MusikTexte 160 – Februar 2019, 92–93

Von Wien nach Köln

Die Autobiographie eines Musikkritikers

von Hans-Klaus Jungheinrich

Vollberufliche Musikkritiker und -redakteure an Tageszeitungen sind eine Spezies im Modus des Aussterbens. Die um den Zweiten Weltkrieg geborene Generation war wohl die letzte, die sich, Glück und einige Begabung vorausgesetzt, auf diese Weise lebenslang eine (bescheidene) Existenz sichern konnte. Gerhard Bauer, Jahrgang 1940, gehört dazu. Er hat seine Lebenserinnerungen geschrieben und berichtet von Erfahrungen, die seine heute sechzig- bis achtzigjährigen Kollegen in Deutschland mehr oder weniger ähnlich machten. Das kompakte Büch­lein (mit dem etwas neckischen Titel „Huch, ein Kritiker!“) ist also lesenswert, auch deshalb, weil es von Arbeitsverhältnissen handelt, die so kaum noch vorhanden sind, ohne dass sie andererseits noch sonderlich nostalgische Gefühle wecken könnten. Gerhard Bauers Ansichten über die Zukunft papierner Zeitungen und insbesondere die ihnen zugesprochene traditionelle Rolle der Musikkritik sind nicht nur skeptisch, sondern tief pessimistisch. Recht wird er haben.

Kritikerinnen und Kritiker sind, fast ein wenig wie Künstler, immer auch ein bisschen besondere Menschen. Das Besondere an Gerhard Bauer offenbart sich gleich im Untertitel des Bändchens: „Leben und Lieben eines Wiener Journalisten in Köln“. Da kommt einer mit neunundzwanzig aus der (gemeinhin so verstandenen) Hochburg der konservativen Musikpflege ins rheinische Mekka der neuen Musik, wo Leuchttürme wie Kagel, Stockhausen und Bernd Alois Zimmermann die Gegend illuminieren, und der WDR den avancierten kompositorischen Internationalismus (der Legende nach ohne Ende) feiert. Bauer, hier vielleicht weniger souverän-unbekümmert flanierender American in Paris als pflichteifriger, seines Fremdarbeiterstatus bewusster Turco in Italia, bringt aber das Kunststück fertig, vom kölntypischen Avantgarde-Musiksegment kaum etwas zu erzählen – nur peripher tauchen die drei hier erwähnten Komponistennamen bei ihm auf, und wichtige, auf Neues geeichte Kölner Rundfunkpersönlichkeiten wie Winfried Brennecke, Harry Vogt, Reinhard Oehlschlägel oder Otto Tomek (letzterer übrigens auch ein „Wiener in Köln“) fehlen ganz. Etwas lebhafter werden die früh kennengelernten Wiener Komponisten Keuschnig und Cerha koloriert. Die merkwürdige Zurückhaltung wird gegen Schluss des Texts erklärlich, wo Bauer einige grundsätzlichere Überlegungen zur „Ästhetik“ der neuen Musik anstellt und diese, zusammen mit der nach 1960 in Mode gekommenen „philologisch“ betreuten Alten Musik, in die Ecke der Ressentiment-Künste stellt. Darüber könnte man endlos disputieren und hadern. Sei’s drum.

Köln-Kolorit kommt bei Bauer dennoch in Fülle vor. Die Stadt offenbart sich ihm als die womöglich größte Provinzstadt Deutschlands. Nicht zu vergleichen mit Berlin und Frankfurt; provinzieller auch als Hamburg oder München. Das macht der Kölner Klüngel. Und der Kölner Stadt-Anzeiger, mit dem Bauer die meisten Jahrzehnte seines Berufslebens verbunden war, steht nicht etwa über dem Klüngel, sondern haust mittendrin. Man glaubt, dass Bauer diesem Phänomen immer fern gegenüberstand. Mit deliziösem Hautgout porträtiert Bauer vor allem den zu seiner Zeit zum bizarren Patriarchen reifenden Verleger Alfred Neven DuMont. Eine für Untergebene äußerst unbequeme Figur, weil er sich gerne in alles einmischte und natürlich auch den Musikkritiker immer wieder mit seinen unbedeutenden, aber maßgeblichen Meinungen, Kommentaren und Anweisungen traktierte. (So ähnlich agier(t)en übrigens auch die Machthaber der FAZ; in wohltuendem Gegensatz dazu das kulturelle Desinteresse der Frankfurter-Rundschau-Chefs, wodurch das in Ruhe gelassene Feuilleton einst zu schöner Blüte gedieh). Die scharfe Provinzluft machte überdies, dass Bauer in mancherlei lästige juristische Auseinandersetzungen verwickelt wurde, die er genüsslich schildert. Bittere Beobachtungen knüpfen sich an die skandalösen Vorgänge um das von der Stadt bis zum Sankt Nimmerleinstag hinausgeschobene Projekt des zu sanierenden oder neu zu bauenden Opernhauses; teilweise auch an die „unterirdische“ Kölner Philharmonie. Bauer gibt sich durchweg als musikalischer Enthusiast zu erkennen; indes erfährt man wenig über seine kompositorischen Favoriten, abgesehen davon, dass er Mozarts „Figaro“ in- und auswendig kennt.

Bauer schrieb, bevor er sich von Horst Koegler nach Köln empfehlen ließ, einige Jahre für die linke Wiener „Arbeiter-Zeitung“. So ist sein aufgeklärter Blick auf kulturpolitische Sachverhalte keine Überraschung. Sein Musikgeschmack ist wohl eher konservativ. Die Autobiographie gibt sich unprätentiös sachlich. Einige eingestreute Arbeitsproben aus der Praxis – durchweg Glossen, die nicht viel mit Musik zu tun haben – zeigen aber auch einen verspielten, dem raunzigen Wienerton niemals ganz entwachsenen Stilisten. Dass sich ein derart doch recht knorriger Mann am Rhein halten konnte, spricht doch auch für Köln und, womöglich, sogar für den Kölner Stadt-Anzeiger. Bauers von Altersweisheit leise vergoldete Memoiren sind im August von Goethe Litera­turverlag (den seine Autoren mit­finan­zieren) in ansprechender Aufmachung er­schienen – auf den Buchdeckeln hinten Wien, vorne Köln, dazwischen ein ganzes schlankgepresstes Presseleben.

Gerhard Bauer, Huch, ein Kritiker! – Leben und Lieben eines Wiener Journalisten in Köln, (Autobiographie), Frankfurt am Main: August von Goethe Literaturverlag, 2018.