MusikTexte 159 – November 2018, 3–4

Sprachlosigkeit?

Beobachtungen und Gedanken zur Textproduktion von Komponisten

von Florian Neuner

I.

Künstler, die sich auf den Standpunkt stellen, zu ihren Hervorbringungen nichts sagen zu können, weil mit ihnen ja ohnehin alles „gesagt“ sei, sind lächerlich. Lächerlich machen sich aber auch Künstler, die ihre Werke mit halbverdauten modischen Philosophemen – heute Agamben, gestern Derrida, vorgestern Adorno oder Marx – drapieren zu müssen glauben. Erstere unterschreiten den modernen Standard des zur Selbstreflexion fähigen Künstlers, der doch einen Fortschritt gegenüber der Genieästhetik des neunzehnten Jahrhunderts darstellt, für die Rezipienten Gläubige sind und keine kritischen Diskursteilnehmer. Letztere trauen den künstlerischen Medien so wenig zu, dass die Frage sich aufdrängt, warum sie sich dieser überhaupt bedienen – oder sie versuchen, ästhetisch dürftige Produkte gezielt mit Begleittexten aufzuwerten. Mir haben immer die Künstler imponiert, die in der Lage sind, präzise, ohne Theoriejargon und ohne Absicherung durch akademische Autoritäten über ihre Arbeit zu sprechen – Künstler wie Helmut Lachenmann, Peter Kubelka oder Gerhard Rühm. „Einordnen“ mögen diese Positionen später Musik-, Film- oder Literaturwissenschaftler. Dass künstlerische Produktion und ihre kunstwissenschaftliche Aufarbeitung gleichzeitig stattfinden, ist nicht zu erwarten. Auch in einem Periodikum wie den „MusikTexten“ schreiben häufiger Komponisten, Journalisten und Vermittler über zeitgenössische Musik als akademisch bestallte Musikwissenschaftler. Auch über aktuelle Lyrik schreiben in erster Linie Lyriker.

II.

Es kommt nicht überraschend, dass die Haupttendenz der Antworten sich wie folgt zusammenfassen lässt: Ein angemessenes Sprechen über Musik ist zwar nicht möglich, irgendwie aber doch unumgänglich. Nicht wenige flüchten sich in paradoxe Zuspitzungen. „Ja, man braucht es [das Schreiben über Musik]. Und nein, man braucht es nicht.“ Sagt etwa Johannes Boris Borowski. Peter Ablinger stellt seinen Beitrag unter die Überschrift „Musik ist mehr als Sagen“, um sich gleich mit der gegenteiligen Aussage ins Wort zu fallen: „Musik ist weniger als Sagen.“ Es gehe darum, „etwas zu sagen, worüber nichts gesagt wer­­den kann“. Seltener sind unaufgeregte, die Konventio­nen des Musikbetriebs, gemäß derer Kompositionen uns flankiert von Texten dargeboten werden, grundsätzlich affirmierende Standpunkte wie der von Carola Bauckholt: „Texte über Musik sind oft wie Reiseleiter. Sie geben ein gutes Gefühl der Sicherheit in unbekanntem Terrain und eröffnen hochinteressante Zusammenhänge und Hin­ter­gründe.“ Julia Mihály sieht Kompositionen als „Gesprächsangebot“ und kann auch nicht erkennen, warum Gespräche über Hörerlebnisse diese beschädigen sollten. Die Mehrheit der Tonsetzer kann ihren Wunsch jedoch nicht verhehlen, mit Brass/„Schwarzenberg“ – „verirrt in schön-lyrischer poetik“ (Hans-Joachim Hespos) – in der Musik eine stärkere, komplexere oder berührendere Alternative zur Begriffssprache, „das Nicht-mehr-Benenn­bare“ zu finden. Sven-Ingo Koch etwa spricht vom „großartigen Rätselcharakter“, während Bernhard Lang im Sprechen über Musik gar den „Versuch einer Bemäch­ti­gung dieser Unaussprechlichkeit, einer Elimination und Auslöschung dieses Mystischen“ sieht. Auch Bauckholt möchte „Nicht-Rationales“ und „Unbewusstes“ in ihre Stücke fließen sehen. Hans Zender kommt zwar ohne Metaphysik aus, stilisiert Musik/Kunst allerdings zur ­Antithese zur Alltagskommunikation als „auf den Kopf gestellte Sprache“.

III.

Gewiss hat Zender recht: „Es ist allzu leicht gesagt, Musik sei eben unbegrifflich.“ Aber warum ist immer gleich von den ganz großen Gegensätzen und Unvereinbarkeiten die Rede, müssen große Wort wie „Sinnlichkeit“ und „Logos“ (Lang) aufgefahren werden, wenn man Musik und Sprache nebeneinanderhält? Es ist doch auch möglich, unaufgeregt beispielsweise darüber zu sprechen, ob es eine gute Idee ist, zum „Lied von der Erde“ ein Tanztheater zu inszenieren, oder wie überzeugend man die Übertragung irgendwelcher Klänge in Pinselstriche oder Videoarbeiten findet. Grundsatzfragen scheinen damit jedenfalls nicht immer sofort angesprochen. Aber warum ist die Sehnsucht nach dem ganz Anderen so unausrottbar und warum ist die Musik eine so geeignete Projek­tionsfläche für Wünsche, die im Leben und an den Universitäten nicht erfüllbar scheinen? Zwar weist Robin Hoffmann zu Recht darauf hin, dass man die romantische Rede vom „unbekannten Reich“ der Musik keineswegs anti-aufklärerisch verstehen muss. Aber warum fühlen sich Musiker durch die Begriffssprache immer gleich bedroht? So manchem aus der Zender-Generation mögen noch die Verdikte eines Heinz-Klaus Metzger in den Knochen stecken, der die Musikphilosophie als der Musik überlegen betrachtete und seinen komponierenden Zeitgenossen attestierte, man könne eigentlich nur bei Ausfall sämtlicher kritischer Instanzen weiterkomponieren an­gesichts der heutigen Weltlage. Dass unterschiedliche Medien und Zeichensysteme Unterschiedliches können beziehungsweise nicht, sich nicht oder nur schlecht inein­ander „übersetzen“ lassen, ist ja zunächst eine banale Feststellung. Die Prägnanz und schnelle Lesbarkeit eines Pictogramms etwa wird mit einer Komplexitätsreduktion erkauft. Choreographien lassen sich nur sehr schwer aufzeichnen. Und wenn es um feinste Farbnuancen geht, reichen Beschreibungen wahrscheinlich irgendwann nicht mehr hin, und man sollte sie einfach zeigen. Deshalb muss aber noch kein Weltbild ins Wanken geraten. Wenn wir verbal ein wenig abrüsten, können wir ja vielleicht auch produktiv darüber diskutieren, welche Auswirkungen, Vor- und Nachteile das „stumpfe Werkzeug“ Sprache (Martin Schüttler) im öffentlichen Umgang mit Musik hat, und Fragen der Rahmung nüchterner betrachten. Beruhigen mag in diesem Zusammenhang Gordon Kampes Geständnis seines Wittener Programmheft-Fakes, der uns mahnt, hilfreiche, weniger hilfreiche, zutreffende und unzutreffende Text-Rahmen nicht überzubewerten. Der Rezeption von Kampes Stück scheint der Text jedenfalls nicht geschadet zu haben. Dass man begleitende Texte und Informationen freilich auch zum Teil der Konzeption machen und wirksam einsetzen kann, hat Johannes Kreidler gezeigt. „Folgt daraus also, das Sprechen und Schreiben über Musik einzustellen?“ Fragt Martin Schüttler und antwortet: „Auf keinen Fall! Nur muss es im dialektischen Bewusstsein des Unfertigen geschehen.“ Daran, dass das wie auch immer defizitäre Werkzeug Sprache deshalb nicht in Sack und Asche gehen muss, erinnert dankenswerterweise Harald Muenz: „Sprache ist keine armselige ,Substitution‘, sondern ein Paralleluniversum.“

IV.

Der Siegeszug der Konzeptkunst und des Kuratoren­wesens in der im Vergleich zur neuen Musik ungleich öffentlichkeitswirksameren und ökonomisch potenteren bildenden Kunst hat im Musikbetrieb den Wunsch entstehen lassen, an diesem Erfolgsmodell zu partizipieren. Das ist so nachvollziehbar wie der Unmut über manche – auch und nicht zuletzt sprachliche – Blüten, die diese Strategie unübersehbar treibt. Dazu kommt, dass Inten­tionen häufig nur über begleitende Texte artikuliert werden können und über die Anschlussfähigkeit an Diskurse in erster Linie über das Vehikel von „Konzeptlyrik“ entschieden wird. Die Rezeption wird maßgeblich über Titel und die Kurzbeschreibungen etwa in Programmheften gesteuert. Und natürlich ist es für Journalisten einfacher, solche Texte zu para­phrasieren, als sich einen eigenen, weniger abgesicherten Reim auf Gehörtes zu machen. Greifen wir zwei beliebige Beispiele heraus: Der Titel ­eines Ensemblestücks von Hugues Dufourt – „L’Asie d’après Tiepolo“ – öffnet weite kulturhistorische Resonanzräume, wie ein Rezensent vielleicht schreiben würde, während Jo¯ Kondo¯ eine Komposition „Holzwege“ nennt und in seinem Begleittext angibt, Heidegger in japanischer Übersetzung gelesen zu haben, sich aber auch der umgangssprachlichen deutschen Bedeutung bewusst zu sein und daraus eine Metapher für sein Komponieren ableitet. Wo es kein verbindliches Handwerk und keine strapazierbaren Formen mehr gibt, müssen Komponisten sich für ihre Stücke immer wieder aufs Neue Generatoren bauen, aus denen sie Strukturen ableiten und mit denen sie dann horizontale Wegstrecken zurücklegen können. Um nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit ausgesetzt zu sein, empfiehlt sich eine Absicherung wahlweise durch kulturhistorische Verweise, Bezüge zu Nachbarkünsten oder – aufgrund vorauszusetzenden Halbwissens noch schwerer an­greifbar – naturwissenschaftliche Modelle; Musik über Musik ist eine weitere Möglichkeit. Verankern lassen sich diese Rahmungen natürlich am besten durch Texte und Titel, an denen niemand vorbeigehen wird, der das Programmheft in der Hand hat. Was Komponisten von Texten wollen, das ist kurz gesagt: Struktur und/oder Bedeutung. Man kann wie Nikolaus Brass Stücke „L’in­ferno – Landschaft für Orchester“ oder „Twombly Music“ nennen und durch das Ausstellen von Intertextualität Sinn gleichsam leihen, damit aber auch immer ein Stück weit die Willkürlichkeit allen Beginnens (auf dem leeren Blatt Notenpapier) im Zeitalter nach dem Ende der Avantgarden bemänteln. Wenn Komponisten wie Gordon Kampe, der seine Werke mit Titeln wie „wir stecken in einer energieartigen matrix fest“ versieht, diese oft in Bedeutungshuberei ausartenden Strategien erfrischenderweise ironisieren, heißt das freilich nicht, dass die zitierten Trivialmythen aus der Science-fiction-Welt, beim Wort genommen, nicht ebenso viel über formale Intentionen verraten könnten wie die ewigen Verweise auf Hölderlin und die Odyssee. Es scheint, als hätten sich die Komponisten ganz gut arrangiert mit den Konventionen der Text­pro­duk­tion und -rezeption im Musikbetrieb und wüssten diese auch für sich zu nutzen. Auf die Frage der MusikTexte, welche „alternativen Mitteilungsweisen“ es denn „jenseits der Wort­sprache“ gebe, kommt jedenfalls nicht viel.

V.

Die schwarzenbergsche Rede vom „begriffslosen Sagen“ gefällt mir nicht besonders. Mir kommt dabei Lautpoesie in den Sinn, die den Versuch macht, der Sprache die Semantik auszutreiben, um gleichzeitig Gesten der Rede umso deutlicher herauszuarbeiten; Jaap Blonk etwa hat das virtuos durchexerziert. So stecken wir in einer Dichotomie fest, die dem einen Medium etwas zu, dem anderen etwas absprechen zu müssen glaubt – und die Poesie in einem Handstreich der höheren Sphäre zuschlägt, in der die Dichter und Komponisten sich beide am „Unsagbaren“ abarbeiten. Ich würde Theodor W. Adornos Begriff der „Sprachähnlichkeit“ vorziehen, der es uns – gewiss nur mit Blick auf einen begrenzten Abschnitt in der Geschichte der euro­päischen Kunstmusik – erlaubt, die Medien vergleichend zu betrachten, vielleicht auch die „Musikähnlichkeit“ der Sprache, und daraus zu lernen.