen von Staat und Gesellschaft, sondern vielmehr um das affektive Verhältnis des Einzelnen zum übergeordneten Gesamten. So wurde der Part Isoldes aus der Vereinigungsszene des zweiten Aufzugs vom Chor als Stellvertreter des Staats gesungen – „Tristan und Isolde“ wurde so zur Metapher der tragischen Liebesgeschichte zwischen dem Individuum und seinem Staat. Eine dazu überraschend mit aggressiver Popchoreographie hereinbrechende Balletteinlage war einer der wenigen verstörenden Momente des Stücks, wurde doch das Wagnersche Pathos der Einheitssehnsucht brutal gestört. Zudem offenbarte die Szene auf hellsichtige Weise das Desintegrative unterschiedlicher Menschengruppen, denn nicht nur Choristen und Orchester, sondern auch die Tänzer bildeten eine homogene, sich habituell nach außen abschließende Gemeinschaft. Dieses Moment der ebenso pluralistischen wie konfliktreichen Diversität von Menschenmassen kam sonst leider zu kurz. Denn der Chor als gleichzeitiges Symbol der Masse und des Staats stand neben dem brillant agierenden Pianisten-Performer Stefan Paul als paradigmatischem Symbol des Individuums zwar im Zentrum des Abends, wurde aber zu sehr als homogene Masse gezeigt, auch wenn diese in unterschiedlichen Formen präsentiert wurde: als träge Masse, als helfende Masse Sandsäcke schleppend oder als Kollektiv in einer Disko feiernd.

„Mein Staat als Freund und Geliebte“ zeichnet kein besonders negatives Bild vom Staat, sondern kritisiert auch den Bürger und seine Erwartungshaltung, etwa wenn der Staat in einem Filmausschnitt die Rolle des unterwürfigen Chauffeurs annimmt, der vom Bürger als Dienstleister betrachtet wird. Überhaupt arbeitet die Oper kein profiliertes und einheitliches Bild heraus, sondern zeigt vielmehr ein Kaleidoskop unterschiedlicher Staats-Metaphern. Etliches wird nur angedeutet, und so kann man kritisieren, dass die Oper zu wenige Anstrengungen unternimmt, das Verhältnis zum Staat argumentativ zuzuspitzen, wenngleich den Möglichkeiten des rationalen Diskurses im Medium Musiktheater auch Grenzen gesetzt sind. Eine Leistung des Werks ist es hingegen, die metaphorischen Vorstellungen vom abstrakten Gebilde Staat sinnlich erfahrbar und durch Überzeichnung auch deren Absurdität deutlich zu machen. Kreidlers Oper ist vor allem unterhaltsam, anregend und immer wieder auch witzig, etwa wenn zwischenzeitlich Text und Melodie des Deutschlandlieds und der Moritat von Mackie Messer vertauscht werden. Und doch weicht gerade hier die Komik zum Schluss einer berührenden und nachdenklichen Stimmung, wenn das erhabene, hier dynamisch zurückgenommene Ende von Haydns Kaiserhymne nun lautet: „Denn die einen sind im Dunkeln, und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Provokant ist das Stück hingegen kaum, sieht man vom nachgeschobenen Schlussmonolog des Pianisten-Performers ab, der zwar mit sympathischer Geste und durchweg guten Argumenten gegen Applaus plädiert, durch seinen moralisch-belehrenden Impetus aber die zwanglose Lockerheit des Ganzen plötzlich unangenehm konterkariert.

Braucht neue Oper neue Töne, und wie kritisch muss zeitgenössisches Musiktheater sein? Diese Grundfragen bleiben, doch sehenswert war Kreidlers „Mein Staat als Freund und Geliebte“ allemal.