MusikTexte 158 – August 2018, 81–82

Fanale des Anfangs vom Ende

Prophetisches bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik 2018

von Rainer Nonnenmann

Blechbläser rufen zum Aufbruch! Doch das strahlende Signal verkümmert und schmiert ab. Der Impuls entgleitet, sackt ab und verebbt. Dem Anfang von Liza Lims „Extinction Events and Down Chorus“ wohnt bereits der Keim von Ende und Verlöschen inne. Thema des Stücks ist die Zeit, in der Rettung noch möglich wäre, die jedoch ähnlich den Uhren auf Bildern von Salvador Dalí dahinschmilzt und einem neuen Erdzeitalter weicht: dem Post-Anthropozän. Bei den fünfzigsten Wittener Tagen für neue Kammermusik ließen gleich mehrere Uraufführungen hören, wie die Welt in naher Zukunft klingen könnte, nachdem sich die Menschheit gegenwärtig anschickt, sich durch Kriege, Erderwärmung und Umweltzerstörung selbst abzuschaffen. Auch ohne aufwendige Diskursmaschinerie, Vorträge, Panels und Lesezirkel zu drängenden Zeitfragen verdichtet sich Kunst in Krisenzeiten dank besonderer Sensorien zum Alarmsignal, das nur gehört und in entsprechendes Handeln umgesetzt werden müsste. Doch wie die apokalyptischen Märsche von Gustav Mahler und der Zweiten Wiener Schule, deren unerbittliches Stampfen man rückwirkend als Vorahnung der Katastrophe des Ersten Weltkrieg verstehen wollte, werden spätere Generationen dereinst vielleicht einmal auch über die Ende der Zweitausendzehner Jahre entstandene Musik rückblickend sagen, sie habe das kommende Un­heil zwar hellhörig erspürt und in dystopische Phantasien übersetzt, nur habe das damals leider niemanden zu besserer Einsicht und Umkehr bewogen.

Der Titel von Lims Stück bedeutet so viel wie „Aussterbeereignisse und Dämmerungschor“. Uraufgeführt wurde die dreiviertelstündige Komposition vom Klang­forum Wien unter Leitung von Peter Rundel. Im Eingangsabschnitt „Anthropogener Trümmerhaufen“ hastet die Geigerin verspätet in den Saal und schleift hinter sich eine große Plastikfolie her, die das auf dem Podium bereits spielende Ensemble raschelnd zum Schlag­zeuger nach hinten durchreicht. Indem der Perkussionist die glitzernde Kunststoffwolke umständlich aufhängt, überschwemmt das permanente Knistern das gleichzeitig von der Geigerin gespielte, zarte Solo. Dessen seelenvoller Ton ist Inbegriff der warmen Vox humana, wird aber demonstrativ durch den vom Menschen herbeigerufenen Geist des Plastikzeitalters erstickt, der gegenwärtig auch in Gestalt des im Nordpazifikwirbel schwimmenden Plastikmüllkontinents alles ozeanische Leben verdirbt. Die australische Komponistin lässt ihren zartbitteren Abgesang auf Natur, Humanität und Musik schließlich in ein bizarres Duo von Violine und Waldteufel münden. Auch hier spielt die Geigerin Sophie Schafleitner ihr Instrument wunderbar zart, fein, differenziert, gleichsam singend und sprechend. Auch der Schlagzeuger Lukas Schiske versucht, den Draht seines Instruments mit Metallstift und Geigenbogen möglichst nuanciert zu bespielen, bringt aber kaum mehr als erbärmliches Krächzen und Knarzen hervor. Dem Untier lässt sich das Singen einfach nicht beibringen. Der Zweikampf scheint entschieden. Doch Verlierer ist am Ende die Geige, und mit ihr das gesamte Ensemble. Denn alle Musiker vertauschen ihre angestammten Instrumente gegen kleine Waldteufel, mit denen sie im finalen „Chor in der Morgendämmerung“ knurrend, ratternd und quakend Bühne und Saal verlassen. Zum Schluss der Abschiedssinfonie sind nur noch Violoncello und Kontraforte als letzte Vertreter ihrer anthropogenen Spezies übrig, allerdings ebenfalls nur noch animalisch knarzend und furzend. Der Klang der Menschen ist verstummt und herauf zieht ein neuer Morgen der Amphibien und Insekten. Und die „singen“ ein anderes „Lied von der Erde“.

Ausdrücklich „post-humanes Terrain“ imaginierten auch die düster-strahlenden Klanglandschaften von Ashley Fures „A Library of Lightning“. Die aus den USA stammende Komponistin – gegenwärtig DAAD-Stipendiatin – wählte aus den reichen Besetzungsmöglichkeiten des in Witten gleich mit vier Konzerten vertretenen Klangforum Wien die ungewöhnliche Kombination von Fagott, Trompete und Kontrabass. Das Trio überlagerte gepresst und mit rasselnden Alufolien über den Schalltrichtern gespielte Liegetöne, Dur- und Molldreiklänge zu lautstark orgelnden Drones, deren melancholischer Glanz die traurige Vision einer zur kahlen Prärie verbrannten, zeit- und menschenlosen Welt aufkommen ließ. Tatsächlich sucht Fure in ihrer instrumentalen und elektroakustischen Musik nach wortlosen Ritualen und Riten – wie sie im Werkkommentar schreibt –, „um die drohenden globalen Krisen kollektiv zu bewältigen und uns mit zeitlichen Dimensionen zu verbinden, die über unsere eigenen hinausreichen“. Auf andere Weise dystopisch wirkte „Obsessive Compulsive Music“ von Ricardo Eizirik. Der 1985 geborene Brasilianer – vormals Schüler von Isabel Mundry in Zürich – behandelte das ausgezeichnete Trio Catch wie einen elektromechanischen Apparat. Ähnlich ratternden Zählwerken durchlaufen die Instrumentalistinnen serienweise kurze Wiederholungsschleifen, bis eine Konstellation gleichsam per Kippschalter in eine andere umschlägt. Und zu rasselnden Motorgeräuschen aus dem Innenklavier wird der Arm der Cellistin gleichsam aufgezogen, bis ihr Bogen mit einem Mal auf die Saiten fällt, und der Ladevorgang von neuem beginnt. Zwangshandlungen und automatisierte Fließbandhandgriffe im durchökonomisierten Arbeits- und Alltagsleben lassen die Leib-Seele-Einheit Mensch zur seelenlos-puppenhaften Körper-Maschine mutieren. Und diese gehorcht nur noch dem Takt des wiederholt per Lautsprecher zugespielten Befehls: „Always repeat the same rituals, repetedly!“

Nicht nur von dieser Welt ist schließlich – wenngleich auf ganz andere Weise – die Musik von Mark Andre. Dem 1964 geborenen Komponisten war das diesjährige Porträt bei den Wittener Tagen gewidmet. Im Gesprächskonzert verwies er einmal mehr auf den christlich-spirituellen Hintergrund seiner Werke. In „iv 11 a-c“ („iv“ wie Introversion) erfährt daher ein langsam ausklingender Klavierton durch Aufsetzen eines E-Bows eine seines instrumentalen Körpers entledigte Auferstehung. Ungestörtes Ausklingen sowie durch Präparationen, Dämpfungen. Resonanz- und Filterprozesse aktiv gestaltetes Verklingen bestimmen auch Andres 2015 für Christian Dierstein geschriebenes Schlagzeugsolo „S 2“. Die Felle und Kessel von Pauken dienen hier nicht als direkt bespielte Klangerzeuger, sondern als Resonatoren für aufliegende Tempelgongs, Klangschalen, Triangeln, Metall-, Styropor- und Holzstücke. „S“ wie Schwelle meint den akustischen Effekt, dass ein Instrument im anderen weiterklingt, und ist für Andre zugleich theologisch mit Transsubstantiation und Eschatologie verbunden. Auch in „un-fini“ von 1995 bespielt der Soloharfenist zugleich Große Trommel und Tamtam, um die Klangeigenschaften des Saiteninstruments ins Spektrale und Geräuschhafte zu erweitern. Für dieselbe Solokombination komponierte Andre nun auch „… hin …“, das die frühere Harfenkomposition mit einem orchestralen Klanghof umgibt. Eindrücklicher als diese von Andreas Mildner und dem WDR Sinfonieorchester gespielte Uraufführung wirkte Andres „… selig sind …“. Während das Publikum im zentralen Ausstellungsraum des Märkischen Museums im Kreis saß, durchwanderte der Klarinettist Jörg Widmann die angrenzenden Säle mit verschiedensten Trillern, Mehrklängen, schattenhaften Läufen, Luft- und Atemgeräuschen, die mit Aufnahmen von Wind und Sprachklängen über Transducer auf den Wänden der Räume als sanft ein- und ausschwingende Klangwellen abgespielt und entsprechend farblich-räumlich transformiert wurden: ein Pontifikalamt des Hörens!

Als Uraufführungen im Abschlusskonzert unter Leitung von Mariano Chiacchiarini zu erleben waren das hartnäckig in chromatische Skalen-Repetitionen sich verbeißende „Salón de espejos“ von Elena Mendoza und „Fat-Finger error“ von Gordon Kampe. Letzterer ließ die Kontrabässe des WDR Sinfonieorchesters mit knallenden Bartók-Pizzikati beginnen und dafür prompt aus Lautsprechern eine wütende Tirade von Arturo Toscanini ernten, der in einer historischen Aufnahme unflätig gegen dumme, idiotische contrabassi wettert. In einem weiteren O-Ton hört man Georges Prêtre, der sanft, charmant und musikverliebt vorsingt, wie er eine Passage gerne gespielt haben möchte. Die zuvor geschmähten Kontrabässe intonieren daraufhin mit fistelnd hohen Flageoletts einen dreistimmigen Satz, so gut es in solch fachfremder Sopranlage eben geht. Große Varianz an Situationen, Energien und Klanglichkeiten entfaltete auch Uli Fusseneggers „Synthetic Skin“. Der Kontrabassist des Klangforum Wien reagierte in der von ihm konzipierten „elastischen Kollision von akustischem Spiel und Tonbandmusik“ zusammen mit drei weiteren Musikern spielfreudig auf elektronische Kompositionen von Jerôme Noetinger und Yves de Mey. Yann Robins sinnlich-rauschhafter Sonorismus „Übergang“ ist gleichermaßen durch Spektralismus wie Jazz beeinflusst. Der französische Komponist bringt energetisch zupackende und hauchzarte Passagen in perfekt äquilibrierte Spannungsbögen und lukullische Farbpaletten, die indes nicht mehr sind und auch nicht zu sein vorgeben als eben schöner Klang zu sein. Vito Žuraj dagegen überhöhte sein „Tension“ mit wohlfeiler Pseudoavantgarde-Rhetorik: „Für mich als Komponist am wichtigsten ist aber die Spannung, die beim Verlassen des gut Bekannten, Gesicherten entsteht.“ Neben dem knatternden Spezialeffekt von Streichern, die anstelle ihrer Bögen mit genoppten Bleistiften über die Saiten fahren, bot er nur risikolosen Aktionismus und virtuosen Leerlauf.

Nicht tiefer zu Herz und Verstand drang auch die gekräuselte Oberflächenkunst „interessanter“ Klänge von Georg Friedrich Haas, Johannes Maria Staud, Marco Momi und Franck Bedrossian. Opernhaft zu emotionalisieren versuchte Agata Zubel, deren ebenso melodramatische wie musikalisch belanglose „Cleo­patra’s Songs“ nach Shakespeare zudem unter ihren limitierten vokalen Möglichkeiten litten. In „Sandwriting“ von Vykintas Baltakas bespielte das phantastische GrauSchumacher Piano Duo zwei Keyboards höchst virtuos mit typisch pianistischen, teils neobarocken Floskeln, Trillern, Läufen, Girlanden, Arpeggien. Dabei belegte ein Computerprogramm die Tastaturen mit verschiedenen Samples, welche die Töne sowohl in den mikrotonalen Intervallraum als auch über sechs Lautsprecher den realen Raum aufspalteten. Die Interaktion zwischen Pianisten und Algorithmen, die in Abhängigkeit vom aktuellen Spielverlauf den Interpreten die Abschnittsfolge auf Bildschirme projizierten, erschloss sich beim erst- und einmaligen Hören jedoch nicht. Frisch und divers wirkte schließlich das „Newcomer-Konzert“ mit dem IEMA-Ensemble 2017/2018, das gleich zu Beginn das vom künstlerischen Leiter der Wittener Tage Harry Vogt ausgegebene Thema „Produktive Fehler“ exponierte, das sich im sonstigen Festivalprogramm jedoch verlor. Óscar Escudero überlagerte das übliche Instrumentalspiel durch gleichzeitiges Singen und Sprechen. Außerdem präparierte er das Klavier zum scheppernden Klapperkasten und ließ die Hände des Pianisten dysfunktional durch die Luft tasten. Jonah Haven ließ ein Streichquartett über die Zähne von Kämmen fahren, die von den Spielern auf den Korpus ihrer Instrumente gesetzt wurden, so dass die Guero-Effekte durch die Streichinstrumente warm eingefärbt wurden: So gab es in Witten Kammermusik zur Abwechslung einmal als Kamm-Musik.

Die Wittener Tage werden seit 1969 in Koproduktion von der Stadt Witten und dem WDR Köln veranstaltet, um unterschiedliche Aspekte und Spielarten zeitgenössischer Kammermusik zu beleuchten. Dabei stellt sich stets aufs Neue die Frage, was „Kammermusik“ eigentlich noch meint, nachdem der Begriff nicht mehr die Selbstbehauptung einer bürgerlichen Gegenkultur in Opposition zur höfischen und klerikalen Repräsentationskultur markiert, sondern – seines einstigen sozialpolitischen Impetus und Raums, der bürgerlichen Kammer, beraubt – nur noch als antiquierter Tradi­tionsbestand fortgeschrieben wird. Neben kleinen Besetzungen meint Kammermusik indes auch Faktur, ästhetischen Anspruch, Differenzierung, Konzentration, Innovation, Flexibilität, Interaktion und Kommunikation von Spielern, Komponisten und Publikum. Über Solo, Duo, Trio, Quartett und Kammerensemble hin­aus sind diese Prinzipien auch in ganz anderen Formationen und Gattungen zu finden: Orchesterwerken, Vokalmusik, Klanginstallationen, Freiluftprojekten, wahlweise auch mit Dirigent, Elektronik, Raum, Szene, Handlung, Landschaft. Im Sammelband „Kammermusik der Gegenwart“, herausgegebenen von Harry Vogt und Frank Hilberg, werden primär diese zeitlos aktuellen Aspekte von Kammermusik erörtert, dagegen nur nachgeordnet einzelne Werke. Die meisten der insgesamt fünfundfünfzig kurzen Essays des Buchs wurden aus über hundert Beiträgen ausgewählt, die ab 1990 von Musikwissenschaftlern, Musikjournalisten, Komponisten und musik­affinen Autoren anderer Disziplinen für die Programmbücher der seitdem von Harry Vogt geleiteten Wittener Tage geschrieben wurden. Fünf Texte stammen aus Programmheften anderer WDR-Veranstaltungen, sechs Beiträge sind Erstveröffentlichungen. Mit jeweils anderer Perspektive stimmen alle Essays ein in die polyphone „Liebeserklärung an eine lebendige Gattung“.

Frank Hilberg, Harry Vogt (Herausgeber), Kammermusik der Gegenwart. Essays,
Hofheim: Wolke, 2018.