MusikTexte 158 – August 2018, 47–48

Vom Diesseits ins Jenseits

von Max Nyffeler

„Einige meiner eigenen Stücke aus den später 70er Jahren wie etwa ‚Pan‘ für Flöte und Begleitung, ‚B-Dur-Quintett’ und ‚Schubert-Phantasie‘ gehen vielleicht auch ein wenig in die postmoderne Richtung, die immerhin an der Zeit war“, sagte Dieter Schnebel 1985 in einem Berliner Vortrag. „Freunde aus der einstigen Avantgarde schalten mich darob reaktionär.“1

Auch ich gehörte damals zu denjenigen, die mit diesem unerwarteten Schritt ihre liebe Mühe hatten. Würde aus dem Komponisten radikal zuende gedachter Konzepte und experimenteller Vokalmusik nun ein Freund schöner Melodien und dreiklangsseliger „Re-visionen“, wie er seine Nachkomposi­tionen romantischer Werke nannte? Der Zeitgeist war ja danach. Wie sollte man sich als idealistischer Avantgardist zu einem neotonalen, formal so simplen Flötensolo­stück wie „Pan“ verhalten, dessen Abschnitte betitelt waren mit „Erwachen – Sehnsucht und Lockung – Drängen – Jagen – Schrecken – Erfüllung (Ekstase) – Erschlaffung – Träume – Einschlafen“?

Doch nach einiger Zeit begriffen wir, dass das nicht der befürchtete Bruch war, der sein Schaffen in einen fortschrittlichen „Schnebel I“ und einen reaktionären „Schne­bel II“ teilen würde. Seine Radikalität verleugnete er auch künftig nicht, sie nahm nur eine andere Gestalt an. Und schon früher gab es ja diese übersichtlichen Formen: „Glossolalie 61“, die Chor- und Orgelstücke des Zyklus „Für Stimmen (... missa est)“ oder die „Maulwerke“ waren zwar vom Material her auf schockierende Art neu, doch spielten sich die gärenden Prozesse stets im Rahmen einer fast klassizistischen Großform ab. Eine tiefgreifende Veränderung hatte sich in seiner Musik aber doch vollzogen, wahrscheinlich als Folge der Psychoanalyse, der er sich in mehreren Etappen unterzogen hatte. Das zuvor scharf konturierte Klangbild mit seinem widerborstigen Äußeren und der oft brosamenhaften Konsistenz wandelte sich nun zu einer Musik von unverkennbar sinnlicher Anmutung und Flexibilität des Klangs. Der Ausdruckskrampf hatte sich gelöst, die Avantgarde-Tabus waren gefallen. Ein dialektischer Traditionsbezug bestimmte nun auf vielfältige Weise sein Schaffen.

Die tiefenpsychologischen Erfahrungen durchlebte Dieter nicht nur als Person und in der künstlerischen Praxis, sondern er beobachtete ihre Auswirkungen auf das Komponieren auch sehr bewusst, gleichsam als Zuschauer seiner selbst. Die Reflexion erfolgte nicht zuletzt in seinen zahlreichen Aufsätzen zu historischer und gegenwärtiger Musik. Als ich ihm 1983 meine Eindrücke nach der Lektüre seines großen Schumann-Aufsatzes2 mitteilte, schrieb er zurück: „Deine positive Reaktion über meine Schumann-Arbeit tat mir wohl. Mir selbst ist der Aufsatz auch sehr wichtig, und ich glaube, er ist auch in vielem durchaus neu, insofern nämlich die Psychoanalytiker, wenn sie schon über Komponisten schreiben, sich immer ans Wort hängen (die Sprache der Töne verstehen sie offenbar nicht sehr gut).“

1978, als er das lasziv anmutende Flötenstück „Pan“ komponierte, ein Paradebeispiel seiner „psychoanalytischen Musik“, wurde in Köln seine Komposition „Orchestra“ uraufgeführt – nicht wie üblich im großen Funkhaussaal, sondern in der Kunsthalle, weil es eine offene Raumsituation erforderte. Sie bildete die Fortsetzung seiner „avantgardistischen“ Linie und konfrontierte die Orchestermitglieder zugleich mit sich selbst, denn konzipiert war sie als „Lernprozess für Musiker in Richtung innere und äußere Beweglichkeit“. Das brachte Dieter gleich von zwei Seiten unter Beschuss. Wer vom damals in der E-Musik verbreiteten Virus der „politischen Musik“ infiziert war, fand diesen Versuch zu formalistisch und unpolitisch, und auf der anderen Seite brachte das Stück die Musiker des WDR-Orchesters auf die Palme. Unmusik! Zumutung! Beleidigung der Musiker! So schallte es ihm entgegen. Die Vorwürfe müssen ihn schwer getroffen haben. Er war damals öfters bei uns in der Kölner Bismarckstraße zu Gast. In einem Schnebel-Ordner finde ich heute ein verblichenes Papier im A4-Format mit skizzenhaften Bleistiftnotizen von ihm, offenbar der Entwurf einer Entgegnung an die aufgebrachten Orchestermusiker: „Ich war freundlich zu Ihnen und geduldig Aber einiges geht jetzt zu weit Es ist Ihr Recht meine Musik nicht schön zu finden es von ihrem Gefühl/Standpunkt nicht als Musik anzusehen ... [unleserlich] ... zu sagen, dass es Ihnen keinen Spaß macht ... [unleserlich] ... Kollision mit ihrem sonstigen Beruf ... Es ist nicht Ihr Recht meine Musik zu disqualifizieren sie als [unleserlich] oder als Unfug zu deklarieren weil es nicht Ihren Vorstellungen entspricht ... Wir haben beide ein Recht auf eine Würde als Musiker ...“3

Ob dieser Brief ausformuliert und abgeschickt wurde, weiß ich nicht. Alles scheint sich hier aufzubäumen in dem äußerlich stets so ausgeglichen wirkenden Komponisten, dessen behäbiger, alemannisch eingefärbter Tonfall immer ein bisschen an die wohltemperierte Rede des über den Dingen stehenden protestantischen Pastors erinnerte, und der in lutherischer Tradition gerne das altertümlich-knorrige „ward“ dem heutigen, banal klingenden „wurde“ vorzog. Apropos Religion: Auf einem Spaziergang in Boswil, wo er damals in der Jury des Komponistensseminars mitwirkte, sagte er einmal: „Weißt du, eigentlich finde ich den Katholizismus mit seinen Ritualen viel spannender als den trockenen Protestantismus.“ Vorurteile hatte er keine, und er war ein unglaublich guter Zuhörer. Man konnte mit ihm über alles reden, über Musik, Politik, Religion, Probleme mit Frauen und sonstige Lebensfragen, und er erzählte auch freimütig Dinge aus seinem eigenen Leben. Zum Beispiel, wie er seine Iris kennengelernt hatte: beim Kiffen auf der Treppe des Goethe-Instituts in Rom.

Unser Kennenlernen fiel die späten Sechzigerjahre, als wir in Zürich die Studentenzeitschrift „Dissonanz“ herausgaben, in der wir den ersten Teil seines Aufsatzes „Sprech- und Gesangsschule. Neue Vokalpraktiken“ und weitere Texte von ihm veröffentlichten.4 Die Verbindung kam über Heinz-Klaus Metzger zustande, der sich damals mehrere Monate lang in Zürich aufhielt – seinen Autorennamen unter den Texten versah er immer mit dem Zusatz „ohne festen Wohnsitz“ – und einige von uns für das Ensemble Musica Negativa rekrutierte, das er damals zusammen mit Rainer Riehn auf die Beine stellte. In einem Konzert des Ensembles brachte ich 1970 das „Concert sans orchestre“ für einen Instrumentalisten und Publikum zur Uraufführung, kurz darauf spielten meine Kollegen die „Glossolalie 61“, und 1971 arbeitete ich in Köln zusammen mit Peter Michael Hamel, den ich bei den von Mauricio Kagel geleiteten Kursen für neue Mu­sik kennengelernt hatte, eine Version der „visible music“ für einen Dirigenten und einen Instrumentalisten aus. Es machte uns einen Riesenspaß, die Herr-Knecht-Dialektik dieses interaktiven Stücks plastisch herauszuarbeiten, und wir taten es im sicheren Bewusstsein, dass es Dieter, wenn er nur zugegen wäre, unbedingt gefallen würde.

Als Registrant/Assistent (zusammen mit Ernstalbrecht Stiebler) bei seinen „Choralvorspielen“ für Orgel mit Gerd Zacher, bei der Bedienung des Diaprojektors in „Ki-No“ und als einer der drei Klangregisseure bei der Aufführung der „Maulwerke“ konnte ich dann mit Dieter auch unmittelbar zusammenarbeiten und lernte dabei die ruhige und überlegte Art, wie er seine Vorstellungen in den Proben kommunizierte, in der Praxis kennen. Alle Wichtigtuerei nach dem Motto „Ich bin das Künstlergenie und verlange absoluten Gehorsam“ war ihm fremd, und umso bereitwilliger folgte man seinen Anweisungen.

Dieter wurde in Lahr im Schwarzwald geboren. Er war ein Alemanne, und etwas von seiner erdverwurzelten regionalen Herkunft haftete seiner Person und seinem Werk immer an, auch in der radikalen Phase, als seine Musik, um einen bezeichnenden Buchtitel von Ulrich Dibelius aus jener Zeit zu zitieren, „auf der Flucht vor sich selbst“ war. Der alemannische Dialekt schuf eine Art untergründige Verwandtschaft zwischen ihm und mir, und ich hätte mich mit ihm in der Schweizer Mundart unterhalten können. Mit zweiundfünfzig Jahren kam er an den Punkt, an dem er das Bedürfnis hatte, seine Herkunft künstlerisch zu thematisieren, und nun komponierte er die szenische Kantate „Jowaegerli“ über Texte von Johann Peter Hebel. Sein waches Interesse für Hebel, den bedeutenden alemannischen Mundartdichter und Zeitgenossen Beethovens, teilte er mit seinem Freund Heinz-Klaus Metzger. Geistesverwandt fühlte er sich zudem mit Hebel, weil auch dieser ein Theologe und Pädagoge war. Und ein Aufklärer! Vor der Uraufführung 1983 schrieb mir Dieter: „Kommst Du zu den Baden-Badener Tagen 24.–26. 6. ?, die unter dem Thema Schubert-Webern-Schubert stehen und wo mein neues Stück ,JOWAEGERLI, alemannische Worte und Bilder von und nach Johann Peter Hebel mit vokalen und instrumentalen Klängen und mit Schlagwerk‘ uraufgeführt wird (So, 26. 6. 11.00). Du als Alemanne solltest da dabei sein – es ist ein einstündiges Theaterstück.“

Das Werk besteht aus fünfzehn Teilen, durchgängiges Thema ist die Vergänglichkeit. Dieter hat diese „alemannischen Worte und Bilder“ auf seine charakteristische Weise musikalisch dargestellt, in schönbergschem Sprechgesang und zugleich solide geerdet mit Pferdegetrappel, Wasserplätschern und Naturgeräuschen. Es ist dieselbe, nur scheinbar naive Neugier, mit der er zwei Jahrzehnte zuvor in die Gefilde des Konzeptualismus vorgedrungen war, und bei den „Betrachtungen über den Unbestand aller irdischen Dinge“ in „Kannitverstan“ und anderen in das Stück einbezogenen Kurzgeschichten spannt er den Bogen ganz unsentimental vom Diesseits ins Jenseits. Wie es sich für zeitlos aktuelle Kalendergeschichten eben gehört.

1 Dieter Schnebel, „Die Tradition des Fortschritts und der Fortschritt der Tradi­tion“, in: Schnebel 60, herausgegeben von Werner Grünzweig, Gesine Schröder, Martin Supper, Hofheim: Wolke 1990, 19.

2 Dieter Schnebel, „Rückungen – Ver-rückungen. Psycho­analytische Betrachtungen zu Schumanns Leben und Werk“, in: Musik-Konzepte, Sonderband Robert Schumann I, ­München: text + kritik, 1981, 4–89.

3 Dieter Schnebel hat den konfliktreichen Arbeitsprozess
mit dem Orchester später in Form eines Arbeitsberichts
beschrieben und kommentiert: „Erfahrungen mit ,Orchestra‘“, neue musikzeitung, April/Mai 1978, 1–2.

4 Dissonanz 6, Zürich 1970, 20–27. Alle Ausgaben der Zeitschrift sind zu lesen unter http://www.beckmesser.info/die-zeitschrift-dissonanz-das-original/