MusikTexte 158 – August 2018, 73–74

Musik zum Lesen

von Reinhard Oehlschlägel

Als auch ich nach seinem Tod in einem alten Schnebel-Ordner blätterte, fand ich diese Rezension seines „MO-NO“-Buchs von 1969, das zu Dieters 88. Geburtstag in der Edition MusikTexte neu erschienen ist. GG

Es ist nicht die Aufgabe einer Philosophie der Kunst, das Moment des Unverständlichen in den zeitgenössischen Kunstwerken wegzuerklären, also die Werke so zu interpretieren, daß am Schluß die Rechnung aufgeht und daß, wenn man den Kunstwerken mit Befremden gegenübertritt, dieses Befremden verschwindet. Denn dieses Befremden selbst macht einen guten Teil des Gehalts ebendieser Kunstwerke. (Adorno, Vorlesungen zur Ästhetik)

Anders als die Schallplatten- vermag die Buchproduktion auf Veränderungen von Publikumsinteressen, auf Trends flexibler zu reagieren: dank einer größeren Vielfalt der Verlage und dank dem geringeren Risiko bei kleineren Auflagen. Insofern nehmen bestimmte Veröffentlichungen den Charakter von allgemeineren Tests an. Allgemeineres Interesse im musikalischen Bereich beanspruchen dabei vor allem Publikationen, die neuere Entwicklungen der Musik dokumentieren oder sich mit ihnen auseinandersetzen. Das gilt von den in letzter Zeit erschienenen vor allem für eins der ungewöhnlichsten Musikbücher.

MO-NO“: das ist der Titel des Buchs. Der Autor heißt Dieter Schnebel. „MO-NO“: das liest sich wie eine Abkürzung. Schnebel ist ein Musiker. Deutet „MO-NO“ darum auf Monodie oder auf Monotonie? Das Buch klärt das nicht ausdrücklich. Ebensogut ließe sich sein Titel auf ein monologisiertes Nō-Theater beziehen. Ebensogut auf einen negativen Monolog.

Musik zum Lesen: Das ist der Untertitel des Buchs. Er scheint die Eröffnung einer Gattung zu verkünden. Der Musikwissenschaftler Friedrich Blume fragte 1958: „Was ist Musik?“ Besser passten zu seinen Antworten die Fragen „Was ist doch Musik, und was ist schon nicht mehr Musik?“. Zur Abgrenzung bemühte Blume die Natur und das Wesen der Musik. Für ihn waren das Invarianten. Geschichtliche und soziale Varianz des musikalischen Materials bemühte er nicht. Nicht nur die Komponisten der neuen Musik haben auf Blumes Begriffsmanöver heftig reagiert. Seitdem sind diese für die aktuelle Diskussion uninteressant geworden – wie entsprechende Fragen an die visuelle Kunst, an die experimentelle Literatur, an den unkommerziellen Film. Wenn sie auch von einigen unermüdlichen Wesenspuristen von Zeit zu Zeit wieder hervorgeholt werden. Doch ist auch Musik zum Lesen Musik.

Das Buch hat in der angelsächsischen Literatur einige Vorläufer. Dazu gehört John Cages „Notations“, ein kunstvoll aus Notenfaksimiles und Gedanken über Notation komponierter Band. Dazu gehören auch die nach musikalischen Verfahren angeordneten Essaybände „Silence“ und „A Year from Monday“ von John Cage sowie einige Bücher der Fluxus-Literaten um Dick Higgins. Doch geht „MO-NO“ in entscheidenden Punkten über Vorläufer hin­aus. Während die Bücher von Cage neben der graphisch komponierten eine informativ-semantische Schicht enthalten, die leicht schon im Lesevorgang von der musikalischen abgehoben werden kann, ist Schnebels Buch allein musikalisch organisiert. Noten und musikalische Vortragszeichen, verbale Beschreibungen und Graphisches dienen fast ausschließlich der Imagination von Klängen und Klangverläufen.

Freilich ist auch Schnebels „MO-NO“ noch nicht der reinste Typ einer Musik in Buchform. Entstanden ist diese „Lesemusik“ aus der Leinwandmusik „Ki-No“, bei der über Durchzieh- und Diaprojektoren zugleich mit gesprochenem Wort und begleitenden Schlagzeugklängen musikalische Anweisungen und Zeichen in mehreren Schichten auf eine Leinwand projiziert werden. „MO-NO“ ist eine Übersetzung von „Ki-No“ in Buchform. „MO-NO“ bietet zwei Versionen der vieldeutigen „Ki-No“-Musik. Darum endet es auch mit „Ende“. Die Diapositiv-Verläufe sind auf den Seiten des Buchs neben- und übereinander abgebildet. Sprechtext und die Verläufe, die ursprünglich für den Durchziehprojektor gedacht waren, sind auf gelben Karten zum Nebenbei-Mitlesen beigefügt. Das Buch bietet je eine Version beim Lesen von vorn und von hinten. Auf einigen mittleren Seiten durchdringen sich die beiden Versionen. Die zweite Fassung bringt dazu (in der Übersetzung von Margarete Rühle) alle Wortbestandteile in englischer Sprache.

Auch ästhetisch, nicht nur formal, ist Schnebels „MO-NO“ Cage verpflichtet. Ein beigefügtes gelbes Blatt enthält vier Cage­-Zitate, die programmatisch die Komposi­tionsprinzipien charakterisieren. Verzicht auf die Kategorie des Zusammenhangs. Addierbarkeit zusammenhanglos konzipierter Musik mit Alltagsgeräuschen („Zusammenhang des Zusammenhanglosen“). Leere, Schweigen zwischen den Klangereignissen als Mittel zur Auflösung des Zusammenhangs und zur Individualisierung der Töne und Klänge. Und absolute Stille („nichts mehr“) am Paradigma eines schalltoten Raums als Medium zur Wahrnehmung der Akustik der menschlichen Körperlichkeit, des Atems, der Herzschläge, des Nervensystems: „Und nun hören Sie sich selbst.“

Insofern hat Schnebels Buch wie Cages Musik auch eine ontologische Dimension: das reine Sein der Töne soll zu Gehör gebracht, das Sosein der alltäglichen Umwelt als Musik oder doch als Material für Musik wahrnehmbar gemacht werden. So sind über die ersten Seiten folgende Aufforderungen in verschiedenen Schriftarten und Schriftgrößen verteilt: „Bitte seien Sie nun ruhig! ganz ruhig/regungslos/den Atem anhaltend/konzentriert/ und /lauschen Sie!/da/da/wie diese Stille klingt/was da lebt, atmet, sich bewegt, / knistert, knarrt, summt, schwirrt, / rauscht, hallt, verhallt,/vibriert,schwingt/– tönt ...“ Später werden Wind, rollender Verkehr und Hundegebell zitiert.

Es ließe sich einwenden, dass durch die Aufforderung oder Einladung, die Umweltgeräusche als Musik zu erleben, der Hörer, das Individuum zu einer unkritischen Versöhnung mit seiner Umwelt aufgefordert wird. Doch würde dieser Einwand auf dem traditionellen Missverständnis der Funktion von Musik beruhen, das Leben zu verschönern, angenehmer erscheinen zu lassen. „So äußert sich in den alltäglichen Klängen insgesamt der Weltzustand“, notiert Sehnebel in den beigefügten „Assozia­tionen“. Und nirgends steht, dass man ihnen ergriffen lauschen soll.

Schnebels „MO-NO“ bezieht auch schreiendes Unrecht und Elend in Form eines Auschwitz-Bilds und eines Vietnam-Bilds ein, nicht um mit Unrecht und Elend zu versöhnen, sondern um es in der Hörvorstellung des Lesers zum Schreien zu bringen. Inwieweit das gelingt, ist so wenig vorauszusehen wie die angemessene Rezeption einer Beethoven-Sonate oder einer Brahms-Sinfonie. Freilich ist das Bild einer kreuzförmigen Leiche eines ausgemergelten Auschwitz-Häftlings in einen musikalischen Zusammenhang gerückt. In der Serie der stark verkleinerten Bildchen der englischen Fassung gerät sie zu einem graphisch notierten Klang. So möchte Schnebel ein altes Problem geistlicher Komposition lösen: die Darstellung der Kreuzigung im Notenbild.

Auch sonst steckt das Buch voller Reminiszenzen, Zitate, Verweise und Anknüpfungen, von Benns „nevermore“ bis zu Stockhausens „Klavierstück VIII“, von Cordiers herzförmig notiertem Rondeau „Belle, bonne“ aus dem fünfzehnten Jahrhundert bis zu dem Zusammenhang zwischen Pollocks „action painting“ und der graphischen Notation. Makroorgel und Futurophone verweisen auf die monströsen Instrumente der Futuristen. Zugleich an Mahler und an utopische Fluxus-Visionen erinnert die „Sinfonie der 999“.

Vollends ins Gebiet der Art Fiction gehören Anweisungen wie „583,47 Flöten“ und „Wie in einem Aquarium“. Auch vermeidet Schnebel in seinen Höranregungen keineswegs Klischees und Trivialitäten. Comic-artig heißt es „Stahl dringt lautlos ins Fleisch“. An anderer Stelle soll „Musik Ihres Lebens“ imaginiert werden. Auf einem Blatt kontrapunktieren Revolution, Luftangriffe und Rummel in Form dieser drei Wörter miteinander, so, als ob es dabei um Crashs, Bangs oder Zocks ginge.

Die Fülle von Beziehungen, Verweisen und Anspielungen macht das Buch mehr noch als eine komplexe klingende Musik vom Grad der Einweihung und musikalischen Bildung des Aufnehmenden abhängig. Dabei sind die Buchseiten nicht einmal besonders vollgestopft davon. Im Gegenteil. Tendenziell, so lässt sich Schnebels experimenteller Ansatz auch verstehen, gehört das Buch zu jener Ästhetik, nach der es bis zu einem gewissen Grad jedem Rezipienten möglich ist, mit seinen eigenen Erfahrungen ein ähnliches Buch zu entwerfen. Aber so offen und bar aller Maßstab setzenden Qualitäten ist es nun auch wieder nicht, dass es nicht andere Versuche mit dem Schatten des Epigonentums verdunkeln würde. Einstweilen ist auch noch kaum vorstellbar, wie die Gattung sich weiterentwickeln könnte. Darum wird das ungewöhnliche Buch wohl mindestens für einige Zeit singulär bleiben.