MusikTexte 158 – August 2018, 3–4

Was gesagt werden muss: kein Nobelpreis!

von Bernd Künzig

In diesem Jahr wird es keinen Nobelpreis für Literatur geben. Wegen sexueller Übergriffigkeit und Vertuschung hat sich das jurierende Gremium aufgelöst. Diese Nachricht hat die Kulturwelt erschüttert und schockiert. Und das gleich nach dem Echo-Skandal: Wegen dummer, rassistischer, sexistischer Rapper gibt es jetzt auch keinen Echo-Klassik mehr. Diese herzzerreißenden Nachrichten kamen vielleicht etwas spät für eine mögliche Alternative. Doch es besteht kein Grund zur Verzweiflung. Denn der „Nobelpreis für Musik“, wie er gerne genannt wird, der Ernst von Siemens Musikpreis, konnte kurz nach diesen erschütternden Skandalen am 3. Mai in diesem Jahr ebenso vergeben werden, wie er wohl auch im kommenden Jahr und in den nächsten zehn, hundert Jahren vergeben werden kann. Denn das Kuratorium der Ernst von Siemens Musikstiftung ist nicht dafür bekannt, sexuell übergriffig zu sein oder irgendetwas zu vertuschen.

Es ist gut, wenn Preise vergeben werden und schön, wenn sich Konzerne und Global Player kulturfördernd engagieren. Alfred Nobel hatte bekanntlich wegen der Produktion von mörderischem Dynamit ein schlechtes Gewissen und stiftete seine Millionen. Und Siemens baut die ICEs, die wegen technischer Betriebsstörungen der Deutschen Bahn AG oft ein schlechtes Image verschaffen. Doch halt: Die Ernst von Siemens Musikstiftung ist eine vom gleichnamigen Unternehmen vollkommen unabhängige Kulturinstitution. Darauf legt man großen Wert. Deshalb hat man seinen Sitz auch in der basisdemokratischen Schweiz. Dort wirft das angelegte Kapital kräftig Zinsen ab, die letztlich den von der Stiftung Geförderten zugute kommen. Deshalb wird Mathias Spahlinger diesen Preis nie bekommen: Noch immer behauptet er, beim Grundkapital der Ernst von Siemens Musikstiftung handle es sich um kulturell bereinigtes Nazigold sowie dem Staat und damit uns allen vorenthaltene Steuerzahlungen. Solch linksgerichtete Unbelehrbarkeit muss sicher nicht prämiert werden.

Die Literaturkritikerin Iris Radisch hat es im Fernsehen bedauert, in diesem Jahr keine Einladung des schwedischen Königs nach Stockholm erhalten zu haben und deswegen nicht dazu gezwungen zu sein, einen Frack zur Preisvergabe ausleihen zu müssen. Aber München ist auch eine schöne Stadt. Im Herkulessaal der Residenz oder im Prinzregententheater findet die feierliche Verleihung des Nobelpreises der Musik statt. Gut, Letzteres heißt nur so und die Wittelsbacher hat man schon lang vom Thron gejagt, aber feierlich geht es trotzdem zu. Frackzwang besteht keiner.

Ein Wermutstropfen allerdings bleibt bestehen: Nach Anne-Sophie Mutter im Jahr 2008 ließ sich keine weib­liche Hauptpreisträgerin finden. Natürlich auch nicht davor. Das Gremium bedauert dies mit aufrichtig vergossenen Krokodilstränen Jahr für Jahr. Noch 2017 freute sich der festredende Vorsitzende des Stiftungsrats, Michael Krüger, dass die Förderpreisträgerin Lisa Streich nicht als Stefan Streich auf die Welt gekommen sei. Großes freudiges Hallo der anwesenden Gäste! Und man kann das Dilemma der Ernst von Siemens Musikstiftung verstehen: Galina Ustwolskaja ist ihnen 2006 unter den langwierigen und langjährigen Vergabeprozessen weggestorben, und Sofia Gubaidulina ist fast nicht vertretbar wegen der angespannten Lage zu Russland. Wenigstens hatte man in diesem Jahr einen Preisträger gefunden, der knapp an einem weiblichen Vornamen vorbeigeschrammt war: Beat Furrer. Ein verdienstvoller Mann, Komponist, Dirigent, Gründer des Klangforum Wien. Und ehemaliges Mitglied des Kuratoriums der Ernst von Siemens Musikstiftung. Das waren ja auch schon Helmut Lachenmann und Wolfgang Rihm, die 1997 und 2003 den Nobelpreis der Musik erhielten. Noblesse oblige: Wolfgang Rihm soll als Mitglied des Gremiums im Vergabejahr sogar ausgesetzt haben. Man kennt sich, man schätzt sich, man preist sich.

Der Preisträger Beat Furrer wurde unter anderem für seine spezifische Kompositionstechnik ausgezeichnet, mit der er den Instrumentalklängen menschliche Sprache einhaucht. Erstaunlich nur, dass dies der um einige Jahre ältere Salvatore Sciarrino bereits vor Furrer praktiziert und überhaupt erfunden hat. Aber der hat den Ernst von Siemens Musikpreis noch nicht erhalten. Aber was nicht ist ...

Apropos Alter: Die Ernst von Siemens Musikstiftung müsste sich jetzt schon etwas beeilen, wenn sie an verdiente Komponisten wie Vinko Globokar oder Hans Zender den mit 250.000 Euro dotierten Hauptpreis noch vergeben wollte. Für den zu Pfingsten verstorbenen Dieter Schnebel ist es nun leider zu spät geworden. Allein: Was sollten die hochbetagten Komponisten mit all dem Geld jetzt noch anfangen?

Wenigstens Per Nørgård hat den Preis 2016 im biblischen Alter von vierundachtzig Jahren noch bekommen. Zu Recht. Genutzt hat es aber wenig. Denn nach wie vor werden seine Werke hierzulande kaum gespielt. Und das, obwohl mindestens drei Veranstalter und Intendanten im preisvergebenden Kuratorium sitzen: nämlich Winrich Hopp, Leiter des Berliner Musikfests und der Münchner musica viva, Ilona Schmiel, Intendantin der Tonhalle Zürich, und Andrea Zietschmann, Intendantin der Berliner Philharmoniker. Der enge Kontakt der veranstaltenden Persönlichkeiten zu den Künstlerinnen und Künstlern und zur Ernst von Siemens Musikstiftung lohnt sich schon: 2017 erhielt der großartige Pierre-Laurent ­Aimard den Hauptpreis. Er ist nicht nur ein hervorragender Interpret der neuen Musik, sondern auch so etwas wie ein Hauspianist bei der vom Kuratoriumsmitglied Winrich Hopp verantworteten musica viva. Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Ein anderer Preisträger wie der 2013 gekürte Mariss Jansons, Chefdirigent des Sinfonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, dem musica-viva-Hausorchester, wurde dazu gebracht, endlich einmal neue Musik zu dirigieren. Einmal reicht aber auch. Nämlich die „Requiem-Strophen“ des Kuratoriumsmitglieds Wolfgang Rihm im Rahmen eines der von der Ernst von Siemens Musikstiftung initiierten und bezahlten Räsonanzkonzerte. Diese finden regel­mäßig in München als Seitenkonzerte der musica viva und beim Lucerne Festival statt – die Schweiz ist, wie schon erwähnt, Hausadresse der Stiftung. Und irgendwie scheint sich außer der musica viva kein anderer deutscher Veranstalter als Partner der Räsonanz gefunden zu haben. Wir wissen aber auch nicht, ob welche gefragt wurden. Allein der Name dieser nobelpreiswürdigen Einrichtung ist preisverdächtig: Der könnte von Wolfgang Rihm stammen, der solche Sprachspiele ja liebt. Räsonanz: der Klang von Vernunft und aufgeklärter Schönheit.

Apropos Veranstalter: Die im Kuratorium vertretenen anderswo Organisierenden unterhalten auch sonst gute fördernde Beziehungen zum komponierenden Nachwuchs, den sie auszeichnen. 2013 wurden die Komponisten Samy Moussa und Marko Nikodijevic mit den Förderpreisen der Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichnet. Ein Jahr später wurden ihre Musiktheaterwerke im Rahmen der vom Kuratoriumsmitglied Peter Ruzicka damals noch geleiteten Münchner Biennale für neues Musiktheater uraufgeführt. Da hat die Preisvergabe zu richtigen Entdeckungen geführt, wenngleich man annehmen kann, dass ein Komponist seinen Opernauftrag nicht erst zwei Monate vor Fertigstellung derselben erhält.

Apropos Förderpreise: Die Ernst von Siemens Musikstiftung investiert seit einigen Jahren ihr Geld auch in die Produktion von CDs mit Stücken der Förderpreisträger. Das ist verdienstvoll. Noch verdienstvoller ist es natürlich, dass einige der Geförderten wie Lisa Streich, Simon Steen-Andersen, Marko Nikodijevic, Clara Iannotta und Mark Barden auch zusätzliche CD-Porträts in der Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats erhalten. Denn Qualität setzt sich durch und ist ja so schwer zu finden. Das wissen auch die Kuratoriumsmitglieder der Siemens-Musikstiftung Wolfgang Rihm, Ulrich Mosch und Isabel Mundry, die ebenfalls im Beirat und Vorsitz der Edition Zeitgenössische Musik sitzen. Und dass deren Beiratsmitglied Dagmar Sikorski die Verlegerin von Kuratoriumsmitglied Peter Ruzicka ist, tut jetzt nichts weiter zur Sache. Außerdem sind da ja noch andere Veranstaltende mit von der Partie, die gar nichts mit der Ernst von Siemens Musikstiftung zu tun haben oder zu tun haben könnten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Es ist übrigens auch gut, dass die ehemaligen und aktiven Kuratoriumsmitglieder Professor Rihm, Professor Mundry, Professor Furrer und Professor Lachenmann auch Kompositionsunterricht erteilen beziehungsweise erteilten. Da lernt man den prämierten Nachwuchs viel gezielter kennen und kann ihn auch besser einschätzen als ein Außenstehender. Übrigens: Bewerben kann man sich weder um den Hauptpreis noch um die Förderpreise. Das ist natürlich auch beim Nobelpreis so. Und der Papst wird schließlich auch durch Winke von oben berufen.

Also nein: Sexuell übergriffig ist das Kuratorium der Ernst von Siemens Musikstiftung wirklich nicht. Da wurde noch nie jemand begrapscht. Und auch die Photo- und Videosessions der Preisträger sollen allem Vernehmen nach züchtig vonstatten gegangen sein. Intransparenz lässt sich dem Gremium genauso wenig vorwerfen: Alles liegt ja offen zutage. Als die Mitglieder der Literaturnobelpreis-Jury bekannt wurden, fragte man sich schon: Wer bitte? Das ist bei den Mitgliedern des Kuratoriums der Ernst von Siemens Musikstiftung natürlich ganz anders. Die kennt man alle. Außerdem ist gegen Netzwerke ja nichts einzuwenden. Und das Treffen der Netzwerker jedes Jahr im herrlichen Münchner Frühling ist immer so schön feierlich und hat die Länge einer ganzen Wagner­oper. Das Prinzregententheater hat ja das Bayreuther Festspielhaus zum Vorbild. Und die Preisverleihung ist auch sehr diskret. Richard Wagner musste sich seine Münchner Fördergelder noch in barer Münze und Säcken bei der Königlichen Hofkasse abholen und in der Kutsche nach Hause transportieren, zum Spott der Münchner Bürger. Der Urkunde der Ernst von Siemens Musikstiftung liegt noch nicht einmal ein Scheck bei. Der Nobelpreis für Literatur wird überschätzt! Es lebe der Nobelpreis der Musik!