MusikTexte 158 – August 2018, 94

Beckmesser’s Choice

Ausgewählte Compact Discs neuer Musik

von Max Nyffeler

Die Auswahl erfolgt diesmal primär nach Geschlechtszugehörigkeit – nur Frauen – und erst dann nach musikalischen Kriterien. Einseitigkeit mal anders, und zum Beweis des Musters gibt es auch einen Alibikomponisten. Beckmesser wird damit aber nun nicht zum Feministen vom Dienst. Das nächste Mal ist alles wieder gut gemischt.

Japanisches Feeling

Die Japanerin Keiko Harada hat Kontakte von den USA über Europa bis Australien, lebt und unterrichtet aber in Tokio. Sie gehört zur neuen japanischen Komponistengeneration, die ihre eigenen Traditionen nicht ignoriert. Ihre CD beginnt mit dem charakteristischen Blasgeräusch der Shakuhachi, hier kunstvoll nachgeahmt auf der Flöte von Carin Levine. Auch die Koto kommt zum Einsatz. Japanisch an ihren sechs Duos erscheint vor allem die Sorgfalt, die Harada der Zeitgestaltung und der Tongebung widmet, von harten Attacken bis zu beweglich gehaltenen Tonhöhen. Es ist eine beredte Musik von großer physischer Konkretheit. Der Begleittext von Stefan Drees beschreibt ausführlich die strukturellen Eigenschaften, sagt aber nichts über die Werktitel, die für ein inhaltliches Verständnis von Bedeutung wären. Einen Hinweis gibt nur das Zitat Haradas, sie wolle „die wunderbaren Möglichkeiten des Menschen“ erkunden, „Geist, Körper und Verstand in ihrer Synergie“. Aber das ist zu allgemein. (CD Wergo, 2017)

Im Falschen das Richtige

Ausgehend vom Bild flüchtiger Wolkengebilde schichtet Violeta Dinescu in ihren sieben „Études de nuages“ sukzessive Vio­linstimmen vom Duo bis zur sechzehnstimmigen Polyphonie übereinander. Marie-Claudine Papadopoulos hat das mit feuriger Intensität im Playback-Verfahren eingespielt. Die Vielfalt der Figurationen, in denen die rumänische Geigentradition nachhallt, weitet sich zu einem Fest sinnlich aufblühenden Klangs und suggeriert schon in Stereo einen faszinierenden Raumklang. Auf einer zweiten CD betreibt die Komponistin eine solche Expansion im elfteiligen Klavierzy­klus „Flügel und Trümmer“. Auch hier öffnet sich wieder ein Klangraum, mal kontemplativ, mal dramatisch, den man entspannt durchwandert. Das Spiel auf einem alten, herzzerreißend verstimmten Klavier (Sorin Petrescu) erzeugt eine Atmosphäre von irisierender Farbigkeit – im Falschen öffnet sich eine Tür zu einer phantastischen Wirklichkeit. (Zwei CDs, charisma/gutingi, 2018)

Numinos

Die Musik von Lisa Streich entführt den Hörer in einen Raum, bei dessen Betreten man im Geiste seine Schuhe ausziehen möchte. Es ist ein im weitesten Sinn sakraler Raum, aber ohne mystischen Weihrauch und Halbdunkel, sondern hell, rein, von nördlich klarem Licht erfüllt. Und von Klängen, denen bei aller haptischen Konkretheit und ausgetüftelten Farbgebung stets ein Rest des rational nicht Fassbaren anhaftet. Die kleinen, mechanisch erzeugten Geräusche im Cello­stück flüstern einem heimliche Botschaften ins Ohr, orchestrale Bruitismen wie Peitschenknall werden geheimnisvoll abschattiert durch entfernte instrumental-vokale Klänge. Momente der Stille laden zum inneren Nachhören ein. Die semantischen Fährten, die Titel wie „Pietà“, „Asche“ oder „Stabat“ legen, werden durch eine spielerische Leichtigkeit wieder verwischt. Das Numinose dieser Musik kommt am klarsten in den beiden Stücken für Chor zum Tragen, was auch an der Kirchenakustik der Aufnahmen liegt. Manchmal entschwindet der Chorklang in entrückte Sphären und kreist dort selbstvergessen um sich. Die an Morton Feldmans Klangtupfer gemahnende Klang­magie des langen vierchörigen „Sta­bat“ dämmert auf Dauer etwas weg in Richtung einer kollektiven Medita­tions­andacht. (CD Wergo, 2018)

Wenn Druiden ins Horn blasen

Mit schwer lastenden Klavierakkorden, zu denen die vier um einen Viertelton verstimmten Streicher schwankende Akkorde aufschichten, beginnt das Streichquintett der US-amerikanischen Komponistin Gloria Coates. Die düstere Grundstimmung hält sich über alle vier Sätze, auch wenn mal langgezogene Glissandi den Raum durchkreuzen oder im Klavierinneren ein Geräuschnebel entfacht wird. Die Satztitel stammen aus Gedichten von Emily Dickinson. Eine unheimliche Schwere lastet auch über der halbstün­digen Sinfonie „Drones of Druids on Celtic Ruins“, komponiert 1989 für Bläser und Schlagzeug. Die archaisierenden Blechbläserchöre klingen wie rituelle Anrufungen aus der Vorzeit, der zweite Satz besteht ausschließlich aus furios wechselnden Trommelwirbeln. Was sich hier „Sinfonie“ nennt, ist eine nicht-diskursive Musik von grandioser Rohheit. Klänge ohne Maß und Form, ein Pendant zu Rihms „Tutuguri“, aber, da von einer Frau geschrieben, exegetisch unerschlossen. (CD Naxos, 2018)

Der Verkleidungskünstler

Dass abstrakt errechnete Klänge auch schreien können, erfährt der Hörer in Klarenz Barlows halbstündiger Ensemblekomposition „Im Januar am Nil“, gespielt vom Ensemble Köln unter Robert HP Platz. Die permutative Struktur bewegt sich auf einen grellen Höhepunkt hin und verharrt doch stets an Ort und Stelle. Ein absolutes Gegenprogramm dazu ist das Klavierkonzert aus den Sechzigerjahren in hemmungslos historisierendem Stil. Barlow war immer ein Verkleidungskünstler, der mit dem Als-ob der Klangerscheinung spielte; das mit „Musica Algorithmica“ betitelte Doppelalbum mit Werken aus fünf Jahrzehnten gibt einen Überblick über die Methoden, die er dabei anwandte. Es sind ausschließlich In­strumentalstücke, doch die kalkulatorische Vernunft, die hinter ihnen steckt, spricht aus jedem Takt. Man erlebt eine Musik von strenger, fremdartiger Schönheit. (Zwei CDs, World Edition, 2018)

Eine ausgedehnte Hochdruckzone

Wie Leuchtraketen am Nachthimmel schießen im Streichquartett mit dem epischen Titel „The Death of the Star-Knower – petrified echoes of an epitaph in a kicked crystal of time I & II“ die Glissandi durch den Raum. Milica Djordjevic´ versteht sich auf wirkungsvolle Klanggesten und ist auch konsequent genug, sie bis zur Erschöpfung auszukosten, um dann abrupt abzubrechen und den Hörer in ein Loch der Stille fallen zu lassen. Die impulsive Serbin geht mit ihren Klängen das Publikum frontal an. Wie ein Wirbelwind fallen sie über einen her oder bohren sich mit schmerzhaften Interferenzen ins Ohr. Die Aufnahmetechnik rückt das alles wie unter einem Vergrößerungsglas ganz nah und unterstützt damit den Eindruck einer Musik, die permanent unter Hochdruck steht. Und weil dieser Hang zu den Ex­tremwerten noch originell und unverbraucht wirkt, stellt sich vorderhand auch kein Überdruss am gestisch-emotionalen Dauerfortissimo ein. (CD Wergo, 2017)